Erste Spielzeit im Literaturhaus: Geschichten unserer Zeit

Dienstag, 16. September 2014 um 10:07 Uhr

Los geht's. In Hildesheim nimmt das Literaturhaus die erste Spielzeit auf. In den nächsten Monaten hallen die Stimmen von Bestsellerautoren und Nachwuchsliteraten aus dem In- und Ausland durch den 500 Jahre alten Raum. Die Räume der St. Jakobi-Kirche in der Innenstadt sollen mit traditioneller und gegenwärtiger Literatur gefüllt werden. Der Intendant Dirk Brall im Gespräch über die neue Kulturkirche mit literarischem Schwerpunkt.

Reinkommen, sitzen, lesen und hören, dann gehen. Ist nach der Lesung alles vorbei? Wie kann das Literaturhaus St. Jakobi ein Ort werden, an dem sich Menschen gerne aufhalten?

Wir haben eine Spielzeit entwickelt, die auch dem Raum für ein Jahr Gestalt gibt. Unsere erste Spielzeit widmen wir dem Meer und dem Treibgut darin, das angespült wird. Ich arbeite mit einem Designer, einer Kommunikationsstrategin und einer Bühnenbildernin zusammen, die das gesamte Projekt vor Augen haben: Grafische, räumliche und programmatische Gestaltung behandeln wir zusammen. Das hat bestimmt mit meiner interdisziplinären Hildesheimer Prägung zu tun und wird hoffentlich viele inspirieren und zum Bleiben einladen.

Sie beschäftigen sich seit Ihrem Studium mit dem Wort. Was kann Literatur leisten?

Literatur will immer erzählen. Manche Geschichten stehen einem zur Seite, andere gehen voraus oder geben Rückenwind. Manche treiben oder ziehen oder verunsichern. Und dann nehme ich mein Leben auch als Geschichte war, inmitten vieler, die alle was zu erzählen haben. Der Autor Colum McCann sagt, jeder hat eine Geschichte, wenn man nur lang genug zuhört.

Sie haben die Spielzeit mit Studierenden des Kreativen Schreibens und der Kulturvermittlung der Universität Hildesheim entwickelt, bieten auch im Wintersemester das Seminar „Neue Literatur in St. Jakobi" an. Warum binden Sie Studierenden ein?

Die Studierenden sind die Messlatte für das Gelingen der Arbeit. Sie sind am Puls der Zeit, nehmen sehr genau die Strömungen wahr und sind selbst neugierig und kritisch. Ich wünsche mir, dass viele kommen, deshalb haben wir auch niedrige Preise für sie. Und ich wünsche mir, dass das Literaturhaus St. Jakobi ein Ort wird, an dem sie sich mit ihrer Literatur und ihren Geschichten zu Hause fühlen. Wie der Ex-Hildesheimer Student Stefan Vidovic beim PROLOG sagte.

Mit der Kirche haben Sie einen ungewöhnlichen 500 Jahre alten Raum ausgewählt, der auch bestimmte Assoziationen hervorruft. Manche denken gleich an Glaube und Religion. Wie können literarische Gedanken sich an diesem Ort entfalten und ist die Kirche dabei bestimmend, kann bewusst einbezogen oder ausgeklammert werden?

Das Projekt ist ein Experiment des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hildesheims und der Raum ein Labor. Dieser Ort hat schon viele Geschichten, Gebete und Gespräche gehört. Diese mit den Geschichten unserer Zeit zu verbinden, finde ich herausfordernd und interessant. Wir müssen uns wegbewegen von Klischees und Vorurteilen, sowohl von kirchlicher als auch von kultureller Sicht. Und uns auf die Reise von Literatur in einer alten Pilgerkirche einlassen. Wohin auch immer dieser Weg führt.

Mitten in der Stadt – das Literaturhaus liegt direkt an der Fußgängerzone. Wen möchten Sie erreichen und wie gestalten Sie dies, mit wem arbeiten Sie zusammen und wie kann man zum Beispiel Jugendliche für Literatur interessieren?

Auf der Homepage steht: „Alltagsreisende, Heimatlose, Kreative und Geschichtenliebhaber machen hier Rast." Ich wünsche mir, dass die Heimatlosen auf der Treppe ebenso kommen wie die kreativen Heimatlosen. Es gibt Beteiligungsformate wie den Rastplatz oder den Freundeskreis, der herzlich einlädt, sich zu engagieren. Ein großer Wunsch ist es, Jugendliche zu erreichen. Unter anderem ist dort Schulpastor Peter Noß-Kolbe aktiv, mit dem ich auch das Junge Literaturhaus St. Jakobi andenke, zum anderen kann ich mir vorstellen, mit Studierenden Formate zu entwickeln, die für Jugendliche sind. Wir arbeiten mit ameis Buchecke zusammen und hoffentlich auch bald mit vielen Schulen. Mit dem Josephinum ist eine erste Idee angedacht. Autorinnen und Autoren, die am Abend lesen, könnten ja morgens auch gut in den Schulen sein und für ihre Bücher begeistern.

