Wenn der Avatar gegen Seminarraumtüren taumelt: Lernatmosphären in der virtuellen Lehre

Donnerstag, 30. September 2021 um 14:30 Uhr

Dr. phil. Anne-Elisabeth Roßa arbeitet und forscht unter anderem zur Allgemeinen Didaktik und zur Digitalisierung in der Religionslehrerausbildung. In ihren Lehrveranstaltungen bringt sie Lehramtsstudierenden nicht nur Fachwissen bei, sondern auch, wie dieses Wissen erfolgreich an Schüler*innen weitergegeben wird. Im ersten digitalen Sommersemester testete sie gemeinsam mit Studierenden einen avatarbasierten virtuellen 3D-Lernraum und andere digitale Lerntools aus. Für den Mut auch in einer digitalen Lehre ganzheitliche Lernerfahrungen zu ermöglichen, wurde sie mit dem diesjährigen Preis für hervorragende digitale Lehre ausgezeichnet.

Herzlichen Glückwunsch, Dr. Roßa! Sie wurden mit dem diesjährigen Preis für hervorragende digitale Lehre ausgezeichnet. Was macht denn eine gute digitale Lehre aus?

Dr. Roßa: Vielen Dank! Was eine gute digitale Lehre ausmacht, ist schwierig zu verallgemeinern. Für mich bedeutet gute digitale Lehre, präsente Lernsettings weiterhin im Kopf zu behalten. Egal, ob die Lerninhalte in einer Videokonferenz oder in Form von asynchronen Aufgaben vermittelt werden, sollten die Studierenden ungeachtet der digitalen Distanz immer als lernende Personen mitbegriffen werden. Beispielsweise wähle ich Aufgabenstellungen aus, die die aktuelle Lernwelt der Studierenden berücksichtigen, und setze digitale Tools ein, um die Lehr-Lern-Situationen motivierend zu gestalten. Dabei gilt jedoch nicht Methode vor Inhalt. Bei der Anwendung dieser Tools muss laufend reflektiert werden, inwiefern diese zu den Zielen der Lehrveranstaltung passen. Ich halte auch eine Transparenz über den zeitlichen Ablauf und die Lerninhalte für zentral, damit die Studierenden von Anfang an wissen, was sie in der Lehrveranstaltung erwartet und was gemeinsam erreicht werden soll. Ich suche das Gespräch mit ihnen darüber, wie es ihnen mit den Aufgabenstellungen geht und inwiefern diese leistbar sind. Zusätzlich versuche ich, mit den Studierenden gemeinsam Neues zu lernen und offen für neue Lernerfahrungen zu sein.

Sie befassen sich in Ihrer Arbeit und Forschung unter anderem mit der Didaktik und der Digitalisierung in der Religionslehrer*innenausbildung. Wie sind Sie zu diesem Forschungsfeld gekommen?

Ich war zehn Jahre in der Lehrer*innenausbildung in der Allgemeinen Didaktik tätig und habe mich im Wintersemester 2020 auf die Theologie spezialisiert. Nach meiner Promotion zum Verhältnis von Allgemeiner Didaktik und Fachdidaktik war dieser Schritt sehr bereichernd für mich. Um Religionsunterricht zeitgemäß zu gestalten, halte ich es für wichtig, die Digitalisierung in die Lehrer*innenausbildung zu integrieren. Ich hatte den Bereich Open Educational Resources, also freie Bildungsmaterialien, bereits als Ausgangspunkt für meine Forschung gewählt und thematisch in meine Lehre im Wintersemester integriert. Beispielsweise haben die Studierenden gelernt, was freie Lizenzen sind und wie sie selbst digitale Materialien, Erklärvideos oder Hörspiele erstellen können. Die Idee war, digitale Tools kennenzulernen, was dann durch die Corona-Pandemie sehr beschleunigt wurde. Ich musste diese Tools schrittweise vor den Studierenden kennenlernen und habe mich schnell dafür begeistert. Nach den ersten Erfahrungen mit der Lehre über Videokonferenzen, kam für mich die neue Forschungsfrage auf, inwiefern sich solche digitalen Lernräume attraktiv gestalten lassen und wie es gelingen kann, positive Lernatmosphären im digitalen Raum herzustellen.

