„Viele sind fasziniert von den Bewegungen“

Mittwoch, 12. Dezember 2012 um 14:53 Uhr

Gebärdensprachen sind genauso leistungsfähig wie Lautsprachen, sagt Dr. Ulrike Wrobel von der Universität Hamburg. Ein Gespräch über Dialekte, Gebärdendolmetscher und die Schulbildung gehörloser Kinder. Am Freitag hält sie einen öffentlichen Vortrag an der Universität Hildesheim im Rahmen der Lehrveranstaltung „Einführung in die Mehrsprachigkeit“.

Frau Dr. Wrobel, Sie sprechen am Freitag an der Uni Hildesheim über Gebärdensprache und Lautsprache – wie äußert sich hier Mehrsprachigkeit?

Gebärdensprachen unterscheiden sich. Es gibt zum Beispiel die Amerikanische (ASL), die Französische (LSF) oder die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Sie sind nicht erfunden und man kann in ihnen alles ausdrücken. Aus linguistischer Sicht handelt es sich um Sprachen mit einer komplexen Grammatik, die genauso leistungsfähig sind wie Lautsprachen. Gehörlose Sprecher visueller Sprachen wachsen mehrsprachig auf: Neben der DGS erlernen sie eine oder mehrere Lautsprachen.

Wenn wir im Alltag über Mehrsprachigkeit reden, landet man häufig bei Englisch, Türkisch, Russisch, Deutsch, also bei Lautsprachen. Berücksichtigen wir noch zu wenig die Gebärdensprache und wie erlernt man diese?

In Diskussionen um Mehrsprachigkeit und um Sprache spielt Gebärdensprache erfreulicherweise eine immer größere Rolle. Viele hörende Menschen sind fasziniert von der Möglichkeit, sich durch sichtbare Bewegungen der Hände, der Arme, des Gesichtes, des Kopfes, der Schultern und der Augen verständigen zu können. Gebärdensprachen sind ganz normale Fremdsprachen: Sie zu erlernen, erfordert leider genau so viel Mühe. Ein russisches Sprichwort sagt: „Am besten lernt man ein Sprache auf dem Kopfkissen“, das soll heißen, man lernt eine Fremdsprache am besten von einer Person, die sie spricht und die einem sehr nahe steht. Der Erwerb einer Sprache verläuft dann quasi automatisch. Im Fall des Erwerbs einer Gebärdensprache ist das meistens komplizierter, weil neun von zehn gehörlosen Kindern hörende Eltern haben, die zum Zeitpunkt der Geburt ihres Kindes meistens nur eine oder mehrere Lautsprachen sprechen.

Wie ist unser Schulsystem aufgestellt, auch mit Blick auf den inklusiven Unterricht, der in Niedersachsen ab dem Schuljahr 2013/14 eingeführt wird?

Die Schulbildung gehörloser Kinder muss verbessert werden. Dabei kommt es aus meiner Sicht nicht auf den Ort der Bildung an, sondern auf die Art und Weise: Für jeden einzelnen Menschen müssen individuell die besten Bildungsmöglichkeiten geschaffen werden. Diese müssen in einem ständigen Prozess bestmöglich an die Entwicklung der Person und an die ihres Umfeldes angepasst werden. Die Schule sollte sich am Menschen orientieren und nicht umgekehrt.

Wenn in der Schule neben dem Lehrer ein Gebärdensprachdolmetscher für den inklusiven Unterricht verantwortlich ist, ist dies auch für hörende Kinder eine gute Möglichkeit, mit Gebärdensprachen und ihren Sprechern in Kontakt zu kommen und Berührungsängste abzubauen. Seit im Jahr 2002 die DGS im sogenannten Bundesgleichstellungsgesetz anerkannt worden ist, hat man nun mittlerweile glücklicherweise ein verbrieftes Recht darauf, einen Dolmetscher zu beantragen. Leider herrscht immer noch ein Mangel an Dolmetschern.

Und innerhalb der Gebärdensprache – wo kommt hier Mehrsprachigkeit zum Ausdruck?

Gebärdensprachen unterscheiden sich hinsichtlich unterschiedlicher Regionen (Dialekte) oder Sprechergruppen (Soziolekte). So hat sich zum Beispiel eine gehörlose Bekannte bei mir darüber beklagt, dass bei einer Dolmetschereinblendung während einer Fernsehsendung so berlinert worden sei, dass sie nicht alles verstanden habe. Generell sind gehörlose Menschen aber sehr froh, wenn überhaupt Dolmetschereinblendungen oder Untertitel bereitgestellt werden. In einem normalen Gespräch kann man sich hingegen durch nochmaliges Nachfragen oder Umschreibungen verständigen. Wenn sich gehörlose Menschen aus unterschiedlichen Ländern treffen, können sie sich in International Sign unterhalten. Das ist eine Art Esperanto visueller Sprachen.

Wie wird der Vortrag am Freitag ablaufen?

Der Vortrag wird von Mira Sander und von Jana Mosquera simultan in die Deutsche Gebärdensprache übersetzt. Man hat als hörender Teilnehmer also die Möglichkeit, sich einmal anzugucken, wie eine visuelle Sprache gesprochen wird. Dass die Dolmetscher übersetzen, bietet die Voraussetzung für eine gemeinsame Begegnung von hörenden und gehörlosen Teilnehmern. So können Kontakte geschlossen werden und Begegnungsräume geschaffen werden. Ich bedanke mich bei der Universität Hildesheim und bei Professor Elke Montanari, dass sie dies möglich gemacht haben.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mehrsprachigkeit im Fokus

Der öffentliche Vortrag „Gebärden- und Lautsprache – eine mehrsprachige Situation?“ findet im Rahmen der Lehrveranstaltung „Einführung in die Mehrsprachigkeit“ von Prof. Dr. Elke Montanari statt. Er beginnt am Freitag, 14. Dezember, um 17:00 Uhr am Bühler Campus (Raum LN 003).


Sprechen mit Zeichen, Armen, Bewegungen. Gebärdensprachen unterscheiden sich. Foto: daveynin

Sprechen mit Zeichen, Armen, Bewegungen. Gebärdensprachen unterscheiden sich. Foto: daveynin