„Hier findet Kultur statt, für alle“

Freitag, 16. Oktober 2015 um 09:55 Uhr

In den Künsten stecken die Themen unseres Lebens. Das von Studierenden des Fachbereichs Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation organisierte Theaterfestival „state of the art“ läuft an diesem Wochenende an der Universität Hildesheim. Einen Blick hinter die Kulissen warf Isa Lange. Ihre Ideen sind das große Budget, die Kreativität ist das Pfund, mit dem die Studierenden wuchern.

Im Theatergebäude steht ein ziemlich großer Arbeitstisch, drei Meter breit vielleicht. Auf dem liegt alles, alles was man braucht, um ein Festival zu starten: Nervennahrung, Stifte, Kleber – Kaffee natürlich. Laptops, Smartphones, ein Schlüsselbund mit mehr als 20 Schlüsseln für sämtliche Räume dieser mittelalterlichen Burganlage, dem Kulturcampus der Universität Hildesheim. Drumherum in dem Arbeitsraum: Holzleisten, Teppichrollen, Kartons, eine To-do-Liste als Wandplakat. In den Tagen vor dem Festival wird dieser Ort zum Lagezentrum: Was macht und plant man hier und warum?

Seit sieben Jahren wird das „state of the art“ ausgetragen. Wurden bisher Produktionen für das Festival erarbeitet, zeigen Studierende in diesem Jahr eine „Bestandsaufnahme“. Wer das Burggelände betritt, der kann an diesem Wochenende (16. bis 18. Oktober 2015 in Hildesheim) Produktionen in den Bereichen Theater, Medien, Musik, Literatur und Bildende Kunst entdecken, die in den vergangenen zwölf Monaten entstanden sind. „Für die Erstsemester ist das Festival ein Startpunkt, sie können entdecken, was hier so passiert an Hildesheimer Arbeitsweisen. Für die Studierenden, die schon länger dabei sind, ist das Festival eine Plattform für Austausch. Sie können ihre künstlerischen Arbeiten zeigen“, sagt Robin Grau. 

Fast hätte es das state nicht gegeben. „Es braucht ein großes Team. Das Festival muss von vielen Studierenden des Fachbereichs getragen werden“, sagt Rebecca Fuxen. Nach dem letzten state im Herbst 2014 fand man keine Nachfolger. Bald hieß es: Das state findet nicht statt.

Wie, es findet nicht statt? Nach sechs Jahren Geschichte sollte es einfach ausfallen? Rafael Ecker, Rebecca Fuxen, Robin Grau, Sophie Luther und Johannes Liebscher saßen im Frühjahr im Hof herum, redeten und entschieden: Irgendwer muss es machen. Wir machen das. „Es ist uns so wichtig. Als ich vor einem Jahr mit dem Studium anfing, war das Festival der beste Start für mich hier in Hildesheim. Diese drei Tage auf der Domäne zu sein, Dinge zu sehen, Leute kennen zu lernen, abseits von Seminaren. Das hat mir die Augen aufgemacht, was hier so geht“, erinnert sich Rafael. Sie sind Anfang bis Mitte 20 und kommen aus allen Ecken Deutschlands zum Studium nach Hildesheim und entwickeln in der kleinen Stadt im Norden nun die Künste von morgen. Rafael aus Offenburg, Rebecca aus Konstanz, Robin aus Plauen, Sophie aus Hamburg, Johannes aus Magdeburg.

„Wir haben Filme, musikalische Performances und Theateraufführungen, eine Lesung und Fotoausstellung und Medienkunst“, zählt Sophie Luther auf. Alles, was gezeigt wird, wurde von Studierenden der Universität Hildesheim produziert.

