Das Erinnern wachhalten

Freitag, 27. Januar 2017 um 10:40 Uhr

Aus der Forschung: Die junge Wissenschaftlerin Wiebke Hiemesch recherchiert und schreibt, damit Lebens- und Leidensgeschichten nicht vergessen werden. Sie dokumentiert in ihrer Forschung die Kindheit in nationalsozialistischen Zwangslagern und wie Kinder diese Zeit überlebt haben.

Die Erziehungswissenschaftlerin Wiebke Hiemesch hat in ihrer Doktorarbeit untersucht, wie Kinder den lebensbedrohlichen Alltag im Konzentrationslager Ravensbrück überlebt haben. Die junge Wissenschaftlerin forscht in einer Arbeitsgruppe von Professorin Meike Baader an der Universität Hildesheim. Meike Baader und Dr. Tatjana Freytag sind Herausgeberinnen des Buches „Erinnerungskulturen: eine pädagogische und bildungspolitische Herausforderung”. In dem Buch geht es auch darum, wie Gedenken mit zunehmendem Abstand zum historischen Ereignis möglich ist.

„Die Gedenkstättenarbeit sieht sich zunehmend mit der Frage konfrontiert, wie Erinnerung praktiziert werden kann, wenn kaum noch Zeitzeugen leben. Schließlich basierte auch die pädagogische Arbeit über viele Jahrzehnte stark auf den Berichten von Überlebenden. Diese bezeugten durch ihre Anwesenheit und ihre Erzählungen die Geschehnisse“, sagt Professorin Meike Baader. „In Zukunft wird die Gedenkstättenarbeit viel stärker auf Archive und aufgezeichnete Dokumentationen zurückgreifen.“ Aber es gebe auch ganz andere Formen des Gedenkens, so habe beispielsweise die Universität Frankfurt sich entschieden, den 27. Januar als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus auch an der Universität  zu einem Erinnerungstag zu machen. An verschiedenen Instituten stehen eine Woche lang der Nationalsozialismus und seine Vernichtungspolitik im Zentrum von Veranstaltungen, Vorträgen, Filmen, Lesungen und Führungen. Im Rahmen der Erziehungswissenschaft gibt es zum Beispiel einen Vortrag zu  „Herrenmenschentum, Rassismus und Judenfeindschaft“ bei Lehrkräften. „Vielleicht ließe sich auch für Hildesheim über ein vergleichbares Format nachdenken“, sagt Baader. „In diesem Rahmen könnten auch studentische Arbeiten zum Thema präsentiert werden. Schließlich haben auch in dem Sammelband Studierende aus einem Seminar ihre Untersuchungen veröffentlicht, darunter zum Beispiel ein Beitrag über ein Mahnmal in Hannover“.    

Zu den Schwerpunkten des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim zählen neben „Diversity  Education“  und  auch bildungsgeschichtliche Fragen,  darunter  das  Aufwachsen   von   Kindern   und Jugendlichen im 20. und 21. Jahrhundert und damit auch während des   Nationalsozialismus. Baader begleitet zu diesem Thema mehrere Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler. So befasst sich etwa Jessica Vehse damit, wie heute bei Führungen durch Gedenkstätten über die verschiedenen Opfergruppen gesprochen wird.

Interview mit Erziehungswissenschaftlerin Wiebke Hiemesch

Im Interview beschreibt Wiebke Hiemesch, wie Kindern eine Welt „Stück für Stück zerstört wurde bis ihnen nicht einmal mehr das Recht auf den eigenen Namen blieb“. „Erwachsene und Kinder kämpften in den nationalsozialistischen Zwangslagern um kleinste Momente von zwischenmenschlicher Zuwendung und Schutz“, sagt Hiemesch. Die Erziehungswissenschaftlerin forscht an der Universität Hildesheim.

Sie haben gerade Ihre Doktorarbeit „Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück“ abgeschlossen und sich mit den  Lebenserinnerungen von überlebenden Frauen und Männern befasst. Was untersuchen Sie in der Forschung?

Wiebke Hiemesch: In meiner Doktorarbeit widme ich mich der Gruppe der Kinder im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Ich habe Interviews mit Menschen ausgewertet, die als junger Mensch das Konzentrationslager Ravensbrück überlebt haben. Ich frage, wie die Menschen über die Lagerzeit sprechen und was wir darüber möglicherweise über ihr damaliges Erleben erfahren. Unter den Interviewten ist auch eine Frau, die als Vierzehnjährige im Lager zeichnete – eine große Ausnahme angesichts der Extremsituation des Lagers. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Frau überlebte, die Zeichnungen aufbewahrte und der Gedenkstätte schließlich übergab. Auch die Zeichnungen habe ich mir im Rahmen meiner Forschung angeschaut. Sie zeigen Szenen und Personen aus dem Lager, wie beispielsweise eine Frauengruppe bei der körperlich und seelisch zermürbenden Zwangsarbeit. Ebenso finden sich Darstellungen, die Erinnerungen, Träume und Wünsche darstellen, zum Beispiel polnische Traditionen, christliche Motive und tanzende Frauen.

Eine Erkenntnis, zu der Sie in Ihrer Forschung kamen?

Zunächst konnte ich mit meiner Arbeit ein genaueres Bild davon zeichnen, wer die Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück waren, warum und mit wem sie dort hingebracht wurden und unter welchen unmenschlichen Bedingungen sie lebten. Kinder hatten in allen nationalsozialistischen Zwangslagern kaum eine Überlebenschance. Auch im (Frauen-)Konzentrationslager Ravensbrück starben die meisten von ihnen an Hunger, Kälte und Erschöpfung sowie an grassierenden Krankheiten, medizinischen Versuchen und auch durch gezielte Ermordungen. Die Interviewten beschreiben, wie den Kindern eine ihnen zuvor bekannte Welt Stück für Stück zerstört wurde, bis ihnen schließlich im Lager nicht einmal mehr das Recht auf den eigenen Namen blieb. Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Lebensbedrohung kämpften Erwachsene und Kinder um kleinste Momente von zwischenmenschlicher Zuwendung und Schutz, jedoch immer nur soweit ihnen dies körperlich und seelisch möglich war.

