Von der "polyästhetischen Erziehung" zur intermedialen Kunstkompetenz

Donnerstag, 22. Juli 2004 um 10:38 Uhr

Hildesheimer Kulturwissenschaftler diskutieren die zukünftige Entwicklung

Die Diskussion um die Weiterentwicklung und Zukunft der kulturwissenschaftlichen Studiengänge hat begonnen. Wir drucken hier die Schlusspassage der Rede ab, die Prof. Dr. Hajo Kurzenberger anlässlich der Feier "25 Jahre Hildesheimer Kulturwissenschaften" im Stadttheater am 6.2.2004 gehalten hat.

"[...] Wie einzelne Fächer und das große Ganze konzipiert, austariert und inspiriert werden, hängt vor allem von Personen und geglückten Personenkonstellationen ab. Ob diese ihre wissenschaftliche oder künstlerische Eigenheit einer gemeinsamen offenen und lebendigen Idee verpflichten und wie sie zu anderen ins Studienprofil, also in die vorgegebene Struktur, passen, das ist und bleibt das Entscheidende. Und diese Struktur lautet, zum wiederholten Male sei es hier gesagt, wissenschaftlich-künstlerisch. Wer diese magische Formel, die das Kernstück des Hildesheimer Erfolges ist, einseitig außer Kraft setzt, schadet dem Studiengang. Das heißt, er macht ihn vielen anderen gleich. Das muss man wissen, wenn man für die Zukunft planen will.

"[...] Wie einzelne Fächer und das große Ganze konzipiert, austariert und inspiriert werden, hängt vor allem von Personen und geglückten Personenkonstellationen ab. Ob diese ihre wissenschaftliche oder künstlerische Eigenheit einer gemeinsamen offenen und lebendigen Idee verpflichten und wie sie zu anderen ins Studienprofil, also in die vorgegebene Struktur, passen, das ist und bleibt das Entscheidende. Und diese Struktur lautet, zum wiederholten Male sei es hier gesagt, wissenschaftlich-künstlerisch. Wer diese magische Formel, die das Kernstück des Hildesheimer Erfolges ist, einseitig außer Kraft setzt, schadet dem Studiengang. Das heißt, er macht ihn vielen anderen gleich. Das muss man wissen, wenn man für die Zukunft planen will.


Nicht häufig ist die Einheit von Wissenschaft und Kunst in einer Lehr-Person inkarniert. Und nicht in allen Kunstsparten ist diese doppelte Einheit möglich oder gar Tradition. Also ist darauf zu achten, dass nicht nur das Gleichgewicht zwischen WissenschaftlerInnen und Künstlern im Studiengang stimmt, sondern auch, was fast noch wichtiger ist, dass sie miteinander reden und arbeiten können und wollen. Der kunstsinnige, kunsterfahrene, kunstbesessene Wissenschaftler ist dabei ebenso das Suchbild wie die reflektierte, formulierungsfähige, nachdenkliche Künstlerin. Und für beide gilt gleichermassen: kommunikative Tauglich- und Lebendigkeit. Denn nur das ermöglicht gemeinsame Gespräche und gemeinsame Arbeit.


All das passt wenig ins akademische Gelände. Die ‘Wahrnehmungsdispositive', wie es im wissenschaftlichen Antragsdeutsch heute heißt, sind dort auf ganz andere Parameter gerichtet. Akademische Grade müssen absolviert sein und vorgewiesen werden. Drittmitteltauglich muss die einzustellende Person erscheinen (im Klartext: was holt der oder die KandidatIn durch Forschungsprojekte in den großen Topf der Stiftungsuniversität), dissertationsvermehrend muss sie wirken, will man künftigen Hochschulfinanzierungsmodellen genügen (Stichwort: formelgebundene Mittelzuweisung). Dass eine forschende Kunst- und Vermittlungspraxis in diesem Kriterienkatalog ebenso wenig vorkommt wie die Frage, ob man künstlerische und wissenschaftliche Leistungen nicht auch promovieren und habilitieren könnte, dass man bei DFG-Anträgen den Praxisbezug eines Forschungsprojekts tunlichst zu verschweigen hat, zeigt die Grenze der Entwicklungsmöglichkeit eines wissenschaftlich-künstlerischen Unikat-Studiengangs wie den in Hildesheim.


Jene Studiengänge also, die zum besonderen Profil unserer Universität entscheidend beitragen, sind und bleiben, so das Zwischenfazit, von innen und außen gefährdet: von jenen, die nicht sehen wollen oder können, dass wissenschaftlich-künstlerisch mehr als eine curriculare Formel ist, nämlich ein immer wieder neu zu erringendes und zu verlebendigendes doppeltes Ziel. Und von jenen, in deren Universitätskonzept und -verständnis so viel Individualität gar nicht vorkommt, die unterschiedlichste Forschungen, Lehrformen und Lehrinhalte über den akademisch gleichen Leisten schlagen wollen. Die Peers unserer ersten so positiv verlaufenen Evaluation, Prof. Lämmert und Prof. Glaser, haben das Problem übrigens mit aller Deutlichkeit schon vor einigen Jahren gesehen und es auf die schwierige Nachwuchsfrage fokussiert. Im Grunde - so ihre Einschätzung - müssen die Hildesheimer kulturwissenschaftlichen Studiengänge ihre künftigen Lehrenden selbst hervorbringen, müssten sie eine eigene Wissenschaftsform paradigmatisch bundesweit bekannt machen und zur Diskussion stellen, weil es Vergleichbares ja nicht gebe.