Die Fragen stellte Isa Lange.

Literaturhaus startet in die erste Spielzeit mit Intendant Dirk Brall

Dirk Brall, 1975 in Aachen geboren, ist Intendant des neuen Literaturhauses St. Jakobi in Hildesheim und hat an der Universität Hildesheim Kulturwissenschaften studiert. Das Literaturhaus wurde als eine von niedersachsenweit vier Kulturkirchen von der Evangelischen Landeskirche und der Hanns-Lilje Stiftung ausgezeichnet. Die Kulturkirchen werden von 2013 bis 2017 mit jeweils 200.000 Euro gefördert.

Zu den Lesungen sind Gespräche, musikalische Beiträge und ein Imbiss geplant. Die Besucher sollen die Autorinnen und Autoren kennenlernen. Die Kirche liegt mitten in der Fußgängerzone und sei „ein Gegenprogramm zur Welt des Handels und des Konsums, die Kulturkirche mit dem Schwerpunkt Literatur wird sich mit der vielfältigen Hildesheimer Literaturszene verbinden, um der Kraft der Sprache und der Bedeutung der Literatur Raum zu geben", sagt Superintendent Helmut Aßmann. Zum Spielzeit-Auftakt am 12. September 2014 ist der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier zu Gast. In einer deutschen Buchpremiere stellt er seinen Roman „Zwei Herren am Strand“ vor. Der Autor gibt Einblicke in Schreibprozesse und spricht über die Strandspaziergänge und die Freundschaft von Winston Churchill und Charlie Chaplin. Mit dabei ist sein Verleger Jo Lendle, der in Hildesheim Kulturwissenschaften studiert hat. Der Eintritt ist frei.

Hildesheimer Literaturstudierende gestalten am 4. Oktober 2014 gemeinsam mit dem niedersächsischen Flüchtlingsrat und der Caritas eine szenische Lesung über das Unglück von Lampedusa vom 3. Oktober 2013. Ende Oktober 2014 stehen eine Lesung und ein Werkstattgespräch mit Martin Kordic über seinen Roman „Wie ich mir das Glück vorstelle" an. Am 1. Dezember 2014 kommt die Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke aus Los Angeles zu einem von nur zwei Auftritten in Deutschland nach Hildesheim. Sie liest aus „Tintentod“, gibt eine Kostprobe aus „Reckless 3“ und spricht mit dem Autor und Journalisten Tobias Wenzel über Leben und Tod und das Wohnen am Meer.

Das ganze Programm online: Entdecken und auf dem Laufenden halten – das Team von Dirk Brall hat eine frische Internetseite erstellt: www.stjakobi.de


Dirk Brall hat an der Universität Hildesheim Kulturwissenschaften studiert und bindet Studierende des Kreativen Schreibens und der Kulturvermittlung in das neue Literaturhaus ein. Am 4. Oktober gestalten Literaturstudierende gemeinsam mit dem niedersächsischen Flüchtlingsrat und der Caritas eine szenische Lesung über das Unglück von Lampedusa. „Ich wünsche mir, dass die Heimatlosen auf der Treppe ebenso kommen wie die kreativen Heimatlosen", sagt Brall. Foto: Michael Schmidt (Kirche), Jon Hoekstra

Dirk Brall hat an der Universität Hildesheim Kulturwissenschaften studiert und bindet Studierende des Kreativen Schreibens und der Kulturvermittlung in das neue Literaturhaus ein. Am 4. Oktober gestalten Literaturstudierende gemeinsam mit dem niedersächsischen Flüchtlingsrat und der Caritas eine szenische Lesung über das Unglück von Lampedusa. „Ich wünsche mir, dass die Heimatlosen auf der Treppe ebenso kommen wie die kreativen Heimatlosen", sagt Brall. Foto: Michael Schmidt (Kirche während der Eröffnung), Jon Hoekstra

Dirk Brall hat an der Universität Hildesheim Kulturwissenschaften studiert und bindet Studierende des Kreativen Schreibens und der Kulturvermittlung in das neue Literaturhaus ein. Am 4. Oktober gestalten Literaturstudierende gemeinsam mit dem niedersächsischen Flüchtlingsrat eine szenische Lesung über das Unglück von Lampedusa. „Ich wünsche mir, dass die Heimatlosen auf der Treppe ebenso kommen wie die kreativen Heimatlosen", sagt Brall. Foto: Michael Schmidt (Kirche), Jon Hoekstra