Liebe Frau Bockmann, wie kann man sich die aktuelle Lage in Kindertageseinrichtungen vorstellen?
„Es ist kein Geheimnis, dass Kindertageseinrichtungen mit Personalnot zu kämpfen haben. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Belastung der Fachkräfte, sondern auch auf die pädagogische Tätigkeit an sich. Mit wenig Personal, vielen organisatorischen Tätigkeiten und großen Kindergruppen nimmt die Zeit am einzelnen Kind ab. Darunter leiden individuelle Förderung und Bindungsaufbau. Die Folgen sind höhere emotionale Belastungen bei den Fachkräften, Kindern und Eltern.“
Unabhängig von Personalaufstockung – was kann getan werden, um die Situation zu entschärfen?
„Hier sind auch die Fachkräfte direkt gefragt. Es geht darum, innezuhalten und im Team zu schauen, wie mit Stresssituationen anders umgegangen werden kann. Oft kommt Stress beispielsweise auch daher, dass man denkt: ‚Mein Team leidet, wenn ich mir eine Pause gönne.‘ Dann tut es niemand. Solche Punkte müssen in der Gruppe kommuniziert werden. Kurze Anti-Stress-Übungen zwischendurch bringen oft nicht den gewünschten Effekt. Hier sind ganzheitliche Lösungen nicht nur auf Ebene der Fachkräfte notwendig.“
Welche Lösungen könnten das sein?
„Ein Thema mit dem wir uns zurzeit viel beschäftigen, ist die sogenannte Slow Pedagogy, also eine entschleunigte Art der Pädagogik und eine Chance zum Atemholen für alle. Es geht darum, nicht immer schon an den nächsten Schritt zu denken, sondern den Moment anzuerkennen, die kindlichen Bedürfnisse und ihr Tempo wahrzunehmen und Kindern Möglichkeiten zu geben ihre eigenen Ideen, Geschichten und Kreativität auszuleben. Kurz gesagt – Alltagsroutinen ohne Eile und mit Zeit für Staunen, Entscheidungsfreiheit und Miteinander auf Augenhöhe, was beispielsweise bei Tiergestützter Pädagogik deutlich leichter fällt. Entschleunigung oder Langsamkeit bedeutet hier aber nicht, dass weniger passiert – es geht um bewussteres Wahrnehmen und Freiheiten. Ein Beispiel: Kindern, die zählen lernen sollen, kann dies entweder durch feste Aufgaben vermittelt werden oder (auf Basis der Slow Pedagogy) im Rahmen von spielerischem Tischdecken, bei dem die Kinder selbst herausfinden, wie viele Teller für die Gruppe benötigt werden. Lernen braucht also nicht in feste Abläufe integriert zu werden, sondern kann Teil des kindlichen Spiels sein. Es gibt keine vorgegebenen Lernarrangements, die Kinder entscheiden sich selbstständig für spannende Beschäftigungen. Auf diese Weise können sich die Fachkräfte auf eine Tätigkeit fokussieren und werden entlastet. Die Kinder profitieren von Raum zum Erkunden und Entdecken und stärken ihre Planungsfähigkeiten. Außerdem zählen auch allgemeine Entschleunigungsmaßnahmen zur Slow Pedagogy. Eine Erzieherin hat uns beispielsweise berichtet, dass in ihrer Gruppe nicht mehr gerannt wird, um der Schnelligkeit des Alltags etwas entgegenzusetzen und das gilt übrigens auch für die Erwachsenen in der Gruppe. Hier ist natürlich auch wieder wichtig, dass Maßnahmen und Gründe transparent kommuniziert und verständlich gemacht werden. Innerhalb des Teams, aber auch gegenüber Kindern und Eltern. Slow Pedagogy funktioniert, wenn alle mitmachen. “
Wie unterstützt KEA?
„KEA will nicht im Elfenbeinturm sitzen. Das Team bringt neue Erkenntnisse und Ideen aus der Forschung in die Kindertageseinrichtungen, wo sie praktisch ausprobiert werden können. Gleichzeitig werden Schwierigkeiten der Einrichtungen gesammelt, Unterstützung angeboten und praktische Erkenntnisse fließen wiederum an die Uni zurück. So entsteht ein Vertrauensverhältnis. KEA führt außerdem Fachtage durch. Zu Slow Pedagogy waren Fachkräfte im März eingeladen, auf dem Bühler-Campus in den Austausch zu gehen und die Langsamkeit in verschiedenen Workshops zu entdecken. Das waren zum Beispiel Entschleunigung über die eigene Stimme, Slow Pedagogy in der Leitung einer Einrichtung, Philosophieren mit Kindern und die Einbindung von Tieren in die Pädagogik. Dazu waren Schafe, Hühner und Meerschweinchen zu Besuch auf dem Campus. KEA sieht sich vor allem als eine Beratungseinrichtung und Impulsgeberin.“
Was war das Fazit der Veranstaltung und wie geht es jetzt weiter?
„Slow Pedagogy beginnt bei der Person selbst. Was vorhanden sein muss, ist die Bereitschaft, nicht sofort zu intervenieren, sondern Entwicklungen geduldig zu begleiten und auf die Eigeninitiative der Kinder zu vertrauen. Jetzt geht es vor allem darum, die Impulse in den Alltag zu übertragen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Langsamkeit zum festen Bestandteil frühkindlicher Bildung machen und nicht vor den strukturellen Herausforderungen mit Blick auf Zeitdruck und Personalmangel zurückzuschrecken. Das KEA-Team steht da auf jeden Fall an der Seite der Fachkräfte.“
Für alle, die tiefer in das Thema Slow Pedagogy eintauchen möchten, empfiehlt sich die Podcastfolge Langsame Pädagogik - Slow Pedagogy des KEA-Podcasts Sprachbildung in Kitas.
Das Projekt KEA (Kinder entwickeln alltagsintegriert Sprache) des Instituts für Psychologie der Universität Hildesheim berät seit 2011 Kindertageseinrichtungen in Stadt und Landkreis Hildesheim zu sprachlicher Bildung und Förderung der Kinder. Dabei wird Sprache als Schlüsselkompetenz verstanden, die entscheidend für einen erfolgreichen Bildungs- und Lebensweg der Kinder ist. Mit Beratung und Fortbildung unterstützt das KEA-Team pädagogische Fachkräfte in ihrer täglichen Arbeit. Dabei bezieht das Team immer wieder neueste Ansätze der Pädagogik ein und stützt sich auf internationale Forschungen.