Frau Krawietz, Sie haben untersucht, wie Migrantinnen aus Osteuropa in Privathaushalten die Pflege älterer Menschen übernehmen. Wie entsteht dieser Transfer?
Johanna Krawietz: Solche Beschäftigungsverhältnisse sind kein Randphänomen. Überwiegend weibliche Migrantinnen pendeln zwischen Heimat- und Einsatzland in mehrmonatigen Abständen hin- und her. Weshalb Pflegebedürftige und Angehörige diese Versorgungskonstellationen eingehen? Pflege ist zeit- und betreuungsintensiv. Die familiären Ressourcen und vorhandenen Sozialen Dienste können dies nicht abdecken.
Um den Pflegenotstand zu beheben, kommen Pflegekräfte aus anderen Ländern nach Deutschland. Was springt für Vermittlungsagenturen dabei heraus?
Häufig nehmen die Agenturen von den Familien und den Betreuungskräften eine Provision. Die monatlichen Kosten für eine Agentur variieren zwischen 1200 bis über 2000 Euro. In Deutschland kann sich nicht jeder diese Versorgung leisten. Häufig sind es Familien der Ober- und Mittelschicht. Agenturen, die die Familien und Betreuungskräfte begleiten, sind eher die Ausnahme. Nach erfolgter Vermittlung ziehen sie sich zurück.
Wie ist die rechtliche Stellung der Pflegekräfte, unter welchen Bedingungen arbeiten sie?
Die Betreuungskräfte leben meist gemeinsam im Haushalt des Pflegebedürftigen, wodurch Kost und Logis in der Bezahlung mit enthalten sind. Arbeit und Privatleben sind stark verschränkt, viele Frauen werden zu Ersatzfamilienmitgliedern. Diese Nähe zum Privaten und die ständige Anwesenheit der Migrantinnen führen zwangsläufig zur Entgrenzung von Arbeitszeiten und Arbeitsinhalten, die häufig nicht klar festgelegt sind. Die ständige Verfügbarkeit mündet nicht selten in einer 24-Stunden-Tätigkeit an sieben Tagen in der Woche.
Sie haben eine Publikation „Verantwortung und Heimweh. Perspektiven einer polnischen Betreuerin" verfasst. Welche Geschichte erlebt diese Betreuerin?
Ella ist Mitte 50. Ihr Mann und zwei erwachsene Kinder leben in Polen. Die Krankenschwester ist Frührentnerin. Seit drei Jahren pendelt sie zwischen ihrem Heimatort und ihrem Einsatzort in einer westdeutschen Kleinstadt, um etwas dazu zu verdienen. In einem dreimonatigen Rhythmus versorgt sie mit einer anderen Betreuerin eine 80-jährige verwitwete Dame. Im Privathaushalt in Deutschland arbeitet sie recht eigenständig, die Autonomie erlebt sie auch als belastend, hat das Gefühl, die alleinige Verantwortung für die ältere Dame zu tragen. In ihrer früheren Tätigkeit auf der Krankenhausstation konnte sie sich stets mit Kollegen austauschen, wenn es Probleme gab.
Frau Oppermann, Sie forschen im Graduiertenkolleg der Uni Hildesheim über interkulturelle Arbeit in Altenheimen. Welche Rolle spielt die Herkunftskultur im Alter?
Carolin Oppermann: Werte, Normen und Symbole der eigenen Herkunftskultur haben für ältere Migranten und Migrantinnen eine hohe Bedeutung. Essgewohnheiten, Religionsausübung oder der Gebrauch der Muttersprache gehören dazu. Interkulturelle Arbeit in Altenheimen erkennt diese kulturellen Bedürfnissen an. Gleichzeitig sollten Menschen nicht auf eine Kultur festgelegt, sondern in ihrer Individualität wahrgenommen werden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Eine Geschichte aus einem Altenheim: Einer älteren türkischen Bewohnerin wurden jeden Morgen Oliven und Fetakäse zum Frühstück serviert, weil man ihr eine besondere Freude machen wollte. Eines Tages bat die Tochter eine Pflegerin darum, ihrer Mutter doch ihr geliebtes Marmeladenbrötchen zu geben – das sie seit 30 Jahren jeden Morgen in Deutschland esse. Es geht um den Umgang miteinander im alltäglichen Leben in Institutionen. Im Alter werden soziale Ungleichheiten sichtbar. Ältere Migrantinnen und Migranten beziehen häufig geringere Renten als die einheimische Vergleichsgruppe – hier gilt es Lösungen zu finden.
Wie fortgeschritten ist interkulturelle Arbeit in deutschen Altenheimen?
Die ehemaligen „Gastarbeiter“ kommen ins Rentenalter. Ihr Unterstützungsbedarf wird steigen. Viele Einrichtungen stellen sich nicht auf ältere Migranten und Migrantinnen ein, sie könnten keine Nachfrage nach institutioneller Pflege feststellen. Ich habe Experten interviewt, die darauf hinweisen: Viele der älteren Migranten besuchen keine stationären Einrichtungen – da kultursensible Angebote fehlen. Sie wissen wenig über ihre Ansprüche. Es fehlt an Aufklärungsarbeit.
Ein Blick in andere Länder: In ihrer Dissertation untersuchen sie soziale Einrichtungen für ältere Menschen in Malaysia. Sie kommen gerade von einem Feldforschungsaufenthalt zurück – mit welchen Beobachtungen?
In meiner Dissertation konzentriere ich mich auf „Senior Citizens Clubs“. Das sind von älteren Leuten selbstorganisierte Clubs. Die älteren Menschen haben ein Haus, das sie jeden Tag ansteuern können. Sie organisieren dort viele Aktivitäten selbst – lernen Englisch, Mandarin und Computer, sie singen Karaoke und im Chor, tanzen Line Dance und sind im Kunsthandwerk tätig. Die Clubs fördern eine enorme Aktivität und stiften Gemeinschaft im Alter. Ob die älteren Menschen dort insgesamt aktiver sind als in Deutschland, kann ich nicht beurteilen. Ein besonderes Erlebnis während meiner letzten Erhebungsphase: Auf einer Party tanzten die älteren Leute „Gangnam Style“. Ich habe nur noch gestaunt!
Das Gespräch führte Isa Lange.
Info: DFG-Graduiertenkolleg
Wie wird über nationalstaatliche Grenzen hinweg soziale Hilfe geleistet? Im DFG-Graduiertenkolleg „Transnationale Soziale Unterstützung“ erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Hildesheim und Mainz bis 2017 grenzüberschreitende soziale Unterstützungsprozesse. Das Kolleg wurde Ende um weitere fast 5 Jahre verlängert und wird mit rund 2,7 Millionen Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Welche unterstützende Funktion virtuelle und soziale Netzwerke bei internationalen Studierenden einnehmen, prüfen die Hildesheimer Doktorandinnen Rajalakshmi Kanagavel und Alice Altissimo. Annett Bochmann untersucht die nationenübergreifende soziale Unterstützung in Flüchtlingslagern in Südostasien. Sprecher des Kollegs ist seit 2008 Prof. Dr. Wolfgang Schröer. Weitere Stipendiaten sollen 2014 aufgenommen werden. Das Kolleg ist in einem internationalen Forschungscluster vernetzt, in dem Universitäten aus Kanada, Australien, Taiwan und den USA zu dem Themenschwerpunkt „Transnational Social Support“ gemeinsam arbeiten.
Kontakt zur Forschergruppe über die Pressestelle der Universität Hildesheim (Isa Lange, presse@uni-hildesheim.de, 05121.883-102, 0177.8605905).