Da ist zum Beispiel ein Dokumentarfilm über eine Gruppe junger Erwachsener aus Algerien und dem Mittelmeerraum, die eines der ersten unabhängigen Kulturfestivals („djart“, „Nachbarschaft“) organisierten. Ohne ein Wort algerisch oder französisch zu sprechen, haben Hildesheimer Studierende das Kunstfestival in Algier mit der Kamera begleitet. Kathrin Österle, Sofie Osterhoff und Frederik Preuschoft zeigen nun den Dokumentarfilm, der davon handelt, Kunst im öffentlichen Raum zu ermöglichen. „Wir zeigen eine Bandbreite dessen, was in Hildesheim möglich ist. Wir haben kein Überthema oder eine inhaltliche Ordnung gesucht“, sagt Robin Grau. Neben Musikvideos kann man digitale und analoge Klang-Performances entdecken oder experimentelles Gegenwartstheater. Wer in Hildesheim „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ studiert, denkt die Künste mit, kombiniert sie mit Theorie, mit Annemarie Matzke lehrt zum Beispiel eine Professorin Theorie und Praxis des experimentellen Gegenwartstheaters. Mit Professor Matthias Rebstock entstand ein Schwerpunkt im Bereich szenische Musik. Das Festival spiegelt die Nähe zur Praxis wider, die man im Studienverlauf hat, sagt Robin Grau.

„Wir wollen im Gespräch thematisieren, was schon da ist. Wir binden auch Lehrende in das Festival ein“, sagt Rebecca Fuxen über die Bestandsaufnahme. Alle Produktionen haben ein eigenes Nachgespräch. Wie kann man ein Gespräch anregen? Die Wege sind sehr unterschiedlich. Wenn der Film, die Musik aus ist, soll man nicht gehen. Liebe, sagt das Duo „aAmorie“, sei süß, sauer, lecker und knackig. Das Duo arbeitet in einer Objekttheater-Performance nur mit Äpfeln als Material. Luise Gerlach und Rolf Elberfeld, Professor für Philosophie, greifen im Nachgespräch das Sujet auf, sie schälen Äpfel, machen Apfelmus, kochen mit den Festivalteilnehmern, während sie über das Gesehene und Gehörte sprechen.

Ein kleines Gimmeck gibt es dazu: eine Stempelkarte. Wer an einem Nachgespräch teilnimmt, kann Stempel sammeln, bei vier Stempeln gibt es einen Kaffee, bei sieben einen Festivaldrink, bei zehn gibt es Sendezeit im Festivalradio. Bei zwölf: Das ist noch geheim.

Eine Herausforderung: Der Wissensstand jener, die auf das Festival kommen, ist sehr unterschiedlich, sagt Sophie Luther. „Wir können im Nachgespräch über Produktionsbedingungen sprechen. Das ist primär interessant für diejenigen, die selbst Theater machen. Aber es kommen auch Menschen, die sich nicht täglich mit Theater beschäftigen.“ Denn das Organisationsteam von state of the art hofft, das nicht nur Kulturwissenschaftler das Festival besuchen. Ob Informatikstudentin, Lehramtsstudent oder Medienübersetzer, es ist „voll gewünscht“, dass alle kommen, sagt Sophie. „Deswegen müssen wir Wege finden, wie wir allen gerecht werden. Für uns ist es gut, das zu trainieren, weil wir über Vermittlungsformate und unser Zielpublikum nachdenken.“

Ein erneuter Blick auf den großen Arbeitstisch im Theatergebäude: Gerade schreiben sie Listen, wer macht wann was wo. 50 Studierende, darunter 30 Erstsemester, helfen beim Einlass und Catering, beim Aufbau und in der Ausstattung. Seit einer Woche werkeln sie herum, richten die Räume her. „Das wird eine Lampe“, sagt Sophie Wiegel und zeigt auf eine Konstruktion aus Altkleidern und Drähten. Die 22-jährige Berlinerin studiert in Hildesheim Kulturwissenschaften und koordiniert beim Festival die Ausstattung. Marei Dierßen, Helena Steurer, Sophie Hübner und Marlene Helling helfen beim Aufbau, bauen Möbel und die Beschilderung. Im Blauen Salon ist das Festivalzentrum, mit Bühne, Bar und Lesungen, Paletten dienen als Sitzgelegenheiten. Querbeet stehen Radios, hier kann man state-fm hören, das Festivalradio. Abends kommt das „Abendblatt“ heraus. „Frisch aus den Universitätskopierern, jeden Abend, sobald die Sirene heult“. Ann-Kristin Tlusty und Sophie Steinbeck bringen das „Abendblatt“ in Umlauf, gemeinsam mit weiteren Studierenden. Kornelius Friz, Christoph Möller, Anna Weyrosta sorgen für die Stimmen im Radio, begleiten Performances und sprechen mit Menschen.

