Physik: Fast lichtschnell durch Hildesheim

Donnerstag, 16. August 2018 um 19:26 Uhr

Wie wäre es, wenn wir uns fast so schnell wie das Licht durch Hildesheim bewegen? Mit Computersimulationen erweitern Physikerinnen und Physiker der Universität Hildesheim unseren Erfahrungsraum. Ein Gespräch mit Professorin Ute Kraus über physikalische Phänomene und Aufgaben der Physikdidaktik.

Etwa 2000 Schülerinnen und Schüler aus  Hildesheim und der Region haben sich seit 2009 im Schülerlabor „Raumzeitwerkstatt" der Universität Hildesheim mit der Relativitätstheorie auseinandergesetzt. „Die Relativitätstheorie ist abstrakt, deshalb nutzen wir Modelle und Computersimulationen“, sagt Physikprofessorin Ute Kraus. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut für Physik entwickeln die Modelle und Simulationen gemeinsam mit Studentinnen und Studenten. Für einen relativistischen Flugsimulator bauen sie Hildesheim in einer virtuellen Welt nach – der Marktplatz ist bereits fertig.

Seit einem Jahr ist nun im Schülerlabor der Flugsimulator im Einsatz, den der Doktorand Stephan Preiß und der Physiker Dr. Corvin Zahn gemeinsam mit Studierenden aufgebaut haben: Ein Raumschiff steht im Keller des Universitätscampus. Man sitzt in der Mitte am Steuerpult, um einen herum sind Bildschirmflächen, die ein 270 Grad-Blickfeld ermöglichen. Dann geht die Reise los – fast lichtschnell bewegt man sich durch Hildesheim und kann Einsteins Relativitätstheorie mit eigenen Sinnen erfahren: Wie wäre es, wenn wir uns mit fast Lichtgeschwindigkeit durch Hildesheim bewegten? Die Physiker können auch Dinge, die eigentlich weit weg sind, nah heran holen, zum Beispiel Schwarze Löcher oder Pulsare. Mit den Computersimulationen kann der Erfahrungsraum erweitert werden. Die Physiker möchten Jugendliche verblüffen und für Physik begeistern.

Prof. Dr. Ute Kraus forscht und lehrt seit zehn Jahren als Professorin für Physik und ihre Didaktik am Institut für Physik der Universität Hildesheim. Zu ihren Forschungsgebieten zählen die Astrophysik und die Didaktik der Relativitätstheorie sowie relativistische Visualisierungen.

Im Interview spricht Ute Kraus über die Arbeit in der Hildesheimer „Raumzeitwerkstatt“ und die Bedeutung der fachlichen Qualifikation von Physiklehrerinnen und Physiklehrern.

Interview mit der Physikerin Prof. Dr. Ute Kraus

Sie haben in Hildesheim die „Raumzeitwerkstatt“ aufgebaut, ein Schülerlabor, das Schulklassen aus Hildesheim und der Region besuchen. Wie ist die „Raumzeitwerkstatt“ organisiert?

Seit 2009 besuchen Schulklassen das Schülerlabor des Instituts für Physik, unsere „Raumzeitwerkstatt“. Das Schülerlabor ist in die Lehre an der Universität eingebettet. Jedes Semester findet ein fachdidaktisches Seminar mit Unterrichtspraxis statt. Im Rahmen dieses Seminars betreuen Physikstudentinnen und Physikstudenten die Schülerinnen und Schüler im Schülerlabor. Das Schülerlabor ist nie fertig – die Studierenden entwickeln immer neue Stationen im Rahmen ihrer Abschlussarbeiten, erproben und verbessern diese – dann stellen wir das Material, wenn es richtig gut ist, online sowie auf Fortbildungen Lehrerinnen und Lehrern zur Verfügung.

Wie arbeiten Sie im Schülerlabor?

Schauen wir uns zum Beispiel einmal das Äquivalenzprinzip an – alle Körper fallen gleich schnell. Wir beginnen in der Raumzeitwerkstatt mit einfachen Fallexperimenten: ein Medizinball und ein Tennisball werden auf gleicher Höhe gehalten. Dann fragen wir die Schüler: Wenn ich die beiden Bälle gleichzeitig loslasse, welcher Ball kommt zuerst unten an? Fast alle sagen: klar, der Medizinball! Tatsächlich erreichen der Medizinball und der Tennisball aber gleichzeitig den Boden. Das ist eine grundlegende Erkenntnis über Schwerkraft: Die Fallbewegung hängt nicht von der Masse des Objekts ab. Das ist ein Fundament der allgemeinen Relativitätstheorie – von da aus arbeiten wir uns weiter vor. Nach dem Fallexperiment kommen weitere Experimente, Modelle und Konstruktionen zum Einsatz, die schließlich einen Bogen spannen vom einfachen Fallexperiment bis hin zur Lichtablenkung im Schwerefeld. Die Themen sind zwar kompliziert, die Jugendlichen sind aber sehr aufgeschlossen und haben keine Berührungsängste vor neuen physikalischen Phänomenen.

