Wohin des Wegs?

Samstag, 27. März 2004 um 16:40 Uhr

überlegungen von Prof. Dr. Werner Greve zur Universität (Hildesheim) der Zukunft

Derzeit ist vieles an der Universität im Umbruch, das Tempo ist beunruhigend hoch. Machen wir in der Eile alles richtig? Wer weiß: das Leben hat keine Kontrollgruppe. Leider. Aber klar ist, dass diese (unsere) Universität besser werden muss, lebendiger, mutiger, effizienter, auch elitärer, aber auch optimistischer und heiterer.

Mag es uns gefallen oder nicht: Die Universitäten der Zukunft werden mit den heutigen nur wenig ähnlichkeit haben. Der Verdacht liegt nahe, dass es mehr politische Vorgaben (Bologna) als sachliche Erfordernisse oder gar Einsicht in eigene Schwächen sind, die die Reform der Universität vorantreiben. Auch wenn diese Wahrnehmung gewiss nicht ganz fehlgeht, darf sie nicht den Blick auf tiefer liegende Wandlungsprozesse verstellen, die die Universität und die Wissenschaft(en) insgesamt betreffen. Die Disziplinen, die die Universität des 20. Jahrhunderts geprägt haben, verlieren mit wachsender Geschwindigkeit ihre klaren Konturen und damit auch ihre Bindungskraft. Die Einsicht, dass es weniger traditionelle Fächer ("die" Psychologie) als vielmehr sachliche Probleme sind, die wissenschaftliche Bemühungen herausfordern und bündeln, setzt sich langsam, aber unübersehbar durch. Das Beispiel der Erklärung von Aggression und Gewalt macht deutlich, dass nur ein die verschiedenen Betrachtungsebenen übergreifender ("biopsychosozialer") Ansatz wirklich aussichtsreich sein kann. Wissenschaftler/innen, die Denken und Arbeiten im Rahmen "ihres" Faches gelernt haben, fällt es jedoch oft schwer, andere Perspektiven genauso ernsthaft und konsequent einzunehmen. Die Modularisierung der Ausbildungsinhalte und die damit verbundene Herausforderung, sie im Studium im Rahmen einer liberalen Studienordnung weitgehend selbständig zu kombinieren, eröffnet daher die Chance, an die Stelle überkommener Disziplinen atmende Themen- und Problemkomplexe zu setzen (Ver­haltenswis­sen­schaften, Gesundheitswissen­schaften), die weder im Theorie- noch im Methodenbestand festgelegt sind und für die Interdisziplinarität gar nicht erst eingefordert werden muss, weil von vorneherein klar ist, dass das Problem die Auswahl von Methoden und Theorien bestimmt, nicht umgekehrt.

Mag es uns gefallen oder nicht: Die Universitäten der Zukunft werden mit den heutigen nur wenig ähnlichkeit haben. Der Verdacht liegt nahe, dass es mehr politische Vorgaben (Bologna) als sachliche Erfordernisse oder gar Einsicht in eigene Schwächen sind, die die Reform der Universität vorantreiben. Auch wenn diese Wahrnehmung gewiss nicht ganz fehlgeht, darf sie nicht den Blick auf tiefer liegende Wandlungsprozesse verstellen, die die Universität und die Wissenschaft(en) insgesamt betreffen. Die Disziplinen, die die Universität des 20. Jahrhunderts geprägt haben, verlieren mit wachsender Geschwindigkeit ihre klaren Konturen und damit auch ihre Bindungskraft. Die Einsicht, dass es weniger traditionelle Fächer ("die" Psychologie) als vielmehr sachliche Probleme sind, die wissenschaftliche Bemühungen herausfordern und bündeln, setzt sich langsam, aber unübersehbar durch. Das Beispiel der Erklärung von Aggression und Gewalt macht deutlich, dass nur ein die verschiedenen Betrachtungsebenen übergreifender ("biopsychosozialer") Ansatz wirklich aussichtsreich sein kann. Wissenschaftler/innen, die Denken und Arbeiten im Rahmen "ihres" Faches gelernt haben, fällt es jedoch oft schwer, andere Perspektiven genauso ernsthaft und konsequent einzunehmen. Die Modularisierung der Ausbildungsinhalte und die damit verbundene Herausforderung, sie im Studium im Rahmen einer liberalen Studienordnung weitgehend selbständig zu kombinieren, eröffnet daher die Chance, an die Stelle überkommener Disziplinen atmende Themen- und Problemkomplexe zu setzen (Ver­haltenswis­sen­schaften, Gesundheitswissen­schaften), die weder im Theorie- noch im Methodenbestand festgelegt sind und für die Interdisziplinarität gar nicht erst eingefordert werden muss, weil von vorneherein klar ist, dass das Problem die Auswahl von Methoden und Theorien bestimmt, nicht umgekehrt.

