Theaterstudierende blicken auf Arbeit: sinnlich, statt statistisch

Dienstag, 26. Mai 2015 um 18:15 Uhr

Wer arbeitet nachts? Das kriegt man gar nicht mit, sagen Theaterstudierende der Universität Hildesheim. Künste können auf eine sinnliche Art sichtbar machen – anders als Statistiken. Das Festival „transeuropa“ öffnet unsere Sinne für unsichtbare Arbeit, etwa für nächtliche Arbeit, von der viele Menschen kaum etwas mitbekommen, da sie schlafen. Einblicke in das Europäische Festival der performativen Künste.

In der „Nachtschicht“ werden Festivalteilnehmer in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai 2015 über ihr Smartphone durch die Nacht gelotst – von Ort zu Ort, quer durch die Stadt –, um zu erfahren, wer nachts arbeitet. In leerstehenden Ladenlokalen, an ehemaligen Orten der Arbeit, setzen sich Künstlerinnen mit dem Berufsleben auseinander. Die Festivalbesucher kommen an Orten der nächtlichen Arbeit zusammen, etwa in einer Bar, in einer Suppenküche für Obdachlose. Dabei richtet das studentische Organisationsteam, das hinter „transeuropa“ steckt, den Fokus nicht explizit auf bestimmte Berufsgruppen. Es stehe ihnen nicht zu, über Reinigungskräfte, Krankenschwestern und Rettungssanitäter oder Bäcker zu urteilen und über sie zu sprechen. Stattdessen wollen sie die Wahrnehmung schärfen. „Die Zuschauer sind permanent auf der Suche, laufen durch Hildesheim und bekommen einen anderen Blick für die Geschehnisse in einer Stadt bei Nacht“, sagt der Student Tobias Malcharzik. Wo findet gerade Nachtarbeit statt? „Sechs Stunden bewegen wir uns durch die Nacht, vereinzelt oder in der Gruppe, am frühen Morgen kommen wir im Festivalzentrum in der Innenstadt zusammen.“

Die „Nachtschicht“ ist Teil des europäischen Festivals für performative Künste „transeuropa“, das von etwa 50 Studierenden der Kulturwissenschaften der Universität Hildesheim organisiert wird. Die Künstlerische Leitung liegt in diesem Jahr bei Laura Bleck, Adele Dittrich Frydetzki, Marten Flegel, Theresa Frey, Tobias Malcharzik, Manuel Melzer, Anta Helena Recke, Birgit Schachner und Felix Worpenberg. In dieser Woche (27. Mai bis 1. Juni 2015) [zum Programm] laden sie Künstlerinnen und Künstler aus Europa ein, sich mit der Frage zu befassen: Wie wollen wir arbeiten?

„Wir glauben an Arbeit, generieren mit unserer Tätigkeit Sinn. Wenn wir uns aktuelle Debatten anschauen – Burnout, Generation Y, Überforderung – dann verweisen sie darauf: Was macht Arbeit mit uns? Wir sind eine Glaubensgemeinschaft, die daran glaubt, arbeiten zu wollen. Wir hinterfragen das aber kaum“, sagt Tobias Malcharzik, der mit weiteren Studierenden die „Nachtschicht“ organisiert. Die „Nachtschicht“ ist eingebettet in einen zweitägigen Kongress über die Frage „(Wie) wollen wir in Zukunft arbeiten?“. Der 22-jährige Malcharzik studiert „Szenische Künste“ an der Universität Hildesheim. Er stelle sich oft die Frage: Was und wie will ich arbeiten? Es sei spannend zu beobachten, wie in den Künsten Kulturschaffende immer in Bewegung seien, sich neu formieren, von Projekt zu Projekt, der Arbeitskontext ändere sich ständig. Gerade transeuropa sei ein Festival, das sich „stets neu formiert“, alle drei Jahre entsteht ein neues Studierendenteam. „Wir müssen immer wieder Arbeitsstrukturen neu schaffen. Es ist spannend, wie wir uns bewegen und verändern“, sagt Tobias Malcharzik.

„Nächtliche Arbeit existiert eigentlich nur dazu, damit der Tag geordnet und geregelt ablaufen kann. Reinigungspersonal muss nachts durch Büros gehen und die Müllabfuhr früh morgens durch die Straßen ziehen – damit  der Tagesablauf keine Störelemente enthält. Das, was so verborgen abläuft, möchten wir sichtbar machen“, sagt Hannes Siebert, der in Hildesheim Kulturwissenschaften mit den Fächern Theater und Medien studiert. Bei transeuropa absolviert er ein Praktikum, hat im Wintersemester an einem Seminar mitgewirkt, in dem das Festival vorbereitet wurde. „Das ist reizvoll in diesem Studiengang, etwas wirklich umzusetzen. Ich habe mich vorher nicht mit Arbeit in der Tiefe beschäftigt. Wir fragen auch: Was würde ein nächtlicher Protest eigentlich bringen? Wenn Leute nachts protestieren sieht man das nicht – aber am nächsten Tagen sind die Resultate sichtbar, der Müll bleibt zum Beispiel stehen.“