„Wir nutzen Computersimulationen, um Phänomene in den Alltag zu bringen, die eigentlich weit weg von uns sind“

Wie erklären Sie Schülerinnen und Schülern in der „Raumzeitwerkstatt“ die Relativitätstheorie anschaulich und zugleich fachlich fundiert?

Die Relativitätstheorie ist schwierig, weil sie abstrakt ist und zur Alltagserfahrung nicht passt. Wir können diese Alltagserfahrung auch nicht bieten, aber wir können sie simulieren. Das heißt, wir arbeiten mit Computersimulationen, mit denen wir die Erfahrungsmöglichkeiten erweitern. Angenommen, wir könnten mit annähernder Lichtgeschwindigkeit durch Hildesheim fliegen – was würden wir sehen? In der Praxis können wir diese Erfahrung nicht machen, in der Simulation schon. Wir nutzen Computersimulationen auch, um Phänomene in den Alltag zu bringen, die eigentlich weit weg von uns sind – wir fliegen zu Schwarzen Löchern und schauen uns dort um. Und wir arbeiten zweitens mit Modellen. Dabei muss man wissen: Die allgemeine Relativitätstheorie ist eine Theorie der Gravitation. Ihre zentrale Aussage ist: Gravitation ist Geometrie. Geometrie kann man schön veranschaulichen. Jeder kann sich Dreiecke und Vierecke, eine gekrümmte Fläche und eine ebene Fläche vorstellen. Wir haben ein geometrisches Vorstellungsvermögen – aber das müssen wir jetzt erweitern, weil wir zum Verständnis der Relativitätstheorie gekrümmte Räume statt Flächen sowie Raumzeiten benötigen. So kommen wir im Schülerlabor ohne Rechnungen aus, in den Modellen steckt aber die ganze komplexe Theorie.

Selbst manchen Erwachsenen fehlt das physikalische Verständnis – was erleben Sie in der Raumzeitwerkstatt, wie ernsthaft und intensiv setzen sich Jugendliche mit Physik auseinander?

Die Jugendlichen sind sehr interessiert – über vier Stunden mit einer kurzen Pause dazwischen arbeiten sie sehr konzentriert im Schülerlabor. Die Themen sprechen die Jugendlichen sehr an – wie expandiert das Universum, was ist ein Schwarzes Loch und was  ist ein Wurmloch?  Wir versuchen an vielen unserer Stationen, die Jugendlichen zum Staunen zu bringen. Sie erleben im Flugsimulator und in Experimenten Dinge, die sie nicht erwartet haben. Das ist unser Einstieg. Dann zeigen die Jugendlichen Offenheit und sind bereit für eine Erklärung. Wir möchten, dass Physik und die Beschäftigung mit anspruchsvollen Themen ihnen Freude macht – deshalb sausen die Jugendlichen im Simulator – in unserer „Cave“ – durch Hildesheim.

„Wir haben eine Art Raumschiff am Universitätscampus aufgebaut“

Auf welcher Theorie basiert der Flugsimulator?

Auf der speziellen Relativitätstheorie. Wir haben eine Art Raumschiff am Universitätscampus aufgebaut, mit dem man fast lichtschnell durch Hildesheim fliegen und Einsteins Relativitätstheorie mit eigenen Sinnen erfahren kann. Man sitzt in einem Raumschiff mit Joystick inmitten einer großen kegelförmigen Leinwand, um einen herum sind Bildschirmflächen, die ein 270 Grad-Blickfeld ermöglichen. Den Flugsimulator entwickelt  der Doktorand Stephan Preiß. Wir haben unter Beteiligung von Studierenden als virtuelle Welt einen Teil von Hildesheim im Computer modelliert. Der Simulator simuliert was wir sehen würden, wenn wir fast so schnell wären wie das Licht. Man erkennt, dass die Umgebung verzerrt aussieht, man sieht Wölbungen und Verlängerungen in die Tiefe. Wenn man beschleunigt, hat man den Eindruck, alles rutscht von einem weg.  Mit der Simulation kann man auch Phänomene zeigen, die wirklich in der Astronomie beobachtet werden, etwa die „überlichtschnellen Quasar-Jets“. Quasare sind leuchtkräftige Quellen in den Zentren von Galaxien, die Jets ausstoßen. Man kann messen, wie weit die Quasare weg sind und wie schnell sich die Jets über den Himmel bewegen – wenn man das tut, kommt man zu dem Ergebnis, dass die Jets Überlichtgeschwindigkeit haben. Nun besagt aber die spezielle Relativitätstheorie,  dass sich kein Objekt schneller als Licht bewegen kann – das ist also ein Widerspruch. Das Problem kann man als optische Täuschung entlarven; der Jet ist in Wirklichkeit doch nur fast so schnell wie das Licht. Diese optischen Täuschungen sind in unseren Simulationen auch zu sehen. Mit den Prinzipien, die die Jugendlichen in der Simulation erfahren, können sie also echte astronomische Probleme verstehen. Was uns gefällt ist, wenn wir den Schülern etwas zeigen können, was sie verblüfft. Aus dieser Neugierde wächst die Motivation, sich ernsthaft mit den anspruchsvollen physikalischen Phänomenen zu befassen.