"Beim Betreten des Raumes startet man im Außenbereich, hört die Vögel zwitschern, sieht eine Alpenlandschaft und hat das Gefühl, im Urlaub zu sein."

Was ist ein avatarbasierter virtueller Lernraum und wie sind Sie auf die Idee gekommen, diesen in Ihre Lehre zu integrieren?

Begleitend zur Praxisphase sollte ein Blockseminar angeboten werden, wo die Frage aufkam, wie die fehlende Präsenzerfahrung kompensiert werden kann. Nach etwas Recherche bin ich auf den sogenannten WBS LearnSpace 3D gestoßen, der aufgrund der Pandemie ein Semester lang kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Das ausprobieren zu können war eine tolle Erfahrung, weil diese Welt und die Avatare sehr detailliert abgebildet sind. Die Avatare haben einen kompletten Körper, der sich individuell gestalten lässt und mit dem man sich per Maus oder Tastatur in der virtuellen Welt bewegen kann. Beim Betreten des Raumes startet man im Außenbereich, hört die Vögel zwitschern, sieht eine Alpenlandschaft und hat das Gefühl, im Urlaub zu sein. Die erste Tücke ist dann, das Gebäude zu betreten, ohne gegen die Tür zu laufen oder anderen beim Sprechen den Rücken zuzukehren. Über solche komischen Situationen lässt sich herzlich lachen, als wäre etwas Amüsantes im echten Leben passiert, was das Eis brechen kann. Die Welten verschwimmen, wodurch man sich traut, informeller miteinander zu sprechen, was nach meinem Empfinden eine Sehnsucht der Studierenden ist. In diesem LearnSpace hat jeder*r ein eigenes Büro, man kann auf der Dachterrasse sitzen oder in verschiedene Seminarräume gehen. Je näher sich der eigene Avatar an andere heranbewegt, desto deutlicher sind die Gespräche zu hören.

Sind diese virtuellen Welten vergleichbar mit einem Computerspiel?

Dr. Roßa: Ja, genau. Das ist einer der Attraktivitätspunkte dieser virtuellen Lernwelten. Es ist so, wie man auch in ein Computerspiel eintaucht. Wobei diese Welten vorwiegend einen Adventure-Game-Charakter haben. Der Fokus liegt darauf, sich mit dem Avatar in der Welt zu bewegen, dort viele Sachen zu entdecken und miteinander zu kommunizieren. Es gibt andere Welten, bei denen der Spielcharakter mehr im Vordergrund steht und die zum Beispiel an Minecraft angelehnt sind. Bei denen wird das Lernen spielerisch mit einem Punktesammeln verknüpft, wobei häufig die Inhaltsvermittlung hinter dem Spielen zurücktritt und das Zurechtfinden mit der Steuerung etwas mehr Zeit benötigt. 

Wie integrieren Sie im aktuellen Semester virtuelle Lernräume in Ihre Lehre und Forschung?

Ich probiere derzeit virtuelle Lernräume aus, die als Open Source Angebote existieren. Sie haben häufig nicht dieselbe Liebe zum Detail wie kostenpflichtige Angebote, aber vergleichbare Funktionen. Diese virtuellen Räume lassen sich selbstständig gestalten. Es gibt Projektionsflächen für Präsentationen oder Arbeitsergebnisse und die Studierenden können die einzelnen Elemente vergleichbar mit einem Museumsbesuch entdecken. Das Wichtige ist, dass beim Betreten ein realitätsnahes Raumgefühl entsteht, wie wir es aus unserer wirklichen Welt kennen. Langfristig möchte ich erforschen wie viel Ästhetik zum Beispiel der Avatar braucht, damit die Immersion, also das Sich-Hineinversetzen, funktioniert und welchen Mehrwert dies für die Kommunikation hat. Dieses Semester möchte ich gemeinsam mit Studierenden ausprobieren wie virtuelle Räume aufgebaut sein müssen, um darin unterrichten zu können.

"Ganzheitlich zu erleben, geht digital nicht. Da ist eine Grenze."

Warum ist es für Sie besonders wichtig, auch in Ihren digitalen Lehrveranstaltungen in diesen persönlicheren Kontakt mit den Studierenden zu treten?

