Guten Tag und herzlich willkommen in Hildesheim, Frau Professorin Kluge – wir kennen uns noch nicht und die Anrede gehört zum ersten Eindruck, der bei einer Begegnung entsteht. Habe ich den richtigen Weg gewählt?
Guten Tag, Frau Lange, vielen Dank für die Einladung zum Gespräch. Aus meiner Sicht haben Sie bei der Begrüßung alles richtig gemacht. Wobei es ja unterschiedliche Ansichten gibt, ob Berufsbezeichnungen in der Anrede feminisiert werden sollten oder nicht, also Frau Professor oder Frau Professorin. Meinetwegen reicht auch schlicht und einfach Frau Kluge!
Was sagt die Wahl der Anrede über die Person aus, die sie ausspricht? Und was verrät sie über die Beziehung des Verfassers zum Adressaten?
Menschen haben viele Möglichkeiten, einander anzuzeigen, wie sie die Beziehung zueinander charakterisieren wollen, wir nennen das „relational work". Die Anrede ist aber einer der sensibelsten Bereiche, gerade weil sie häufig nur mit Mühe zu vermeiden ist. Solche Fälle haben Sie bestimmt auch schon erlebt, wenn man mit allen Kräften versucht, die Anrede zu vermeiden, weil man nicht weiß, ob man jemanden duzen oder siezen soll? Dann fällt man häufig in einen Nominalstil, der auch nicht schön ist und häufig unpassend wirkt.
Hallo, Sehr geehrte, Verehrter, Guten Tag, Liebe, Grüß Gott, Du, Sie – wir haben eine Vielzahl von Anreden im Deutschen, die wir je nach Anlass verwenden. Welche Herausforderung besteht denn im Gespräch zwischen Menschen, die unterschiedliche Herkunftssprachen haben?
Lassen Sie mich das Englische als Beispiel nehmen, das ist ja in der Unternehmenskommunikation inzwischen eine sehr häufige Sprache, auch in Situationen, wo manchmal keine Muttersprachler des Englischen anwesend sind. Anders als im Deutschen gibt es im heutigen Englisch nur ein Anredepronomen: you. Viele glauben daher, dass Englisch einfach sei und man nichts falsch machen kann; ich kenne Kollegen, die deswegen auf internationalen Tagungen andere Kollegen auf Englisch begrüßen, weil sie so hoffen, sich um die Frage „du oder Sie?“ herum zu mogeln. Aber da soll man sich nicht täuschen: es gibt im Englischen einen großen Unterschied in der sogenannten nominalen Anrede, die dann doch wieder die sozialen Beziehung zueinander klarstellt. Ob beispielsweise Angela Merkel den Präsidenten der Vereinigten Staaten mit Mr. President, Mr. Obama, Barack oder gar Barry anredet, macht einen großen Unterschied!
Aber auch innerhalb ein und derselben Sprache kann es sehr große Unterschiede in der Anrede geben, die bereits zwischen Sprechern unterschiedlicher Varietäten zu Konflikten führen kann: während zum Beispiel die US-Amerikaner dafür berühmt-berüchtigt sind, baldmöglichst den Vornamen zu verwenden, ist das im britischen Englisch nicht der Fall. Ähnlich auch im Deutschen, wie unsere Kollegen aus Melbourne herausgefunden haben: so kann man offenbar selbst in der Anrede zwischen West- und Ostdeutschen Unterschiede feststellen. Die Ostdeutschen duzen offenbar seltener als die Westdeutschen, und an dem Stereotyp, dass Österreicher gerne allen und jeden mit Herr oder Frau Professor anreden ist etwas dran. Titel werden sehr gerne in die Anrede integriert – wobei eine ‚Professorin‘ in Österreich bereits eine Gymnasiallehrerin ist.
Wer greift wann zu förmlichen, wann zu privateren Anreden? Und wie schnell erfolgt denn der Wechsel, etwa vom Sie zum du?