Welche Bedeutung hat in der Physikdidaktik der Einsatz von digitalen Technologien, etwa Computersimulationen? Sehen Sie im digitalen Wandel für die Physikdidaktik Chancen?

Physik ist eine computeraffine Wissenschaft und ich erstelle  seit 25 Jahren Computersimulationen mit didaktischen Zielen. Der digitale Wandel, der jetzt verstärkt diskutiert wird, ist in der Physik schon lange da. Was wir aber heute bemerken, ist, dass Schulen besser ausgerüstet werden und das ist ein großer Vorteil. Computersimulationen setzen wir zur Erfahrungserweiterung ein, aber Computer ersetzen reale Erfahrungen nicht. Wir kombinieren Modelle, die man in der Hand hält, greifen und begreifen kann, mit  Computermodellen. Der Computer liefert uns zusätzliche Möglichkeiten, die wir mit  Pappmodellen nicht haben; wenn es komplexer wird, gehen wir deshalb zum Rechner über. Wir untersuchen in der Forschung, wie Schüler an Modellen lernen können, wie der Übergang von den Pappmodellen zum Computer gestaltet werden kann und ob sich das Verständnis gleich gut entwickelt. Wir setzen, vor allem für jüngere Schüler, sehr auf die Anschauung, weniger auf abstrakte Ideen.

Was fasziniert Sie an physikalischen Phänomenen und Theorien, etwa der Relativitätstheorie von Einstein?

Ich mag an der Physik die mathematische Naturbeschreibung. Ich finde es beeindruckend, wie mit sehr wenigen Grundannahmen eine Vielzahl an Phänomenen beschrieben werden kann. Die Schüler sehen bei uns im Schülerlabor nur die Modelle und die Veranschaulichung, aber wir Lehrenden im Hintergrund sehen auch die Theorie. Hinter den Modellen und Visualisierungen steckt die volle Theorie: wir wählen geeignete Parameter aus und lösen die Gleichungen, zumeist numerisch. Dieser theoretische Teil macht mir auch viel Freude.

„Zunächst nutzte ich die Visualisierungen nur zur Kontrolle der Datenkolonnen. Dann habe ich festgestellt, dass Bilder viel erklären und Neugierde beim Betrachter wecken“

Wie sind Sie zur Physik gekommen?

Ich komme aus der theoretischen Physik, habe in der theoretischen Astrophysik promoviert und Modellrechnungen zu Röntgenpulsaren – Neutronensterne, die Röntgenstrahlen aussenden – erstellt. Da kam die Relativitätstheorie ins Spiel, denn ich musste das Modell so berechnen, das alle relativistischen Effekte berücksichtigt sind. Dann habe ich angefangen, Bilder und Filme zu rechnen. Erst einmal zur Kontrolle, weil man am Bild oft leichter sieht, ob ein Ergebnis plausibel ist, als wenn man Datenkolonnen anschaut. Dann habe ich festgestellt, dass die Bilder schön sind, viel erklären und Neugierde bei Betrachtern hervorrufen. So kam ich zur Vermittlung physikalischer Phänomene.

Seit zehn Jahren forschen und lehren Sie als Professorin für Physik und ihre Didaktik an der Universität in Hildesheim und bilden Physiklehrerinnen und Physiklehrer aus. Was geben Sie den künftigen Lehrern mit auf den Weg?