Zugleich macht die ungeheure Vermehrung und dadurch wachsende Spezialisierung des Wissens klar: Das Ideal einer breiten Allgemeinbildung ist unwiederbringlich überholt. Es kann nur kompensiert werden durch breite individuelle Streuung der Wissens- und Kompetenzprofile. Nicht mehr der Einzelne, sondern die Gruppe ist - insgesamt - breit und allgemein gebildet. Das Team weiß, was man wissen muss. Und das Team lernt stetig weiter, weil jedes Mitglied lebenslang das dazulernt, was ihm oder ihr eben lernenswert erscheint, und da dies für jeden etwas anderes sein wird, lernen alle von allen. Dabei erfolgt die Vernetzung dieses Wissens nicht über den oft aussichtslosen Weg des interdisziplinären Dialoges, sondern durch die Kooperation von Individuen, von denen keine zwei ein identisches Ausbildungs- und Kenntnisprofil aufweisen, sondern jedes aus seiner Perspektive an der Lösung der gemeinsamen Aufgabe arbeitet.

Individuelle Identifizierungsangebote statt formaler Studiengänge

Allerdings wirft das für jeden einzelnen Studierenden Orientierungsprobleme auf. Wie navigiere ich in diesem unübersehbaren Ozean der Optionen? Vielleicht durch eine humane Wendung: Man studiert nicht "Chemie", sondern "bei Meyer". Statt der Studienordnung übernimmt die individuelle Mentorin die Beratung, inclusive Identifikationsangebot: "Schüler von Schmitt" statt "Psychologe". Das setzt gute Lehrende voraus, die nicht nur in ihrer Forschung klug und charismatisch, sondern zugleich ernstlich auch in der Erziehung gut sind, auch menschlich, denn der damit verbundene Anspruch ist nicht nur didaktisch, sondern auch moralisch hoch. Voraussetzung dafür ist, dass man sich persönlich und länger kennt. Die Universität könnte, vielleicht, so wirklich wieder eine Gemeinschaft (Universitas) der Lehrenden und Lernenden werden, was längerfristig durchaus für beide nützlich sein könnte (Alumni).