Das Festival ist ein Zusammenspiel, der eine bringt das mit, der andere jenes. „Ohne sie alle, die vielen Helferinnen und Helfer, ginge das nicht“, sagt Rafael Ecker. „Diese Woche wird alles konkret, Transporter fahren hin und her.“

Im Burgtheater – eine 200 Quadratmeter große blackbox, die nach allen Seiten hin geöffnet werden kann – war mal ein Traktor auf der Bühne, ein Pferd war auch schon da. Beim state-Festival wird  die Burg unterschiedlich genutzt. Klassisch – Zuschauer sitzen auf der Tribüne und schauen auf den Bühnenbereich. Mit viel Material. Es geht aber auch anders: ohne Material. Eine studentische Gruppe – Dittrich Frydetzki / Dreit / Flegel / Froelicher / Grief / Melzer / Worpenberg – lädt die Zuschauer ein, mit ihnen auf die Bühne zu kommen. Im Bühnenraum entstehen Gemeinschaften, das Verhältnis zueinander verändert sich, in der Performance geht es um das Aushandeln von Beziehungen, um das Sorge tragen füreinander, um das Abgrenzen voneinander. In der Theaterperformance „Publikum (work in progress)“ gibt es eigentlich nur einen einzigen Raum und alle können sich frei bewegen. Mit jedem Nachgespräch passt die Hildesheimer Gruppe ihr Stück an und verändert die nächste Aufführung.

Der Stand der Professionalität der Gruppen ist vielfältig, sagt Robin Grau. „Einige wurden schon für das „Körberstudio Junge Regie“ in Hamburg eingeladen, haben sich in der freien Szene sehr professionalisiert, andere fangen gerade an, etwas zu zeigen.“ Das spiegelt das Studium an der Universität Hildesheim wider. „Wir sitzen nicht in Klassen. In Hildesheim sitzen Erstsemester mit Sechstsemestern zusammen in einem Seminar“, sagt Rebecca Fuxen.

Die großen Geschwister, das Literaturfestival „Prosanova“ und das europäische Theater- und Performancefestival „transeuropa“ (zum Interview) – beide gehen aus den Hildesheimer Kulturwissenschaften hervor – sind größer. Das state ist ein „Festival von Studierenden für Studierende, eine Plattform, um sich auszuprobieren“, sagt Rafael Ecker. Jeder der Lust hat, kann zu dem Festival kommen. Über ein Dutzend Studierende der Theaterwissenschaften der FU Berlin reisen nach Hildesheim an. Außerdem zeigen Studierende der angewandten Theaterwissenschaften der Uni Gießen ein Gastspiel.

Zur Vorbereitung eines Festivals gehören auch die Finanzen, Antragstellung, viel Überzeugungsarbeit – ohne Unterstützer, sagen die Wahl-Hildesheimer, „wäre das nicht möglich“. Sie glauben an uns, sie finden gut was wir machen, geben uns Mittel und sagen: macht einfach, wir vertrauen euch, freut sich Rafael Ecker. Das studentische Festivalteam bedankt sich bei den Förderern: bei der Sparkasse Hildesheim, den Instituten aus dem Fachbereich „Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation“, beim Studierendenparlament der Universität Hildesheim, bei der Fachschaft Szenische Künste und beim Studentenwerk OstNiedersachsen.

Dennoch sind die Mittel knapp. Aus der Not wachsen neue Ideen: Da das Festival kein Filmteam für die Dokumentation bezahlen kann, rufen sie alle Festivalbesucher auf, ihre Handys zu zücken, um Fotos zu machen, Tonaufnahmen, Videos, vom Festivalgelände, von Aufführungen, von der Party. Aus dem Material soll „eine Festivalsicht von innen entstehen“. „Wir stellen auch ein paar Selfiesticks zur Verfügung“, lacht Rebecca Fuxen.

Johannes Liebscher ist schon das vierte Jahr beim state dabei und seitdem für die Technik zuständig, er kommt aus dem Technikbereich. „Das state of the art war der Zugang für mich zum Studium. Hier kommen auch Leute vorbei, die nicht direkt in den Universitätsbetrieb eingebunden sind, die aber wissen wollen, was hier passiert.“ Seit einem Jahr studiert er an der Hildesheimer Uni Kulturwissenschaften.