Das transeuropa-Team hat im Frühjahr ein Festivalzentrum bezogen, mitten in der Innenstadt, eine alte Bahnhofsschule. In dem roten Backsteingebäude hämmern und tüfteln die Studierenden wenige Tage vor der Eröffnung, zimmern eine Holzbar, reinigen die Räumlichkeiten, transportieren Teppich durch die Treppenhäuser und breiten Stadtpläne mit orange markierten Orten aus. transeuropa bespielt mehrere Orte während der Festivaltage, neben dem Festivalzentrum auch leerstehende Lokale, die Kulturfabrik Löseke, das Theaterhause und das Burgtheater auf der Domäne Marienburg. Während Lea Schütte im Erdgeschoss Festivalkarten verkauft und sich auf den „Arbeiter_innenchor“ vorbereitet – gemeinsam mit Sängerinnen und Sängern der Volkshochschule und des Unicanto-Universitätschors – entwickeln zwei Etagen über ihr Künstlerinnen und Künstler ihre Produktionen. Séverine Urwyler arbeitet zum Beispiel mit Schallwellen, eine Soundperformance entsteht. Das Künstlerinnenduo Sööt/Zeyringer aus Estland und Österreich befasst sich mit dem Umgang mit Problemen und Hindernissen, die als unlösbar erscheinen, mit Momenten des Scheiterns und der Frustration. Mit der Teilhabe an Arbeit, mit Sprache und Identität und Sprache von Minderheiten setzen sich die Theaterstudierenden von „Voll:milch“ auseinander, dabei arbeiten sie mit Gebärdensprache und beziehen Experten ein. Entstanden sei der Schwerpunkt des diesjährigen Theater- und Performancefestivals aus sehr persönlichen Fragen. „Im Kulturbetrieb fällt auf: Private Freundschaften werden total verflochten mit dem Arbeitsleben, gerade wenn man frei im Theaterbereich arbeitet, ist das oft identisch. Sollte man das trennen, ist das angenehm, wann arbeitet man, wann beginnt Freizeit?“, sagt die Studentin Birgit Schachner.

Etwa 1500 Tickets für Theater und Konzerte sind im Umlauf, sagt Felix Worpenberg. „Eine wichtige Erfahrung ist, das transeuropa Festival international und auf professionellem Niveau zu gestalten. Dabei treffe ich auf viele engagierte Leute und lerne selbstständig etwas Neues. Die Festivalmacher von transeuropa2012 haben gezeigt, wie fruchtbar und erfolgreich gemeinschaftliche Arbeit an einem Kulturfestival sein kann", sagt der 27-jährige, der im Master „Inszenierung der Künste und Medien“ studiert. Er habe während der Organisation in den letzten Monaten noch nie so stark gespürt, „dass Arbeit auch Arbeitszeit“ bedeute, etwa in der Kommunikation mit Ämtern und Behörden. „Wochenende hat sich für mich noch mal anders definiert, nicht immer ist jeder permanent an sieben Tagen erreichbar“, sagt Worpenberg. „Wir wollen alle Hildesheimer erreichen, deshalb haben wir unsere Plakate auch in Friseursalons aufgehängt, die Hildesheimer Bürger sind empfänglich, offen“, sagt die 21-jährige Studentin Magdalena Köstner.

transeuropa wolle in der Stadt präsent sein, das Thema Arbeit betreffe schließlich jeden. „Wir arbeiten in Workshops mit Kindern und mit Senioren, also jenen, die das Berufsleben noch vor sich haben oder die darauf zurückblicken“, ergänzt Felix Worpenberg. „Wir wollen ins Gespräch kommen.“ So treffen sich Studierende seit einigen Wochen regelmäßig mit Seniorinnen und Senioren des Seniorenheims am Steinberg in Ochtersum. In dieser Runde von Mitte Zwanzigjährigen und 77 bis 97-Jährigen tauschen sie sich über Arbeit aus. „Was Arbeit bedeutet, ist immer eine Frage der Zeit, in der sie stattfindet“, sagt Birgit Schachner. „Wieso interessiert ihr euch für uns?“, fragten die älteren Damen und Herren zunächst. Um dann im nächsten Moment aus ihrem Arbeitsleben zu erzählen, auf dem Postamt, in der Munitionsfabrik, in der Schneiderei. Die Ergebnisse sind in Audio und Bildern in einer Ausstellung im Festivalzentrum zu sehen.