Die Freude am Fach ist wichtig. Das ist aber etwas, was bei jedem Lehrer aus dem Inneren heraus kommen muss. Was mir sehr wichtig ist, ist die Fachausbildung. Eine unserer wichtigen Aufgaben  ist es, Studentinnen und Studenten darin zu begleiten, eine physikalische Denkweise zu entwickeln. Fachwissen, insbesondere Grundlagenwissen, wird später kaum mehr in Fortbildungen angeboten, da überwiegt die Fachdidaktik. Ich würde mir wünschen, dass die Fachwissenschaft mehr Raum in der Lehrerausbildung erhält. Mit der Reform „GHR 300“ und der Verlängerung des Lehramtsstudiums wurde der fachliche Anteil leider nicht erhöht, das bedauere ich.

„Mechanik, Quantentheorie, Atomphysik – die Fachwissenschaft sollte mehr Raum in der Lehrerausbildung erhalten“

Mit welchen physikalischen Grundlagen beschäftigen sich die Studentinnen und Studenten?

Die Studieninhalte reichen von Mechanik, Wärme und Elektrizität über Optik und Magnetismus bis zu Relativitätstheorie, Quantentheorie, Atomphysik und Kernphysik. Das ist der Standard. Aber der Zeitraum für die Fachausbildung ist knapp. Die größte Schwierigkeit ist, die richtige Auswahl zu treffen – es gibt Stellen, wo das Weglassen weh tut.

Mit den „Einsteintagen“ erreichen Sie seit vielen Jahren Lehrerinnen und Lehrer aus der Region – welches Ziel verfolgen Sie mit dieser Lehrerfortbildung?

Wir entwickeln am Institut Lehrmaterial und erproben die Modelle und Experimente in der „Raumzeitwerkstatt“ – diese Entwicklungen möchten wir an die Schulen weitergeben. In Lehrerfortbildungen in Hildesheim und bundesweit stellen wir unsere Ergebnisse vor. Zudem geben wir über unsere Webseite (www.tempolimit-lichtgeschwindigkeit.de) seit vielen Jahren  Materialien weiter, die für den Unterricht frei zugänglich sind – Arbeitsblätter, Konstruktionsvorlagen, Anleitungen für den Modellbau.

Sie organisieren aktuell eine internationale Konferenz zur Vermittlung der Relativitätstheorie.

Gemeinsam mit Corvin Zahn bereite ich aktuell ein internationales englischsprachiges einwöchiges Seminar vor, gefördert von der Heraeus-Stiftung. Die Vortragenden kommen aus vielen Ländern –  unter anderem aus Australien, Südkorea, USA,  Norwegen und Deutschland. Im Februar 2019 werden im Physikzentrum in Bad Honnef Physikdidaktiker, Physiker und Schulpraktiker diskutieren, wie man die Relativitätstheorie in der Schule und an der Universität lehren kann.

Die Fragen stellte Isa Lange.

Veranstaltungstipp: Am Samstag, 18. August 2018, spricht der Hildesheimer Physiker Dr. Corvin Zahn über Einsteins Relativitätstheorie. Nach dem Vortrag können Sie sich im Flugsimulator mit Rundumprojektionsleinwand am Institut für Physik fast so schnell wie das Licht durch Hildesheim bewegen. [Details zur Veranstaltung]


Professorin Ute Kraus forscht und lehrt seit zehn Jahren als Professorin für Physik und ihre Didaktik am Institut für Physik der Universität Hildesheim. Im Schülerlabor ist ein Flugsimulator im Einsatz, um Einsteins Relativitätstheorie in Computersimulationen zu veranschaulichen. Die Physikerinnen und Physiker arbeiten zudem mit Modellen, um etwa gekrümmte Raumzeit zu beschreiben, von oben nach unten: Euklidischer Raum, Schwarzes Loch, Neutronenstern. Modelle stellt das Physikinstitut mittels Computergrafik dar oder als gegenständliche Modelle aus Pappklötzchen. Foto: Isa Lange, Visualisierungen: Institut für Physik/Uni Hildesheim

Professorin Ute Kraus forscht und lehrt seit zehn Jahren als Professorin für Physik und ihre Didaktik am Institut für Physik der Universität Hildesheim. Im Schülerlabor ist ein Flugsimulator im Einsatz, um Einsteins Relativitätstheorie in Computersimulationen zu veranschaulichen. Die Physikerinnen und Physiker arbeiten zudem mit Modellen, um etwa gekrümmte Raumzeit zu beschreiben, von oben nach unten: Euklidischer Raum, Schwarzes Loch, Neutronenstern. Modelle stellt das Physikinstitut mittels Computergrafik dar oder als gegenständliche Modelle aus Pappklötzchen. Foto: Isa Lange, Visualisierungen: Institut für Physik/Uni Hildesheim

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