Keine Angst vor der Domäne. Die größte Hürde, sagt Rafael Ecker, sei der Weg zur Domäne. „Wenn man hier ist, dann ist man angekommen, dann ist man drin. Ein Programm gibt’s in die Hand und los geht es. Der Campus ist nicht nur für uns Kulturstudierende, das ist ja Quatsch. Hier findet Kultur statt, das ist für alle.“ Wirklich alle, alle sind eingeladen, aus den Fachbereichen, aus der Stadt, wiederholt er. „Viele haben ein falsches Bild, was hier passiert. Manche denken, wir machen hier Ringeltanz mit Anfassen im Stuhlkreis und werfen uns den Ball zu oder sind den ganzen Tag nackt auf der Bühne. Dabei machen wir Sachen mit Hand und Fuß“, sagt Johannes Liebscher. „Viele wissen nicht, was hier auf der Domäne stattfindet“, ergänzt Robin Grau. Dabei sind es die Themen mitten aus dem Leben, die die Studierenden mit szenischen, mit musikalischen, mit literarischen Mitteln aufgreifen.

Information zum Festival: Das state of the art 2015

Im Burgtheater steht ein ziemlich großer Arbeitstisch – um ein Festival zu planen. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Das „state of the art“ ist ein studentisch organisiertes Festival des Fachbereichs Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation der Universität Hildesheim. Beteiligt sind Studierende der Bachelorstudiengänge Kreatives Schreiben, Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, Szenische Künste, Philosophie-Künste-Medien, sowie der Masterstudiengänge Inszenierung der Künste und Medien, Kulturvermittlung und Literarisches Schreiben. Seit seiner Gründung 2009 wurde das Festival zur Plattform für die freie künstlerische Praxis von Studierenden. Das Festival stellt Räume, Technik und ein Produktionsbudget bereit – und vor allem ein diskussionsfreudiges Publikum. An die Produktionen schließen sich Nachgespräche mit Zuschauern und Beteiligten an. Interessierte sind herzlich eingeladen. Die Studierenden bringen unterschiedlichen Studiengängen und Instituten durch „transdisziplinäre Zusammenarbeit“ und verknüpfen Praxis und Theorie. 2015 organisieren  Rafael Ecker, Rebecca Fuxen, Robin Grau und Sophie Luther das Festival.

Die Studierenden wollen in diesem Jahr neben Gesprächen über die künstlerischen Arbeiten auch einen Diskurs über die Produktionsbedingungen im Studienbetrieb anregen. Das siebte „state of the art“ läuft vom 16. bis 18. Oktober 2015. Alle Veranstaltungen auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg sind öffentlich und laufen Freitag ab 15:00 und Samstag und Sonntag ab 11:30. Der Festivalpass kostet 28 Euro (ermäßigt 18 Euro); ein Tagesticket kostet 14 Euro (erm. 10 Euro). Wer aus einer anderen Stadt anreist, den unterstützen die Studierenden mit einer „Bettenbörse“, sie organisieren Schlafplätze im Uni-Umfeld.


Vorbereitung für das Festival „state of the art“ an der Universität Hildesheim. Rebecca, Rafael, Robin, Sophie und Johannes (Gruppenbild von links) haben entschieden: Wir machen das. Sie schaffen mit dem mehrtägigen Festival eine Plattform zum Austausch. Studierende zeigen ihre Dokumentarfilme, Theaterperformances, Musik und Lesungen. Nach jeder Produktion folgt ein Nachgespräch mit den Festivalteilnehmern. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Vorbereitung für das Festival „state of the art“ an der Universität Hildesheim. Rebecca, Rafael, Robin, Sophie und Johannes (Gruppenbild von links) haben entschieden: Wir machen das. Sie schaffen mit dem mehrtägigen Festival eine Plattform zum Austausch. Studierende zeigen ihre Dokumentarfilme, Musik, Theaterperformances und Lesungen. Nach jeder Produktion folgt ein Nachgespräch mit den Festivalteilnehmern. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim