Im Zuge des arabischen Frühlings 2011 war eine Euphorie entstanden über die Wirkung des Internets und vor allem die sozialen Medien. Schnell war die Bezeichnung „Twitter- oder Facebook-Revolution“ für die politischen Umbrüche in Tunesien und Ägypten zur Hand. Nicht nur in der öffentlichen und politischen Debatte, sondern teilweise auch in der Politikwissenschaft entstand eine hoffnungsvolle Haltung, bei der den neuen Medien eine demokratieförderliche Wirkung zugeschrieben wurde, dass Autokratien zunehmend durch diese interaktive Form der Kommunikation und die dadurch effektiver und schneller umsetzbare Mobilisierung von Widerstand und Protest bedroht werden. Manche Wissenschaftler sprachen sogar von „Befreiungstechnologie“. Dies ist jedoch eine zu einseitige Sicht und verkürzt die Wirkungsmöglichkeiten digitaler und vor allem sozialer Medien (Twitter, Facebook, youtube etc.) auf die positiven Effekte. Eine netzrealistische Perspektive ist erforderlich:
Erstens: Das Internet ist per se nicht demokratisch und kann aus sich heraus auch keine Demokratie erzeugen. Das Internet ist ein neutrales Medium, das grundsätzlich von jedem Akteur genutzt werden kann, um seine Botschaften zu transportieren und damit seine spezifischen Interessen zu vertreten. Die technischen Möglichkeiten einer schnellen, breiten, interaktiven, dezentralen und anonymen Verbreitung über digitale Medien steht allen Akteuren in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat offen: den demokratischen Oppositionellen ebenso wie den autokratischen Machthabern, Anti-System-Gruppierungen wie Extremisten oder auch Terroristen. Das zeigt sich nicht zuletzt auch zurzeit an den dramatischen Ereignissen nach dem Bekanntwerden des Videos „Innocence of Muslims“, das zunächst anonym ins Netz gestellt wurde, lange dort unbeachtet blieb und dann durch die Übersetzung Verbreitung im arabischen Raum gefunden hat.
Zweitens: Digitale Medien werden auch von Diktatoren genutzt. Autokratische Machthaber stehen demokratisch gesinnten Netzprofis hinsichtlich des technischen Erfindungsreichtums in nichts nach. Sie entwickeln subtile Filter- und Zensursysteme, beteiligen sich selbst an der Netzkommunikation und können so digitale Netzwerke zum Kontrollinstrument oder gar zur Fahndung nach Netzdissidenten ummünzen. Des Weiteren nutzen autokratische Regime das Internet auch zur Herstellung von Legitimität, indem sie Bürgernähe und Responsivität simulieren, so etwa kann man – vermeintlich – in China mit dem Premierminister Wen Jiaobao chatten. Somit eröffnen die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowohl Möglichkeiten für die Befreiung von Autokratien als auch für die soziale Kontrolle durch Autokratien. Kommunikationstechnologien können nicht einem einzigen Ergebnis – entweder Befreiung oder Kontrolle – zugeordnet werden. Auf eine kurze Formel gebracht: Eine neue Software-Anwendung, so erfindungsreich sie sein mag, kann keine sozialen oder politischen Probleme lösen. Die maßgeblichen Kräfte für die Beendigung von Autokratien und für die Entwicklung von Demokratien sind die Akteure und Akteurinnen, also die Bürger_innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen, Regierungen sowie relevante Elitengruppen. Die neuen Medien bilden lediglich die Kanäle dafür.
Drittens: Im Zuge der Arabischen Umbrüche haben wir das Internet vor allem als Medium zur Mobilisierung und zur Organisation von Protest erlebt. Dieser Protest hatte in diesen Fällen – in Tunesien, Ägypten, Jemen etc. – das Ziel, autoritäre Regime zu beenden und Demokratien einzurichten. Aber die Möglichkeit, über das Internet Menschen zu mobilisieren und Proteste zu organisieren, kann auch zu anderen als demokratischen Zwecken genutzt werden. Die besondere Wirkung digitaler Medien besteht darin, bereits vorhandene Stimmungen und Ziele schneller und breiter bekannt zu machen, mobilisierte Bürger schneller und effektiver zu vernetzen und die Organisation von Protesten zu beschleunigen oder zu vereinfachen. Es gibt jedoch keinen Automatismus, dass digitale Medien – auch in der Zukunft – nur Demokratie fördernde oder Demokratie konforme Wirkungen haben. Man muss künftig nicht ausschließen, dass sich auch nicht wohlmeinende Gruppierungen oder Einzelpersonen Youtube, Facebook und Twitter bemächtigen, um ihre Botschaften zu lancieren, noch dazu, wenn sie sich einer ähnlichen Wirkung wie zurzeit sicher sein können.
Viertens: Die digitalen Medien – auch wenn sie über die Grenzen wirken und transnational sind – sind immer Teil eines nationalen Mediensystems, das auch aus traditionellen Medien besteht und die eine entscheidende Filter- und Transmitterfunktion für die in Web 2.0-Medien generierten Inhalte spielen. Daher muss auch das Zusammenspiel von neuen sozialen Medien und den klassischen elektronischen und Printmedien betrachtet werden, um die Wirkung einordnen zu können. So spielte der Fernsehsender Al-Jazeera im arabischen Frühling eine wichtige Rolle, weil er Facebook-Quellen über die Landesgrenzen hinweg einer breiten regionalen und auch internationalen Öffentlichkeit publik gemacht hat. Im Falle des Schmäh-Videos „Innocence of Muslims“ war es der salafistische Fernsehkanal Al-Nas, der Ausschnitte des Videos in arabischer Sprache in einer Talkshow einblendete; aus dieser Talkshow wurde dann ein Clip auf Youtube hochgeladen und erst dann fand das Video die bekannte Verbreitung.
Es bleibt die Frage, was neue Medien und hierbei insbesondere Web 2.0-Medien in Bezug auf politische Veränderungsprozesse tatsächlich bewirken können, und zwar nicht nur in Bezug auf den Sturz von Autokratien und den demokratischen Umbruch, sondern auch in Bezug auf eine Konsolidierung und nachhaltige Stabilisierung von Demokratien. Dieser Forschungsfrage widmet sich die Forschungsgruppe Internet und Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim. Dabei ist es angezeigt, weder in eine netzoptimistische Sichtweise zu verfallen, die das Internet auf eine Rolle des politischen Fortschritts festlegt, noch eine netzpessimistische Sichtweise zu vertreten, die einem Defätismus folgt, der das Internet als unkontrollierbares Werkzeug des Rückschritts verteufelt. Wichtig ist ein Netzrealismus, der sich die Ambivalenz des Mediums Internet vor Augen führt.
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