Am Freitag und Samstag werden die Festivalteilnehmer diskutieren und Erfahrungen austauschen und sich „zwei Tage und eine Nacht Zeit nehmen, um Antworten“ zu finden. Wie wollen wir arbeiten? Wollen wir arbeiten? Und wenn nicht, was dann? Wessen Arbeit bleibt unsichtbar? Cobratheater Cobra fragt: Wir, wer kann das sein? Am zweiten Kongresstag fragt Konstanze Schmitt nach der Bedeutung von Pflegeberufen und Karolina Dreit diskutiert die Schaffung neuer Arbeitswirklichkeiten. Die Künstler befassen sich auf dem transeuropa-Festival auch mit dem Zusammenhang zwischen Freizeit und Arbeit.

Wie wollen wir arbeiten? Das Festival transeuropa im Überblick

Alle drei Jahre wird die Stadt zu einer Bühne: transeuropa ist das europäische Festival für performative Künste und findet vom 27. Mai bis 1. Juni 2015 zum 8. Mal in Hildesheim statt. Das Festivalzentrum befindet sich in der alten Bahnhofsschule in der Kaiserstraße 43-45. Etwa 40 Künstlerinnen und Künstler untersuchen in Gastspielen, Eigenproduktionen und partizipativen Projekten während der Festival-Woche, wie, warum und unter welchen Bedingungen Menschen heute arbeiten. Sie entwerfen am Beispiel der performativen Künste alternative Modelle des Arbeitens und zeigen, welche Vorstellungen und Ansprüche junge Künstler an zukünftiges Arbeiten haben.

Die Studierenden äußern auch Selbstkritik: Künstler sind es, die zu flexiblen und eigenverantwortlichen Arbeitsformen inspirieren. Ein Kongress bietet an zwei Tagen und einer Nacht Raum für Austausch. In „Residenzen“ leben Künstler aus anderen Ländern etwa fünf Wochen in Hildesheim, beobachten Arbeitsweisen und produzieren eine neue künstlerische Arbeit. Eine Aufführung, die besonderen Wert auf Musik und Sound legt entsteht in der „Soundresidenz“. In den partizipativen Projekten „Portrayed by children” und „Am laufenden Band” melden sich sehr junge und schon ältere Hildesheimer zu Wort und beschreiben ihr entweder noch vor ihnen oder bereits hinter ihnen liegendes Arbeitsleben. Das Festival bietet an den Festivaltagen jeweils zwischen 17:00 bis 21:00 Uhr eine Kinderbetreuung an. Mehr dazu auf der Internetseite www.transeuropa-festival.de.

transeuropa besteht seit 1994 und fördert den Nachwuchs in den performativen Künsten. Ein Team aus Studierenden des Fachbereichs Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation der Universität Hildesheim realisiert das Festival. Die Studierenden vertraten die Bundesrepublik Deutschland mit dem Thema „Gemeinschaften“ in der Endrunde des Europäischen Jugendkarlspreises.

transeuropa2015 wird gefördert unter anderem von dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, von der NordLB Kulturstiftung, von der Stiftung Niedersachsen, vom fonds darstellende künste, von der Bundeszentrale für politische Bildung, der Friedrich Weinhagen Stiftung, der Stadt Hildesheim, der Universitätsgesellschaft, der Bürgerstiftung und vom Fachbereich Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation und Präsidium der Stiftung Universität Hildesheim.

Interview mit den Studierenden Birgit Schachner und Marten Flegel

Künste können sichtbar machen, was sonst unsichtbar ist, sagen Marten Flegel und Birgit Schachner von der Universität Hildesheim. In das studentische Festival „transeuropa" binden sie auch Menschen ein, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten, darunter Kinder und Senioren. [...zum Interview: „In der Arbeitswelt zurechtkommen"]

Medienkontakt: Pressestelle der Uni Hildesheim (Isa Lange, presse@uni-hildesheim.de, 05121.883-90100)


Sie haben die Stadt im Blick: Die Studenten Hannes Siebert und Tobias Malcharzik führen Festivalbesucher durch die Nacht und durch die Stadt, vorbei an Orten nächtlicher Arbeit. Lea Schütte, Felix Worpenberg und Magdalena Köstner feilen im Festivalzentrum in der alten Bahnhofsschule in der Innenstadt an Wegen, Hildesheimer Bürgerinnen und Bürger für die performativen Künste zu interessieren. Insgesamt etwa 50 Studierende der Kulturwissenschaften der Universität Hildesheim organisieren „transeuropa2015“, das von vielen Stiftungen und Partnern aus Niedersachsen unterstützt wird. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Sie haben die Stadt im Blick: Die Studenten Hannes Siebert und Tobias Malcharzik führen Festivalbesucher durch die Nacht und durch die Stadt, vorbei an Orten nächtlicher Arbeit. Lea Schütte, Felix Worpenberg und Magdalena Köstner feilen im Festivalzentrum in der alten Bahnhofsschule in der Innenstadt an Wegen, Hildesheimer Bürgerinnen und Bürger für die performativen Künste zu interessieren. Insgesamt etwa 50 Studierende der Kulturwissenschaften der Universität Hildesheim organisieren „transeuropa2015“, das von vielen Stiftungen und Partnern aus Niedersachsen unterstützt wird. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim