Im Mittelpunkt standen die „Artist*innen“: Bewohner zweier Wohneinrichtungen der Diakonie Himmelsthür (Standort Sorsum). Sie wurden unterstützt von Lehramtsstudierenden der Universität Hildesheim, die im Rahmen eines Inklusions-Seminars (Leitung Dr. Gianna Wilm) praktische Erfahrungen sammeln konnten. Die Kommunikation und der Beziehungsaufbau zu Menschen mit sehr schweren geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen ist wenig vertraut, herausfordernd – umso bereichernder empfanden die Studierenden die Erfahrung, wieviel gelingen kann, wie intensiv der Austausch schon nach einer kurzen Zeit der Annäherung und beginnenden Vertrautheit werden kann. Die Studierenden werden ihre Erfahrungen im Seminar reflektieren und einordnen. Ein zweites Seminar zu Pädagogik und Kommunikation (Leitung Prof Dr. Peter Frei) hat den Prozess der Begegnungen und des Austausches zwischen den verschiedenen beteiligten Gruppen (Artist*innen, Studierende, Zirkusteam, Pflegekräfte) teilnehmend beobachtet. Eine solche Situation genau wahrzunehmen, Veränderungen in der Kommunikation und Interaktion in relativ kurzer zeit (innerhalb von weniger als drei Tagen) zu registrieren und zu verstehen, dies alles aufnehmen und beachten zu können, ohne die Möglichkeit der Pause zu haben (wie es etwa bei einer Videoaufnahme der Fall wäre): Das empfanden die Teilnehmenden als ungewöhnliche, aber praktisch und wissenschaftlich relevante Lerngelegenheit.
Das Anliegen des Projektes war es, Inklusion auch in anspruchsvollen Konstellationen konkret erlebbar und vergnüglich zu machen, ohne Hürden und Hindernisse zu beschönigen. Das generelle Anliegen „Inklusion“ ist schwerlich kritisierbar: Auch den Menschen ein hohes Maß an sozialer Teilhabe zu ermöglichen, die in ihren Möglichkeiten begrenzt sind, diese Teilhabe selbst einzufordern oder durchzusetzen, deren persönlich eingeengte Spielräume und Fähigkeiten spezielle Grenzen ziehen oder Hürden errichten, ist ein wichtiges programmatisches Ziel. Es ist verankert als zentraler Gesichtspunkt der unveräußerlichen Menschenwürde, die das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als seine wichtigste Grundlage festgeschrieben hat. Die BRD ratifizierte die UN-Charta, in der dieses Anliegen (und mehrere damit verbundene Ziele wie etwa die Veränderung von Einstellungen, die Verbesserung der Wahrnehmung und Akzeptanz von Verschiedenheit, die Wertschätzung von Diversität) im Jahr 2007 international formulierte und vereinbarte.
Zugleich aber belasten Vorurteile, Ideologien oder Illusionen die Inklusion im Alltag, auch wenn sie heute viel mehr ist als nur ein anzustrebendes Konzept. Viele Diskussionen und mediale Präsentationen nehmen vor allem solche Konstellationen von Förderbedarf und Teilhabeforderung in den Blick, die eher gut überwindliche, oft vorrangig praktische Hürden aufweisen (Beispiel: „promovierte Rollstuhlfahrer*in“). So berechtigt auch hier die Forderung nach uneingeschränkter sozialer Teilhabe ist – der Blick auf praktische Hürden (wie einen barrierefreien Zugang zum Bahnsteig) ist stets in der Gefahr, solche Konstellationen zu übersehen und zu vernachlässigen, in denen die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe unrealistisch, womöglich zynisch klingt. Insbesondere die Gruppe der Menschen mit erheblichen geistigen und mehrfachen Beeinträchtigungen bleiben oft im „toten Winkel des Rückspiegels“ ungesehen, zu wenig beachtet, zu wenig berücksichtigt.
Denn Inklusion, so Prof. Dr. Werner Greve, bedeute auch, Verschiedenheit anzuerkennen, vielleicht sie kreativ zu betonen, jedenfalls sie wahrzunehmen und die mit ihr verbundenen Grenzen nicht zu ignorieren. Dies auf eine heitere, gewinnende Weise zu demonstrieren, in der Unterschiede gezeigt und nicht bestritten werden, und in der zu Gemeinsamkeit eingeladen, und vielfältige, anerkennende Teilhabe ermöglicht wird, war das Anliegen des Projektes „Zirkus inklusiv“.
Angefangen bei einem ersten vorbereitenden Workshop im Herbst 2023 bedachten alle Beteiligten bis zur eigentlichen Aufführung viele Aspekte, gewannen nach und nach Beteiligte, und bezogen dabei jederzeit allein die jeweils folgenden Schritte ein: Hierzu gehörten ein Organisationsteam des Rotary-Club, Dozierende des Sportinstituts, Leitung und Mitarbeitende der Diakonie Himmelsthür – und die Akteur*innen selbst. Die Artist*innen und die studentischen Begleiter*innen haben sich zwei Tage lang kennenlernen und miteinander trainieren können. Die Zirkusveranstaltung wurde von einem professionellen, für solche Projekte spezialisierten Zirkusteam unter Leitung von „Herrn Lui“ (https://herrlui.de) angeleitet, das auch die Aufführungen vorbereitet und bei der Auswahl geholfen hatte, aber nicht selbst aufgetreten ist: Im Mittelpunkt der Aufführung standen ausschließlich die Artist*innen. Die studentischen Begleiter*innen halfen, sofern es zwingend notwendig war, bei den Auftritten: Sie hoben den Rollstuhl zum Trapez hoch oder fingen den Ball bei der Jonglage.
Besondere Aufmerksamkeit widmete das Team der in diesem Feld oft heiklen Spannung zwischen Aufführung und Vorführung. Zwar ist für einen Zirkus ein Publikum zwingend erforderlich – aber die besondere Konstellation der Aufführenden macht ein vorbereitetes Publikum unentbehrlich, das neugierig und aufmerksam zuschaut – nicht einfach nur Seltsames bestaunt, sondern Besonderheit respektiert und wertschätzt, und Heiterkeit erleben kann. Entsprechend entschieden die Organisator*innen sich für diesen ersten Versuch gegen eine breite, allgemeine Werbung, sondern für ein geladenes Publikum. Die Aufführung, die gut eine Stunde dauerte, war gut besucht: Annähernd 60 Zuschauer*innen erlebten eindrucksvolle Begegnungen und Leistungen, die mit dem Bewusstsein, was bei Trainingsbeginn, zwei Tage zuvor, möglich und unmöglich schien, Höchstleistungen sind. Prof. Dr. Werner Greve beobachtete „Niemanden, der nicht bewegt nach Hause gegangen wäre. Der Applaus gab allen Beteiligten Recht: Freude an der eigenen Handlung und ihrer fröhlichen Wirkung ist menschlich universell. Ein wichtiger Schritt ist gegangen – vielleicht einer, dem weitere folgen.“
Es ist geplant, die Aufführung und das Projekt insgesamt zu dokumentieren. Eine ausführlichere Dokumentation, mit Bildern und Reflexionen von allen beteiligten Gruppen und Perspektiven, soll im Universitätsverlag erscheinen (geplant: Frühjahr 2025).