"Grenzen Europas"

Mittwoch, 21. Juli 2004 um 22:37 Uhr

Philosophisches Kolloquium behandelt Erweiterung der Europäischen Union

Am 1. Mai 2004 traten der Europäischen Union zehn Ost- und Südeuropäische Staaten bei. Die Grenze, die Europa in den Jahren nach 1945 in zwei Hälften teilte, ist damit überwunden, und die Europäische Union erweist sich als Garant einer friedlichen Nachkriegsordnung und als politisches Zukunftsmodell für die Zusammenarbeit von derzeit 25 europäischen Staaten.

Der Beitritt der Zehn wirft Fragen nach den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Grenzen Europas auf. Die Bestimmung dieser Grenzen führt wiederum zu grundsätzlichen Fragen nach der Vereinbarkeit von politischen, rechtlichen und kulturellen Differenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Dieser Diskurs über die Identität(en) Europas wurde im philosophischen Kolloquium aus der Perspektive sehr unterschiedlicher Disziplinen geführt.

Der Beitritt der Zehn wirft Fragen nach den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Grenzen Europas auf. Die Bestimmung dieser Grenzen führt wiederum zu grundsätzlichen Fragen nach der Vereinbarkeit von politischen, rechtlichen und kulturellen Differenzen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Dieser Diskurs über die Identität(en) Europas wurde im philosophischen Kolloquium aus der Perspektive sehr unterschiedlicher Disziplinen geführt.

Die Vortragsreihe 2004 wurde mit einem Beitrag über den Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag von Dr. Christof Kalb (Philosophie, Hildesheim) eröffnet. Kalb markierte die Vor- und Nachteile des Verfassungsentwurfs und ließ anschließend in einem geheimen "Kolloquiumsteilnehmer-Entscheid" über die "Europäische Resolution" entscheiden. 82,93% der Zuhörer stimmten für die Verabschiedung dieses Verfassungsentwurfs, während 9,76% dagegen waren.
Prof. Dr. Josef Nolte (Kulturwissenschaft, Hildesheim) sprach mit Bezugnahme auf Hölderlins Fragment "Tinian" über kulturphilosophische und geistespolitische Bestimmungsversuche Europas.

Bestimmungsschwierigkeiten einer europäischen Identität prägten auch das Streitgespräch über den möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zwischen dem Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Dr. Lorenz Jäger (Contra) und dem Münchner Geschichtswissenschaftler Dr. Wolfgang Burgdorf (Pro). Während Burgdorf darlegte, inwiefern er einen Einklang von Islam und Demokratie aufgrund geschichtlicher und kultureller Gemeinsamkeiten zwischen der Türkei und (dem übrigen) Europa für realisierbar halte, verwies Jäger auf die aktuellen Probleme der Integration und stellte die politische Handlungsfähigkeit einer derart erweiterten Gemeinschaft in Frage: Die religiöse und kulturelle Diskrepanz zwischen der muslimischen und christlichen Tradition lasse eine Aufnahme der Türkei letztlich unmöglich erscheinen.

Der Kieler Geschichtswissenschaftler Prof. Dr. Ludwig Steindorff widmete seinen Vortrag den "jungen Staaten mit alten Grenzen" in Südosteuropa. Dabei zeigte sich die Schwäche politischer Kunstprodukte gegenüber der Stärke bzw. Hartnäckigkeit von über Jahrhunderte ausgebildeten kulturellen Denk- und Verhaltensmustern. Die inneren Konfliktlinien Europas fallen häufig mit Sprachgrenzen zusammen. Der französische Philosoph Dr. Marc CrÉpon (CNRS Paris) stellte den bekannten Gefahren des Sprachimperialismus, wie er von den europäischen Nationen bis 1945 vielfach praktiziert wurde, die Reize der Vielfalt von identitätsbildenden und -bewahrenden literarischen Idiomen entgegen, die die internationale Verkehrs- und Geschäftssprache unbesorgt dem Basic English überlassen können. Der Hildesheimer Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Reiner Arntz wurde konkreter. Er zeigte am Beispiel der Sprachpolitik in Südtirol, wie sprachliche und damit auch kulturelle Gegensätze erfolgreich integriert werden können, derart dass sie ihre Völker spaltende Sprengkraft verlieren. Diese positiven Erfahrungen können und sollten nutzbar gemacht werden, um ähnliche Probleme, wie es sie etwa in Lettland zwischen der lettischen Mehrheit und einer großen russischen Minderheit bestehen, zu bewältigen.

Weitere internationale Referenten des aktuellen Kolloquiums sind Prof. Dr. Jan M. Piskorski (Geschichtswissenschaft, Stettin), der über die "Ostgrenze(n) Europas - Westgrenze(n) Asiens" spricht, sowie Prof. Dr. Alexander Kortosia (Deutsche Philologie, Tibilissi, sowie langjähriger Minister für Kultur und Bildung in der Regierung Schewardnadze), der den Kolloquiumsbesuchern eine georgische Perspektive auf "Europa - Kaukasus - Asien" vorstellen wird. Prof. Dr. Tilman Borsche beschließt die Vortragsreihe am 15. Juli, indem er die Frage aufwirft: "Wächst hier zusammen, was zusammengehört? Grundlagen und Grenzen der Solidarität für Europa".
Die interdisziplinäre Ringvorlesung versteht sich als ein Beitrag der Universität Hildesheim zur Entwicklung Europas in den Köpfen der Menschen und erreicht mit seinen Themen nicht nur die Lehrenden und Studierenden der Universität, sondern auch interessierte Gasthörer aus Hildesheim und Hannover. Insbesondere Dr. Kalbs Vortrag über die Verfassung Europas füllte den Hörsaal II der Universität und auch zu dem polarisierenden Streitgespräch über den EU-Beitritt der Türkei fanden sich dort neben der türkischen Genaralkonsulin Birgen Keþoðlu zahlreiche Zuhörer ein, die sich an der anschließenden Diskussion rege beteiligten.

Das Kolloquiumsprogramm ist auf der Institutshomepage www.uni-hildesheim.de/philosophie einzusehen. Interessenten können sich zudem in einen E-Mail-Verteiler eintragen, der wöchentlich über die Vorträge und Referenten informiert.