Suchen wir den Vergleich im überregionalen und internationalen Kontext, kann das Hildesheimer kulturwissenschaftliche Konzept bestehen, weil es, wie kaum eine andere deutsche Kulturwissenschaft, die "Verantwortung für ästhetische Erfahrung" nicht nur auf dem Papier übernommen hat. Sie wird hier forschend praktiziert. "Verantwortung für ästhetische Erfahrung" war nämlich das erste, ja primäre von vier Essentials, das unsere Stiftungsrätin, die Konstanzer Professorin Alaida Assmann, unlängst hier vor Ort als Voraussetzung und Ziel einer heutigen Kulturwissenschaft definiert hat. Zu deren Merkmalen zählte sie außerdem die "Verantwortung für die Sprache", die uns nicht nur den Zugang zur Welt ermögliche, sondern die als sprachliche Darstellung erst Kultur schaffe. Nur mit ihrer Hilfe sei jene aktive kulturelle Erinnerungsarbeit möglich, die - Essential Nr. 3 - das kulturelle Gedächtnis sichere, in einer Zeit, die "Gegenwartschrumpfung" (Lübbe) betreibe in immer schnellerer Historisierung des Vergangenen. Schließlich als 4. Merkmal: die "Verantwortung für kulturelle Besonderheiten", die in Zeiten der Globalisierung und Immigration sichtbar werden müssten, um ein produktives Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem herzustellen. Sozial- und Kulturwissenschaften seien auf diesem vierfüßigen Fundament zuständig für Orientierungswissen, das in Zeiten der Weltunordnung zunehmend wichtig werde, ja zur "Sinnstiftung" beitragen könne.


Die Hildesheimer Kulturwissenschaften tragen ihr Scherflein bei zu solch weit gefasster Aufgabenstellung. Sie sehen sich nachdrücklich bestätigt in der Feststellung und Herleitung Assmanns, dass Kulturwissenschaft keine Schule und kein Forschungsparadigma sei, dass aus der Krise der Humanities, bei uns Geisteswissenschaften genannt, unter anderem die Cultural Studies erwachsen seien, die einem elitären Kunstbegriff mit der Ausweitung in die Pop-Kultur begegneten, und dass der Kanon der überlieferung durch verschiedenste gesellschaftliche Entwicklungen "hinweggefegt" sei.


Mit Hilfe von Kunstpraxis und Kunsttheorie unseren Standort in der gesellschaftlichen Gegenwart zu bestimmen, in Erfahrung bringen zu wollen, wo wir stehen, sind Selbstbeschränkung und hohes Ziel zugleich. Die Konzentration auf das ästhetische hat im Hildesheimer Modell eine besondere Ausformung: zu erproben und zu wissen, was das ästhetische heute ist und bedeutet, und in Erfahrung zu bringen, wie das ästhetische das Heute, also die Gegenwart, zur Anschauung und Evidenz bringt, ist mehr als ein Spiel. Es ist sinnliche Erkenntnis, die, wie Assmann es fordert, diagnostische Selbsterfahrung der Gesellschaft betreibt. Dass diese in Hildesheim oft spielerisch daher kommt, tut dem Ernst der Sache keinen Abbruch, im Gegenteil. Es zeigt nur, dass sinnliche Erkenntnis auch ein Vergnügen und eine Lust sein kann, ganz im Sinne von Altvater Brecht. Und es zeigt zugleich, dass in den Hildesheimer Kulturwissenschaften ein pädagogisches und didaktisches Konzept wirksam ist, das die Beteiligten dahin bringt, sich auf leichte und ernste Weise einzulassen, ja einzubringen auch in weit entfernte, zunächst scheinbar entlegene Bereiche.


Im kommenden Projektsemester wird ein zentrales Projektthema "Antike intermedial" sein. Vier Institute, vier Kunstdisziplinen finden sich unter diesem Themendach zusammen: die Musik, die Fotografie und Szenografie, die Medien und das Theater. Und ich bin nicht nur sicher, dass Themen wie "Medien, Anthropologie, Körper, Gesellschaft, Theatralität oder Fremdheit" hier in ihrer für unsere Gesellschaft zunehmend gewachsenen Relevanz sichtbar werden, wie Claudia Bentin und Hans Rudolf Velden dies in ihrer Einführung in neue Theoriekonzepte der Kulturwissenschaften konstatieren. Ich bin mir auch sicher, dass eben diese Themen in diesem Projekt ihre konkret sinnliche Ausformung und Reflexion der vergnüglichen und verstörenden Hildesheimer Kunstart finden werden. In Teilprojekten wie z.B. "Freischwimmen! Mit Medea im Blutbad", im Swimmingpool der Domäne, oder in "http://www.odysseus%20zu%20hause.de/" oder in "Antike Körper neu belichtet" oder in "Platons Höhle" oder in "Hotel Europa" oder in "Elektras elektrische Störungen". Dort ist - so scheint es mir - die kulturelle Erinnerung am lebendigsten, wo sie dazu taugt, die Gegenwart neu zu entdecken und zu formulieren.


Freuen wir uns auf die Ergebnisse des Projektsemesters 2004! Und wünschen wir der Hildesheimer Kulturwissenschaft eine gute Zukunft!"