Es ist 10 Uhr an einem Dienstagmorgen im Semester und Jörg Bölling ist – nach zwei Stunden Arbeit am Schreibtisch – auf dem Weg zu seinem Morgenseminar. Die meisten der 20 anwesenden Studierenden sind angehende Lehrer*innen und werden später in der Schule Religion unterrichten. Im Seminar reisen sie ins Mittelalter, wo Kirchen noch größere Bedeutung hatten, und untersuchen Gedichte und Texte hinsichtlich ihrer kirchengeschichtlichen Hintergründe. Nach den eineinhalb Stunden ist Zeit für weiterführende Fragen: Zu Creditpoints, den Inhalten der Stunde oder Studienleistungen. Insgesamt verbringt Bölling eine Stunde täglich mit den Anfragen seiner Studierenden.
Nachdem der zweifache Familienvater zuhause das Mittagessen vorbereitet hat, geht es für ihn ins Hildesheimer Stadtarchiv. Quellensichtung, oder auch „Detektiv zu spielen“, ist sein täglich Brot. Er begibt sich auf Spurensuche und versucht Antworten auf noch nie gestellte Fragen zu finden.
„Die Vergangenheit ist abgeschlossen, aber die Geschichtswissenschaft sucht nach neuen Erkenntnissen“, betont er.
Um 16 Uhr schließt das Archiv und der Kirchenhistoriker muss in die Bibliothek, in sein Büro oder ins Home Office ausweichen. Korrektur lesen, Quellen sichten, Projekte voranbringen, schreiben und verwalten stehen auf seiner To-Do-Liste. Bis die für den Tag abgearbeitet ist, kann es 19, 22 oder 1.30 Uhr sein. Heute bedarf ein Buchprojekt um Bischof Godehard viel Zeit und Bölling klappt seinen Laptop erst nach Mitternacht zu.
Was tut ein Wissenschaftler noch neben der Lehre? Zwischen Abendlektüre, Teamwork und Millionen-Förderungen
„In erster Linie ist ein Wissenschaftler ein sehr präziser Autor und Leser“, gibt Bölling zu bedenken. Lesestoff gibt es immer genug: Bachelor- und Masterarbeiten sowie Dissertationen sind nur ein Teil von Böllings Tag- und (meist) Abendlektüre. Als Mitherausgeber des Sammelbandes „Bischof Godehard von Hildesheim (1022-1038)“ redigierte er kürzlich ein 384-seitiges Buch. Die Aufsätze von Kolleg*innen liest er als Beiratsmitglied bei der Römischen Quartalschrift gegen und ist dabei auch für die Auswahl der Veröffentlichungen mitverantwortlich. An Schreibaufgaben mangelt es ebenfalls nie: Der Wissenschaftler verfasst Beiträge für Fachzeitschriften, Sammelbände, Bücher und Lexikonartikel.
Darüber hinaus umfasst der Aufgabenhorizont die Verwaltung der eigenen Professur. Bölling beschäftigt drei studentische Hilfskräfte, die ihn beim Korrekturlesen, Sekretariatsaufgaben und seinem Forschungskolloquium unterstützen. In regelmäßigen Jours Fixes setzt sich das kleine Team zusammen. Sowieso ist der Beruf des Wissenschaftlers alles andere als einsam, meint Bölling. Teamarbeit ist für ihn gang und gäbe, ob nun mit Kolleg*innen innerhalb derselben Disziplin oder ganz anderer Professionen. Für den Sammelband rund um Bischof Godehard arbeitete er über zwei Jahre lang mit den kooperierenden Herausgeber*innen Dr. Monika Suchan, Leiterin der Hildesheimer Dombibliothek und Thomas Scharf-Wrede, Direktor des Bistumsarchivs zusammen (siehe untenstehendes Foto). Die wissenschaftlichen Communities versammeln sich bei regionalen, nationalen und internationalen Tagungen und nicht zuletzt sind Expert*innen innerhalb eines Forschungsprojekts über Jahre Seite an Seite tätig.
Der Weg zum Forschungsprojekt führt über die Einwerbung von Drittmitteln. Dabei herrscht große Konkurrenz: Nur die vielversprechendsten Forschungsprojekte werden gefördert. Hat man bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft Erfolg, wird das Vorhaben für einen auf wenige Jahre begrenzten Zeitraum im bis zu siebenstelligen Bereich finanziert. Davon bezahlen die leitenden Wissenschaftler*innen unter anderem Mitarbeitende und Forschungsmaterial sowie -aufenthalte.
Wissenschaft als gesellschaftlicher Auftrag
Forscher*innen tragen die Verantwortung dafür, neues Wissen zu produzieren und damit die Gesellschaft voranzubringen. Die sogenannte Third Mission, also den Transfer von Wissenschaft in die Gesellschaft, erfüllt Bölling mit öffentlichen Vorträgen und Medienauftritten. Neben der Ausbildung des Nachwuchses und innovativer Forschung können Professor*innen auch die Universitäten maßgeblich mitgestalten. So ist Bölling in diversen Hochschulgremien vertreten, bei Berufungsverfahren anderer Professor*innen – auch außerhalb Hildesheims – dabei und an der Konzeption von Studiengängen beteiligt.
Zur Person: Bei Jörg Bölling wird Interdisziplinarität großgeschrieben. So kam es, dass er nicht ein, sondern gleich sechs Fächer in Münster und Venedig studierte: Katholische Theologie, Geschichte, Latein, Pädagogik, Historische Hilfswissenschaften und Musikwissenschaft. Danach führte er seine wissenschaftliche Karriere mit der Habilitation an der Georg-August-Universität Göttingen fort. Nach zwei Vertretungsprofessuren in Göttingen und an der Bergischen Universität Wuppertal forscht und lehrt er seit 2018 als Professor für Kirchengeschichte an den Universitäten Hildesheim und Hannover.
Zum Sammelband: Herausgeber und Verleger stellten den Sammelband „Bischof Godehard von Hildesheim (1022-1038). Lebenslinien – Reformen – Aktualisierungen“ am 2. September vor. Seit der Veröffentlichung im August 2024 wurde bereits die Hälfte der Auflage verkauft.
Inhalt: Bischof Bernward von Hildesheim ist noch heute präsent in Hildesheim, denkt man etwa an das St. Bernward Krankenhaus oder das Bernward-Denkmal im Hildesheimer Domhof. Bischof Godehard von Hildesheim, der als Bürgerlicher seine Nachfolge antrat, ist in Hildesheim hingegen weniger bekannt. In dem Sammelband wird er erstmals als bedeutsamer Reformer noch vor dem Beginn der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts thematisiert. Viele unterschiedliche Forschungsdisziplinen nehmen den mittelalterlichen Bischof in den Blick, der bis in die Gegenwart nachwirkt.