Auf die Frage, was die Corona-Pandemie für sein Fachgebiet nachhaltig verändert hat, antwortet Geographie-Professor Martin Sauerwein differenziert. „Auf die Lehre bezogen gab es zunächst nur negative Effekte“, sagt er. Wie soll er seinen Studierenden das Bestimmen von Pflanzen und Tieren nahebringen, das Untersuchen von Bodenproben, das Kartieren von Landschaften – ohne die Möglichkeit, im Gelände auf Exkursion zu gehen? „In der Geographie, in der Biologie, in den Umweltwissenschaften kann man Erkundungen vor Ort nicht ersetzen“, sagt Sauerwein. Selbst in den wenigen Bereichen, wo für die Lehre geeignete Daten auch virtuell zur Verfügung stehen, sind diese oft teuer und schwer zugänglich. Ein Geographie-Studium vor dem Computer – das ist schlicht keine Option.
Aber bei genauerem Hinsehen gibt es doch auch vereinzelt Positives aus den aus der Not geborenen neuen Formaten mit in eine pandemiefreie Zukunft zu nehmen, hat Sauerwein festgestellt: „Lehrveranstaltungen nicht nur digital abzuhalten, sondern auch aufzuzeichnen und dann asynchron zur Verfügung zu stellen, ist eine Möglichkeit, über die wir vorher gar nicht nachgedacht haben.“ So könnten Studierende, die nicht live dabei sein konnten – oder Inhalte in eigenem Tempo nochmal nachvollziehen möchten – die Aufzeichnungen zu einem für sie passenden Zeitpunkt ansehen, stoppen, zurückspringen lassen und wiederholen. „Und sie haben dann nicht nur die Folien zur Verfügung, sondern können auch von den Fragen ihrer Kommiliton*innen und der anschließenden Diskussion profitieren“, sagt Sauerwein. Er kann sich daher gut vorstellen, die Option einer Videoaufzeichnung auch weiterhin zusätzlich anzubieten, wenn eine Lehre in Präsenz wieder möglich ist.
Perspektivwechsel in der Forschung
Fast noch spannender aber ist der Prozess, den die geographische Forschung unter Pandemiebedingungen durchlaufen hat. Widerstrebend durchlaufen hat, müsste man vielleicht sagen, denn auch hier gilt: Wohl kein Geograph und keine Geographin kann sich auf Dauer vorstellen, auf Geländeerkundungen zu verzichten. Zumal, wenn wie am Hildesheimer Geographie-Institut üblicherweise sehr kleinräumig gearbeitet wird. Sauerwein nennt das Promotionsprojekt von Moritz Sandner als Beispiel. Im Nationalpark Cinque Terre an der ligurischen Riviera hatte der Doktorand unter anderem Vegetationsdaten auf einer Fläche von knapp zwei Hektar gesammelt. Seine Arbeit war noch nicht abgeschlossen, als ihm die Pandemie dazwischenkam, und ihn an weiteren Reisen hinderte. „Wir mussten uns also ein ganz neues Forschungsdesign überlegen“, berichtet Sauerwein. Ein Teil der Lösung liegt dabei unter anderem in bereits bestehenden digitalen Geodaten. Ein Beispiel hierfür sind etwa hochauflösende Satellitendaten der European Space Agency (ESA), die nicht nur Bildmaterial liefert, sondern auch Informationen zu Temperatur, Feuchtigkeit und dynamischen Prozessen an der Erdoberfläche. „Die Qualität dieser Daten ist inzwischen wirklich sehr gut, wenngleich nicht ausreichend, um beispielsweise einzelne Baumarten zu bestimmen.“ Doch mit einer Kombination aus den bereits vor Ort gesammelten Daten und den kleinmaßstäbigeren Satellitenbildern ließen sich nun die auf einer Teilfläche erhobenen Informationen auf den gesamten Nationalpark übertragen. Soweit die Theorie. Ob bzw. wie gut das funktioniert, wird Moritz Sandner erarbeiten.
#uniHildesheim: Ein Instagram-Beitrag über die Forschung von Moritz Sandner (Log-in erforderlich)
„Das Arbeiten in einem völlig anderen Maßstab und die Verknüpfung zwischen Gelände und digitalen Daten müssen wir uns erst aneignen“, sagt Sauerwein, „aber nun können wir von diesem Lernprozess auch für zukünftige Projekte profitieren.“ Der Geograph spricht von einem „Link“, der hier geknüpft wurde zwischen der kleinräumigen Kartierung vor Ort und einem gewissermaßen herausgezoomten Blick über dasselbe Gelände mithilfe des zusätzlichen methodischen Ansatzes der Satellitendatenanalyse. „Dass wir in Zukunft wieder mehr ins Gelände gehen wollen, steht außer Frage“, sagt der Geographieprofessor, „aber die Phase der Pandemie, in der das nur sehr eingeschränkt möglich war, hat uns ganz neue Horizonte und Interpretationsmöglichkeiten erschlossen, die wir auch in Zukunft nutzen werden.“