Evolution statt Revolution: Der Umbau des Schiffs auf hoher See

Wie kann dabei die Unterscheidung zwischen Berufsausbildung und wissenschaftlichem Studium bewahrt und beides gleichzeitig besser (verbunden) werden? Wie kann Forschung exzellenter werden, international konkurrenzfähig, und dennoch eine realitätsgerechte, effiziente Lehre für alle Studierenden angeboten werden? Tatsächlich ist nicht zu verstehen, warum Fächer wie Jura, Zahnmedizin, Psychologie oder Lehramt ausschließlich als universitäre Fächer studiert werden müssen, obwohl die Mehrzahl der Absolventen zu Recht weniger ein wissenschaftliches Studium als vielmehr eine Berufsausbildung erwartet, die sie befähigt, mit dem Abschluss gut gerüstet in die Praxis einzusteigen. Ganz gewiss aber brauchen alle diese Fächer weiterhin auch vitale universitäre Zweige, die die Forschung vorantreiben und die lebendige Entwicklung der Fächer garantieren. Und selbstverständlich sollen praktische Elemente auch aus den Universitätsstudiengängen nicht etwa verbannt werden, schon deswegen nicht, weil Forschung durchaus auch praxisbezogen geschehen darf. Gerade für dieses Problem aber könnte eine Bachelor/Master-Systematik aus der drohenden Not eine hoffnungsvolle Tugend machen. Wenn der tatsächlich berufsqualifizierende Abschluss und der wissenschaftlich darauf aufbauende Studiengang formal getrennt werden kann, wäre beiden Interessen Rechnung getragen und dies obendrein mit der Chance, alles an einer Einrichtung zu verbinden. Dass dabei "Schlüsselqualifikationen", seien sie fachlich oder sozial, in gemeinsamen Modulen anzubieten sind, versteht sich von selbst, und etabliert, ganz zwanglos, die Verschränkung der Perspektiven.

Dienst und Leistung: cui bono?

Dass deutsche Universitäten nicht gut genug seien und insbesondere ihre Professoren eine stärkere Leistungsorientierung zeigen müssten, ist gewiss eine einseitige (und zudem billige) Parole der Politik, zumal dann, wenn zuvor Ressourcen gekürzt und Lasten erhöht werden. Andererseits ist an der Kritik, ganz unter uns gesagt, ja vielleicht auch nicht alles falsch. Die Universität könnte schon besser sein, als sie es ist, und hier und da ist sie wohl auch zu wirklichkeitsfern. Nun soll sich Wissenschaft gewiss nicht ins Prokrustesbett des sofortigen Nutzens, gar des monetären, legen lassen; dabei kommt, wie in der Lagerstatt jener mythologischen Figur, nur ungesunde Verstümmelung heraus. Aber darüber dürfen wir nicht vergessen, dass die Universitäten (und ihre Professoren) Dienstleister sind. Für wen aber? Unsere Kunden sind in erster Linie nicht die Studierenden, und auch nicht nur deren Eltern. Die Kunden, denen gegenüber wir unsere Arbeit rechtfertigen müssen, sind vor allem die, die für uns aufkommen, obwohl nicht ihre Kinder bei uns lernen. Gerade auch je­nen schulden wir eine gute Ausbildung für unsere Stu­dierenden, denn sie arbeiten als Busfahrerin, Krankenpfleger, Bauunternehmer, Polizistin oder Landwirt, damit wir Universitätslehrer bezahlt werden können. Sie haben uns diese jungen Menschen anvertraut, damit wir diesen - und damit auch ihnen und uns - die Zu­kunft erleichtern. Und ihnen müssen wir reinen Gewissens sagen können, dass unsere Lehre gut und unsere Forschung es wert ist, geforscht zu werden. Unbe­streitbar ist Evaluation komplizierter, als Mancher sich das wünscht; das darf kein Grund werden, auf sie zu ver­zichten, sondern muss einer sein, sie sorgsam zu ma­chen (und ihrerseits zu evaluieren). Auch wenn sicher nicht alles sofort vermarktbar sein muss: die Freiheit von Forschung und Lehre hat den Zweck, dass die Gesellschaft davon profitiert. Es ist uns überlassen, was, aber nicht, ob sie etwas davon hat, sich Uni­versität zu leisten. Der Gewinn soll gewiss auch in Kul­tur oder Erkenntnisfortschritt bestehen, aber gewiss nicht darin, dass ich meinen persönlichen Interessen nachgehen darf, ohne Rechenschaft abzulegen. Ein wenig mehr Demut vor dieser Pflicht würde mehr Mut zur Re­novierung und dann auch zum Widerstand gegen un­kluge politische Zumutungen auf das Erfreulichste ab­runden. Wer, wenn nicht wir, soll denn die Zukunft gestalten?


greve(at)uni-hildesheim.de