Wer sozusagen zu unserer Ingroup gehört, die wir familiärer anreden, – da gibt es sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und auch schon zwischen einzelnen Regionen. Auch innerhalb derselben Sprache gibt es Menschen, die schneller zu privateren Anreden tendieren als andere. Insofern sind Generalisierungen problematisch.
Wir beobachten große Unterschiede in der Schnelligkeit des Wechsels von einer eher förmlichen Anrede auf eine eher familiäre. In Deutschland dauert es manchmal ja ewig, bis man sich zu duzen beginnt. Auch wenn das Ritual des Bruderschafttrinkens offenbar inzwischen sehr selten geworden ist. Auf jeden Fall muss man sich unter Deutschen nach meiner Beobachtung persönlich treffen, um den Wechsel von Sie auf du durchzuziehen. In anderen Sprachen geht das auch virtuell. Wenn ich etwa Emails mit englisch- oder spanischsprachigen Kolleginnen und Kollegen austausche, landen wir sehr schnell, häufig innerhalb von drei, vier Email-Wechseln bei einer vertrauten Anrede. Dann wird aus der Muy estimada profesora Kluge (Sehr verehrte Frau Prof. Dr. Kluge) in der ersten Mail sehr bald ein Hola Bettina (Hallo Bettina).
Und dann gibt es in einigen Sprachen, wie etwa dem Spanischen, die Möglichkeit, dass man ein und dieselbe Person mit unterschiedlichen Anredepronomen anredet. In vielen lateinamerikanischen Ländern ist es möglich und üblich, in emotionalen Ausnahmezuständen die Anrede zu wechseln: ärgert sich eine Mutter beispielsweise über ihre Tochter und will sie ausschimpfen, kann sie sie kurzfristig mit usted (also Sie) anreden. Das ist das sogenannte usted de enojo (Sie der Wut). Aber es gibt auch ein usted de cariño (Sie der Zärtlichkeit): wenn man jemanden zeigen möchte, wie unglaublich gern man jemanden hat, kann man von tú oder vos auf usted wechseln. Im Deutschen ist das eher unüblich, am ehesten noch, wenn man im Spaß gute Freunde mit Na, Frau Kollegin? anredet, obwohl man sie sonst duzt.
Wie untersuchen Sie eigentlich das Anredeverhalten, wie geht man methodisch vor?
Früher wurde viel mit Fragebögen gearbeitet, die sind schnell zu verteilen und man kann sie schnell auswerten. Inzwischen wissen wir aber, dass Menschen hier häufig nur die Formen angeben, von denen sie glauben, dass sie sie verwenden. Aber gerade so ein kurzfristiger Wechsel aus emotionalen Gründen wie das eben beschriebene usted de enojo – das würde niemals in einem Fragebogen bewusst genannt. Am ehesten noch, wenn man konkrete Beispiele gibt und die Informanten nach der Akzeptabilität der Daten befragt. Heutzutage arbeitet man stattdessen häufig mit einem Methoden-Mix: neben den Fragebögen gibt es auch Gruppendiskussionen und natürlich die Analyse von Aufnahmen von Gesprächen. Und auch literarische Werke (Romane und Spielfilme) werden hinzugezogen – wobei man sich hierbei immer sehr bewusst sein muss, dass es sich um fiktive Daten handelt. Aber natürlich wollen etwa Drehbuchschreiber, dass ihre Figuren authentisch wirken. Insofern wird die Anrede auch im Film und in literarischen Werken häufig der „realen" entsprechen. Nur, wir wissen es nicht genau und müssen daher vorsichtig sein.
Mittlerweile schwirren Massen an E-Mails durch die Gegend. Der länderübergreifende Austausch ist mit dem Internet oder sozialen Netzwerken wie facebook und Twitter möglich. Wo liegen die Herausforderungen, den richtigen Ton zu treffen?