Die Religionslehrer*innenausbildung bildet für den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an der Schule aus. Gleichzeitig sind religiöse Lehr- und Lernprozesse auf ganzheitliches Lernen ausgerichtet. Normalerweise würden wir zum Beispiel Bodenbilder mit Legematerial gestalten, um mit unterschiedlichen Kanälen, also dem Hören, Sehen, Fühlen, Riechen, zu lernen. Etwas in dieser Form ganz zu erleben, geht digital nicht. Da ist eine Grenze. Wir haben deshalb den Studierenden Briefe mit einer Geschichte und kleinen Aufgaben geschickt, so sollten sie zum Beispiel selbst Naturmaterialien sammeln und daraus ein eigenes Bodenbild gestalten. Aufgabenstellungen, die nah an der Lebenswelt der Studierenden und persönlich bedeutsam sind, ermöglichen, das Erlebte zu reflektieren und in der Schule anwenden zu können. In Videokonferenzen spielen wir als Anfangsritual eine musikalische Einstimmung, die zum Thema der Stunde passt. Genauso ermöglichen die eben genannten avatarbasierten virtuellen Lernräume, Situationen zu schaffen, die nicht nur kognitive Denkprozesse, sondern die Sinne auch auf andere Weisen anregen. Mit solchen Elementen versuchen wir den Geist mitanzusprechen. Dies passt zu dem, was religiöses Lehren und Lernen im Schulunterricht sein soll und, was auch zukünftig immer mehr die Aufgabe des Religionsunterrichts sein wird. Dies wird in der Lage der Corona-Pandemie besonders deutlich, wo in der Schule die Kernfächer fokussiert werden, aber die Schüler*innen gerade jetzt einen persönlichen Bezug brauchen. Wir versuchen dies unseren Studierenden vorzuleben und ermutigen sie, als Religionslehrer*innen für die Schüler*innen ansprechbar und authentisch zu sein. 

Was sind Potentiale von digitaler Lehre?

Das Digitale eröffnet neue Räume. Ich konnte an Tagungen in Österreich teilnehmen, was mir sonst nicht möglich gewesen wäre. Es gibt Selbstlehrgänge, bei denen man abends um zehn Uhr mit dem Lernen anfangen kann. Lernen wird von den zeitlichen Strukturen entkoppelt, was ein großer Gewinn ist. Ich versuche meine digitalen Angebote so zu öffnen, dass die Studierenden in ihrer Heterogenität solche Angebote auswählen können, die für sie bedeutsam sind. Es ist eine Chance des digitalen Lernens, unterschiedliche Lerntypen ansprechen zu können. Spannend finde ich auch hybride Lernsettings in Form von Flipped Classrooms, bei denen die synchrone Zeit effektiv zur Kooperation und Kollaboration verwendet wird.

Welche Gefahren gibt es bei einer Lehre, die ausschließlich digital stattfindet?

Ich bin selbst sehr begeisterungsfähig, aber man verliert sich sehr leicht in diesem virtuellen Raum. Es gibt immer noch etwas Neues zu entdecken und auszuprobieren, wobei viel Zeit vergeht. Weil die Fahrten wegfallen, kann man produktiver sein, sich aber auch überfordern. Es ist wichtig, dass die digital verbrachte Zeit in Balance mit anderen Aktivitäten bleibt. Wir sitzen den ganzen Tag vor dem Bildschirm und sollten uns immer wieder bewusst machen, uns zu bewegen. Man sollte soziale Kontakte knüpfen und sei es im virtuellen Raum in Form von Schreibgesprächen, um mit anderen in Verbindung zu treten. Die Gefahr ist, dass wir den Mut zu verlieren, in Zukunft zu Präsenzveranstaltungen zu erscheinen oder uns zu Wort zu melden. Je länger wir ausschließlich digital lernen, desto mehr werden sich solche Schwierigkeiten ergeben.

"Wir sollten dieser neuen Art der Lehre soweit wie möglich offen begegnen und den Mut haben, Verschiedenes auszuprobieren."

Wie haben Sie das letzte Jahr mit einer digitalen Lehre erlebt?

