Sie schreiben gerade Ihre Masterarbeit. Sind Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund eine Antwort auf die Heterogenität im Klassenzimmer?
Derya Akdağ: Ja, sie könnten eine Antwort sein. Der Wirkfaktor ist leider noch nicht erforscht worden. Aber sie können nicht die einzige Antwort sein. Alle Lehrerinnen und Lehrer, unabhängig von der Herkunft, müssen sensibilisiert werden, mit der Heterogenität im Klassenzimmer umzugehen. Sie sollten Heterogenität als Chance begreifen, neue Sprachen und Kulturen kennenzulernen und dies nicht als Defizit und Problem abstempeln.
Wie sieht Ihre Zuwanderungsgeschichte aus?
Ich bin in Hannover geboren, in einem Brennpunkt-Viertel aufgewachsen, in meiner Familie wurde hauptsächlich Türkisch gesprochen. Mein Vater kam als Gastarbeiter Ende der 1960er Jahre nach Deutschland, hat meine vier älteren Geschwister und meine Mutter nach Deutschland geholt. Heute würde man sagen: eine typische Gastarbeiterfamilie, die Eltern eher bildungsfern. Meinen Eltern war es wichtig, dass aus uns Kindern etwas „Besseres“ wird. Nach meinem Realschulabschluss habe ich eine Ausbildung als Apothekenhelferin absolviert, die Fachhochschulreife nachgeholt, fünf Jahre in meinem Ausbildungsberuf und sieben Jahre im Vertriebsaußendienst in der Telekommunikationsbranche gearbeitet, ein komplett anderer Beruf. Dann habe ich meine Hochschulzugangsberechtigung nachgeholt und an der Universität Hildesheim das Studium aufgenommen. Ein langer Weg zum Lehrerberuf.
Sollte sich die Vielfalt in den Klassenzimmern auch im Lehrerzimmer wiederspiegeln?
Es sollte als „normal“ angesehen werden, dass die Lehrerin einen Migrationshintergrund hat. Somit würde sich der Schüler auch selbst als „normal“ empfinden und nicht als Exot oder als etwas Besonderes. Die kulturellen Hintergründe und Sprachkompetenzen, die ein Mensch durch seine Biographie mitbringt, sind eine Bereicherung. Die Chance liegt darin, aufzuzeigen: auch wenn wir nicht alle die gleichen kulturellen Wurzeln haben sind wir eine Gemeinschaft. Eine Isolierung durch „Die da“ und „Wir “ spaltet unsere Gesellschaft und erschwert das Zusammenleben. Es muss ein „Wir alle“-Zustand erreicht werden. In der schulischen Praxis ist das besonders wichtig.
Integration – was bedeutet dieses Wort für Sie?
Integration bedeutet nicht Anpassen von einer Seite in eine Richtung. Es ist ein beidseitiger Prozess. Integration bedeutet, sich von Seiten der Mehrheitsgesellschaft angenommen, akzeptiert und respektiert zu fühlen, nicht nur geduldet zu sein. Man muss Integrationswillen zeigen, sei es, die Sprache zu erlernen oder das deutsche Grundgesetz zu achten.
Spielte Ihr Migrationshintergrund in Ihren Schulpraktika eine besondere Rolle?
In einer 2. Klasse hatte ich eine Schülerin mit türkischen Wurzeln, die mit dem Wort „Wichteln“ auch nach eingehender Erklärung auf Deutsch nichts anfangen konnte. Es gibt ähnliche „Bräuche“ im türkischen Kulturkreis, also konnte ich Transferarbeit leisten und auf deutsch-türkisch die Bedeutung erklären. Das türkische Sprachsystem habe ich als Werkzeug im Gepäck, kann zwischen der Erst- und Zweitsprache Bezüge herstellen.
Welche Rolle nimmt Sprache in Integrationsprozessen ein?
Integration darf nicht allein an der perfekten Beherrschung der deutschen Sprache festgemacht werden. Als Basis für den Unterricht ist die deutsche Sprache sehr wichtig. Aber: Alle Sprachen sind wertvoll. Die vielen Sprachen, die die Kinder in der Grundschule bereits sprechen, sind doch beeindruckend. In meiner eigenen Schulzeit durfte kein Türkisch gesprochen werden. Ich habe mich gefühlt, als wäre ich weniger wert. Obwohl ich doch mit dieser Muttersprache hätte zeigen können: Hier kann ich etwas richtig gut. Interkulturelle Kompetenzen und der Bereich Deutsch als Zweitsprache sollten in der Lehreraus- und -fortbildung Pflicht sein.
Vielen Dank für das angenehme Gespräch.
Vom 30. November bis 3. Dezember 2011 findet an der Stiftung Universität Hildesheim der Schülercampus „Mehr Migranten werden Lehrer“ statt. Derya Akdağ wird den 30 Schülerinnen und Schülern Einblicke in das Lehramtsstudium geben. Ziel ist es, junge Menschen mit Zuwanderungsgeschichte für den Lehrerberuf zu interessieren.
Uni-Journal November 2011, Schwerpunkt Bildungsintegration (PDF)