In der computervermittelten Kommunikation gibt es ja unterschiedliche Formen der Adressierung. Wenn ich eine Email an eine mir genau bekannte Person schicke, mit der ich mich offline auf eine Anrede geeinigt habe, dann ist das ja völlig problemlos. Schwieriger sind die Fälle der sogenannten Mehrfachadressiertheit, wenn Menschen nicht genau wissen, wer der Adressat ihrer Netzbotschaft ist Einige Adressaten würde man vielleicht duzen, andere siezen. Da kann man sich teilweise in die pluralische Anrede ihr retten. Schwierig ist auch der Fall, wenn Personen miteinander diskutieren, die sich nicht persönlich kennen, zum Beispiel in Onlineforen oder in der Kommentarfunktion von Zeitungsartikeln. Da kommt es in vielen Fällen darauf an, wie ein User sich präsentiert, ob er sich etwa in einem Forum zum „guten Gebrauch des Deutschen“ als Deutschlehrer (und also als Experte) darstellt. Aber auch auf die jeweilige Norm auf der Website – da haben sich häufig über die Jahre Normen herausgebildet, ob die Leser einander eher duzen oder siezen.
Während des Workshops des neuen Netzwerks „International Network of Address Research“ (INAR) Mitte Juni in Hildesheim, werden Forscher Einblicke in aktuelle Studien geben. Darunter auch Maher Tyfour. Der syrische Doktorand an der Uni Hildesheim untersucht in seinem Vortrag, wie Menschen in sozialen Netzwerken sich öffentlich an Menschen mit Macht richten. Dafür analysiert er Korpusdaten aus der Facebook-Timeline des syrischen Präsidenten seit 2013 bis heute. Was wird in der Untersuchung deutlich?
Maher Tyfours Daten sind sehr interessant, allein schon weil es zur Anrede im Arabischen sehr wenig gibt. Die am besten untersuchten Sprachen sind die westeuropäischen, insbesondere Englisch, Deutsch, Spanisch. Ich selbst habe zur Anrede im Spanischen einen Sammelband mit 1400 Seiten mit herausgegeben, der unter anderem die Forschungslage zur Anrede in den 22 Ländern, in denen Spanisch gesprochen wird, umfassend dokumentiert. Aber leider gibt es sehr viele Sprachen auf der Welt, wo wir so gut wie gar nichts über das Anredeverhalten wissen. Und ich bin überzeugt, dass gerade die Erforschung dieser Sprachen noch einige Überraschungen bietet. So hat mich Maher darauf aufmerksam gemacht, dass es im Arabischen unter Familienmitgliedern üblich ist, in der Anrede die Familienbeziehung anzugeben, aber: aus der Sicht des Angeredeten! Wenn sein Vater anruft, dann sagt der Vater zum Beispiel zur Begrüßung: „Wie geht es dir Vater?“ – und nicht: „Wie geht es dir, Maher?“ oder „Wie geht es dir, mein Sohn?“. Ist das nicht toll? Also, ich habe das erste Mal unglaublich gestaunt, als mir zunächst eine Studentin davon erzählte und er mir dann das Phänomen bestätigt hat.
Zurück zu Maher Tyfours Daten: Ich bin sehr gespannt auf seinen Vortrag, die Anreden an Assad, die er auf der Facebookseite dokumentieren konnte, sind sehr kreativ und spielen in unterschiedlichster Form auf den Präsidenten an. Etwa wenn er als Löwe bezeichnet wird (als Anspielung auf seinen Vornamen), als Doktor (weil er ja vor seiner Rückkehr nach Syrien Augenarzt in London war) oder auch als Krone unserer Köpfe. Die Verwendung von einzelnen Anreden kann einem Insider wie Maher Tyfour auch anzeigen, welchen ethnischen, sozialen und politischen Hintergrund diejenigen haben, die auf der Website ihre Lobeshymnen auf Assad hinterlassen. Denn natürlich sind es vor allem seine Anhänger, die sich hier öffentlich äußern und so auch anderen zeigen, was sie von ihm halten. Maher Tyfour ist Doktorand an der Uni Hildesheim und arbeitet derzeit an seiner Dissertation im Bereich audiovisuelle Übersetzung bei Professorin Christiane Maaß.