Wenn eine Präsenzlehre wieder möglich sein sollte, wird die Freude darüber natürlich überwiegen. Die Sehnsucht nach persönlichem Austausch und Kontakt ist bei allen groß. Im Hinblick auf die Lehre habe ich dieses Jahr jedoch durchaus als bereichernd erlebt. Meine Motivation war, eine praktische Lehrer*innenausbildung ohne Praxis zu gestalten und dabei die Qualität der Lehre beizubehalten. Immerhin beginnen die Studierenden direkt nach dem Masterabschluss mit ihrer Arbeitspraxis in der Schule. Das Team der Lernwerkstatt Religion, mit dem wir kooperieren, hat uns bei dieser Herausforderung sehr unterstützt. Sowohl meine Kolleg*innen als auch die Institutsleitung haben mich ermutigt, neue Wege zu gehen, haben ihre eigenen Avatare ausgetestet und hatten insgesamt eine große Offenheit. Das war eine tolle Lernerfahrung und im Endeffekt auch das, wofür es den Preis gab: Für den Mut etwas Neues auszuprobieren, was den ganzen Menschen wieder in den Blick nimmt. Darüber habe ich mich wirklich gefreut.

Welche Tipps würden Sie anderen Lehrenden und vielleicht auch Studierenden für die aktuelle digitale Lehr- und Lernsituation geben?

Ich halte es für wichtig, die Studierenden mehr in die Verantwortung zu nehmen. Meine Tipps für Kolleg*innen wären, dass sie beispielsweise in Videokonferenzen Aufgaben abgeben, und die Teilnehmenden den Chat überblicken oder wichtige Inhalte in den geteilten Notizen selbstständig festhalten zu lassen. Werden solche Regeln zu Seminarbeginn transparent beschlossen, ist dies erleichternd für Studierende sowie Lehrende. Gleichzeitig halte ich es für wichtig, Studierende mehr mit einzubeziehen und zwischendrin kurze Chatgewitter anzuregen oder sich die Stimmung der Teilnehmenden im Status anzeigen zu lassen.

Für hilfreich halte ich auch, Schwierigkeiten, die sich aus dem digitalen Setting ergeben, mit Humor zu nehmen und gemeinsam zu versuchen, das Beste aus der aktuellen Situation zu machen. Es wichtig, sich wirklich auf diese digitale Welt einzulassen, denke ich. Im Moment haben wir keine andere Möglichkeit. Wir sollten daher dieser neuen Art der Lehre so weit wie möglich offen begegnen und den Mut haben, Verschiedenes auszuprobieren. So können auch sehr zielführende Lernerfahrungen entstehen. Das passt zu dem christlichen Leitbild, was auch mich trägt: Zuversicht und Hoffnung zu haben. Vor einem Jahr hätte ich zum Beispiel nicht gedacht, dass ich digital jetzt so gut aufgestellt bin, wie ich es bin. Für Studierende wäre daher mein Tipp, Angebote von Lehrenden, wie zum Beispiel neue Tools auszuprobieren, für sich wahrzunehmen.

Wird sich die Lehre durch die aktuelle Digitalisierung insgesamt verändern? Wie wird Lehre Ihrer Meinung nach zukünftig aussehen?

Ich denke, dass sich langfristig die Vorteile von digitaler Lehre in Form eines Blended Learnings im Hochschulbetrieb verankern könnten. Blended Learning bedeutet Phasen des asynchronen Selbststudiums mit synchronen Präsenzphasen zu verknüpfen. Dies würde die Qualität der Präsenzphase vorantreiben, da diese Zeit aktiv zur Festigung, Kollaboration und Kommunikation genutzt werden kann.

 

Interview: Mara Schrey

 

Stichwort: WBS LearnSpace 3D®

Eine neue Art der digitalen Zusammenarbeit ermöglicht diese simulierte dreidimensionale Lernumgebung, die Dr. Roßa und ihre Studierenden ein Semester lang ausprobieren konnten: https://www.wbsakademie.de/wbs-learnspace-3d/

 

Stichwort: FRAME

Frame ist ein Open Source 3D-Tool zur gemeinsamen Gestaltung einer virtuellen Lernumgebung: https://framevr.io/


Dr. Anne-Elisabeth Roßa hat den Preis für hervorragende digitale Lehre erhalten. Foto: Daniel Kunzfeld

Kollaborativ gestalteter FRAME 3D Lernraum (Screenshot).

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