Migration und Familie: Das verwandtschaftliche Netzwerk

Freitag, 30. Januar 2015 um 09:32 Uhr

Welche Rolle die Familie während der Auswanderung und Einwanderung einnimmt, wird bisher kaum erforscht. Dabei sind es einzelne Menschen und mit ihnen Familien, die Migration durchleben. „Lange Zeit wurde übersehen, dass Migration oft ein Familienprojekt ist. Migration kann Familien auch zerreißen oder zerstören“, sagt Professorin Meike Sophia Baader am Rande der Konferenz „Migration und Familie“ an der Universität Hildesheim. Sie stellt Ergebnisse zu türkischen Migrantenfamilien in Berlin um 1970 vor.

Welche Rolle spielen die Familie und Verwandtschaft in allen Stadien des Migrationsprozesses? Wie Familien mit den Herausforderungen der Migration umgehen – vom Leben in den Herkunftsgebieten über Ursachen und Begleitumstände bis hin zum Leben in der Ankunftsregion oder Rückwanderung –darüber tauschen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Arbeitskreises „Historische Familienforschung“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft an der Universität Hildesheim aus. Die Tagung „Migration und Familie“ gibt einen Einblick in Erkenntnisse zu veränderten Familienstrukturen, Familiengedächtnissen und Generationsbeziehungen. Etwa 45 Fachleute aus Deutschland werden an diesem Wochenende erwartet.

Auf welche Ressourcen Familien zurückgreifen können und auf welche Hindernisse sie stoßen, diskutieren die Fachleute auch anhand von empirischen Studien. Christina Lokk (Hildesheim) analysiert, welche Rolle familiär-verwandtschaftliche Netzwerke in der Lebenswelt alleinerziehender Migrantinnen und Migranten spielen. Anne-Kristin Kuhnt (Duisburg-Essen) untersucht Kinderwünsche von Migranten. 7270 km über den Atlantik – Katharina Beiergrößlein (München) beschäftigt sich mit Auswirkungen von Migration auf Familie. Laura Wehr (München) befasst sich mit der Ost-West-Migration im familiären Gedächtnis von DDR-Übersiedler-Familien und nimmt dabei die Perspektive der Kinder in den Blick. Auch Alexander Walther (Jena) beschäftigt sich mit dem familiären Gedächtnis am Beispiel jugoslawischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland. Claudia Roesch (Münster) zeigt, welche Beratungsunterstützung mexikanische Einwandererfamilien im Kalifornien der 1920er Jahre erhalten. Wie in russischen Dreigenerationenfamilien in Berlin Bildung in der Familie weitergegeben wird, untersucht Ljuba Meyer (Dortmund). Mit Rückkehrentscheidungen von „reimmigrierten (Spät-) Aussiedlerfamilien in Westsibirien“ setzt sich Tatjana Fenicia (Dübendorf/Schweiz) auseinander.

Im Arbeitskreis „Historische Familienforschung“ befassen sich Fachleute unterschiedlicher Disziplinen mit der politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Lage von Familien. Die Historische Migrationsforschung hat sich bisher mit der Geschichte der Migration befasst – einer historischen Grunderfahrung des Menschen. Eine Fülle an Studien zeigt, wie Bevölkerungsgruppen wandern und siedeln – ob religiöse, ethnische, politische oder regionale Gruppen; es sind immer soziale Netzwerke.

Zur Rolle und Bedeutung der Familie während der Auswanderung und Einwanderung liegen bisher kaum Migrationsstudien aus der Familienforschung vor. Dabei sind es einzelne Menschen und mit ihnen Familien, die Migration durchleben. „Lange Zeit wurde übersehen, dass Migration oft ein Familienprojekt ist, dem die unterschiedlichsten Gründe und Motive zugrunde liegen können. Zugleich kann Migration auch Familien und Familienkonstellationen zerreißen oder zerstören“, sagt Professorin Meike Sophia Baader, die die Tagung an der Hildesheimer Universität gemeinsam mit Christin Sager und Kolleginnen und Kollegen der Universitäten Köln, Augsburg und Hamburg organisiert hat.

Baader und Sager stellen Ergebnisse aus der Forschung über sozialpädagogische Stadtteilarbeit mit türkischen Migrantenfamilien in Berlin um 1970 vor. „Bereits Anfang der 1970er Jahre gab es in West-Berlin Stadtteile mit 40 Prozent Migrantenfamilien. Es wurden pädagogische Konzepte entwickelt, wie mit Kindern aus diesen Familien pädagogisch gearbeitet werden kann, wie etwa ihr Spracherwerb oder der Übergang in die Schule unterstützt werden kann. In manchen pädagogischen Ansätzen war bereits Anfang der 1970er Jahre Integration und nicht Defizitorientierung und Rückkehr die Perspektive. Religion und religiöse Orientierung hingegen waren in dieser frühen Phase kaum ein öffentliches oder pädagogisches Thema im Zusammenhang mit Einwanderung“, sagt Meike Baader. „Bis jedoch Migration und die damit verbundenen pädagogischen Herausforderungen wirklich breiter als bildungspolitisches Thema wahrgenommen wurden, dauerte es einige Jahrzehnte bis zur Jahrtausendwende. Auch die Disziplin der Erziehungswissenschaft selbst hat das Thema erst Ende der achtziger Jahre disziplinär fest verankert.“

Die Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft erforscht unter anderem, wie in der Pädagogik der Kindheit auf gesellschaftliche und soziale Transformationen, auf veränderte Sorgeverhältnisse und auf die Herausforderungen durch Migration reagiert werden kann. An der Universität Hildesheim können Studierende im Master die Schwerpunkte „Pädagogik der Kindheit“ oder „Diversity Education“ wählen.

Die Tagung „Migration und Familie“ (Programm) findet am 30. und 31. Januar 2015 auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg der Universität Hildesheim statt. Alle Vorträge sind öffentlich.


Wie Familien mit Erfahrungen von Aus- und Einwanderung umgehen, untersucht die Erziehungswissenschaftlerin Meike Sophia Baader an der Universität Hildesheim. Foto: Julia Moras

Wie Familien mit Erfahrungen von Aus- und Einwanderung umgehen, untersucht die Erziehungswissenschaftlerin Meike Sophia Baader an der Universität Hildesheim. Foto: Julia Moras

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