Ein Ausblick: Sie sind seit Ende 2013 Professorin an der Universität Hildesheim. Mit welchen Forschungsfragen befassen Sie sich zum Beispiel, wo möchten Sie gerne anknüpfen?
In meiner Habilitationsschrift habe ich in gewisser Weise einen komplementären Bereich untersucht, das generische du – also ein du, das gerade keine Anrede ist, sondern einen verallgemeinernden Bezug hat und mehr oder minder synonym zu man ist. Hier plane ich ein Projekt mit einer belgischen Kollegin, in dem wir sprachvergleichend analysieren wollen, welche Verallgemeinerungsstrategien im Englischen, Spanischen und Französischen existieren und wie sich ihre Frequenz in unterschiedlichen Textsorten unterscheidet. Das ist natürlich auch für Übersetzungswissenschaftler interessant. Ferner will ich analysieren, wie Anredeformen und das verallgemeinernde du übersetzt werden; dafür plane ich eine größere korpusgestützte Analyse von Romanen und Spielfilmen.
Und ein anderes meiner Interessen betrifft seit den Zeiten meiner Promotion die Migrationslinguistik: hier habe ich mit meiner ehemaligen Chefin Barbara Job ein gemeinsames Projekt, in dem wir die Blogs von spanisch- und französischsprachigen Menschen untersuchen, die nach Quebec auswandern oder auswandern wollen und die sich online mit anderen Migrationswilligen über ihre Erfahrungen austauschen.
Das Gespräch führte Isa Lange.
Kurzinformation zur Person
Prof. Dr. Bettina Kluge ist seit Ende 2013 Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft (Schwerpunkt: Spanisch) am Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation der Universität Hildesheim. Zuvor hat sie seit 2008 an der Universität Bielefeld im Bereich Kommunikationsanalyse und Linguistik romanischer Sprachen geforscht und eine Professur in Bremen vertreten. 2013 habilitierte sie sich mit einer Schrift über die Mehrdeutigkeit von Anredepronomen in den romanischen Sprachen. In ihrer Dissertation „Eigenes leben, eigenes reden“ hat sich die Sprachwissenschaftlerin dem Leben südchilenischer Migrantinnen in der Großstadt Santiago de Chile genähert und Identitätskonstruktionen von Frauen untersucht, die in der Hauptstadt als Hausangestellte arbeiteten. Nach der Promotion war sie sechs Jahre Universitätsassistentin im Institut für Romanistik der Universität Graz in Österreich.
Forscher diskutieren über Anredeformen
Forscher unter anderem aus Australien, Chile, den USA und mehreren europäischen Ländern stellen vom 10. bis 12. Juni 2014 Studien und ihre Forschungsarbeiten an der Universität Hildesheim vor. Das länderübergreifende Netzwerk INAR (International Network for Address Research) untersucht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Anrede in unterschiedlichen Sprachen und Varietäten einer Sprache. Das Ziel ist es, eine allgemeine Theorie der Anrede zu entwickeln, die über die bisherigen einzelsprachlichen Beschreibungen hinausgeht. Um die Vernetzung der INAR-Mitglieder untereinander zu verbessern, sind verschiedene bilaterale und multilaterale Projekte geplant. Beginnend mit dem Hildesheimer Treffen sollen im jährlichen Rhythmus Workshops und Tagungen stattfinden.
Öffentliche Antrittsvorlesung am 18. Juni
Professorin Bettina Kluge stellt sich am Mittwoch, 18. Juni 2014, in einer öffentlichen Antrittsvorlesung vor. Sie spricht ab 18:15 Uhr am Bühler-Campus der Universität Hildesheim (Aula, Lübecker Straße) über „Einige (ideologisch gefärbte) blinde Flecke der Sprachwissenschaft“. Dabei wird es um einige sehr hartnäckige Mythen und Illusionen in der Sprachwissenschaft gehen, etwa die Einsprachigkeit des Menschen oder der Illusion einer homogenen Sprache innerhalb eines Landes. Interessierte Studierende, Lehrende und Bürger sind herzlich eingeladen.