Warum ist Ihre Forschung keine Zeitverschwendung – warum ist Ihre Forschung wichtig?

Viele Menschen, mit denen ich sprach, waren von meinem Promotionsthema überrascht. Ihnen war bis dahin nicht bekannt, dass auch Kinder in den nationalsozialistischen Zwangslagern eingesperrt und durch die industrielle Massenermordung umgebracht wurden. Auch in der Erziehungswissenschaft wissen wir bisher relativ wenig über die jüngsten Opfer des Nationalsozialismus. Dieser Leerstelle wollte ich mit meiner Doktorarbeit begegnen. Ich möchte das kindheitshistorische Wissen ebenso erweitern, wie eine Aufmerksamkeit für die Lebens- und Leidensgeschichten der Kinder in nationalsozialistischen Konzentrationslagern schaffen.

Wie haben Sie die Menschen gefunden, die vor mehr als 70 Jahren die Zeit im Konzentrationslager überlebt haben, bzw. welches Interviewmaterial haben Sie ausgewertet?

Eine große Unterstützung waren die Leiterin Dr. Insa Eschebach sowie die Mitarbeiterinnen der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Sie vermittelten mir ein Gespräch mit einer Überlebenden, die ich in Frankreich besuchte. Das war eine beeindruckende Begegnung. Gerne hätte ich auch die anderen Gespräche selbst geführt. Doch müssen wir bedenken, dass diese Gespräche immer wieder von neuem die Gefahr einer Retraumatisierung in sich bergen. Einige Überlebende haben trotz dessen bereits mehrmals Auskunft gegebenen. Eine zukünftige Aufgabe von Forschung ist es, sich diesen vorhandenen Interviews zuzuwenden. Für meine Doktorarbeit sah ich an der FU Berlin Interviews des Visual History Archives der Shoah Foundation ein. Der Gesamtbestand umfasst über 50.000 Interviews. Es gibt auch kleinere Projekte, wie das Archiv „Die Frauen von Ravensbrück“ von Loretta Walz, die mir ebenfalls Interviews zur Verfügung stellte. Und die Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter führen selbst Gespräche, die über die jeweiligen Archive einsehbar sind.

Die Arbeit in Archiven ist ein wichtiger Bestandteil Ihrer Forschung?

Neben der reinen Schreibtischarbeit musste ich zahlreiche Archivreisen unternehmen, um die vorhandenen Interviews oder bisher wenig aufgearbeitete Archivbestände vor Ort einzusehen. Die Interviews sind aber nicht immer in deutscher oder englischer Sprache geführt. Also ließ ich Interviews aus dem Polnischen und dem Französischen übersetzen, die jetzt für weitere Forscherinnen und Forscher zugänglich sind. Um dies möglich zu machen, habe ich viel Unterstützung erfahren, etwa von der Universitätsgesellschaft Hildesheim, durch die die notwendigen Forschungsreisen und Übersetzungen überhaupt erst möglich wurden.

Welche Verantwortung tragen Sie als Wissenschaftlerin?

Die Befreiung der Zwangslager liegt mittlerweile fast 72 Jahre zurück. Gegenwärtig zeugen fast nur noch die „Child Survivors“ von den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus. Sie sind die letzten Zeuginnen und Zeugen, auf ihnen liegt eine enorme Last. Aber auch sie werden bald nicht mehr persönlich berichten können. Ich bin überzeugt, dass die jüngere Generation sich der Verantwortung stellen muss, als sekundäre Zeuginnen und Zeugen dafür einzutreten, dass deren Lebens- und Leidensgeschichten nicht vergessen werden. Es bleibt zudem eine immerwährende Aufgabe, die Auseinandersetzung mit der Rolle von Wissenschaft für die Etablierung, Ausbreitung und Umsetzung von rassistischen und menschenverachtenden Ideologien als Bestandteil von Lehre und Forschung zu etablieren.

Nun sind Sie fertig mit Ihrer Promotion an der Universität in Hildesheim und tragen den Doktortitel – werden Sie etwas vermissen?

Ich hatte das Glück während der Promotionsphase von einem Stipendium des Studienwerks Villigst e.V. gefördert zu werden. Dies ermöglichte mir eine äußerst intensive Arbeit. Die Fertigstellung meines Manuskripts ist nun eine Weile her und ich vermisse hin und wieder die Möglichkeit mich erneut mit dieser Intensität einem Thema zuwenden zu können.

Haben Sie Sorge, wie es nun beruflich weitergeht?

Wie bei der Promotion lernt man die Vorteile und Tücken der Post-Doc-Phase erst kennen, wenn man tatsächlich drinsteckt. Man kann auf das zurückblicken, was man geschafft hat und man kann sich neuen Herausforderungen zuwenden. Entscheidet man sich dafür, an der Uni zubleiben, so ist mein Eindruck, befindet man sich zugleich erneut in einer unplanbaren und prekären Phase, die einem den Eindruck vermitteln kann, dass das Wissenschaftssystem nicht allzu viel für seinen Nachwuchs tut.  
Deshalb freue ich mich besonders, dass ich zusammen mit Prof. Dr. Meike Sophia Baader ein neues Projekt plane. Wir wollen gemeinsam an die Ergebnisse meiner Doktorarbeit anschließen und einen neuen Aspekt in den Blick nehmen, ein im Verborgenen organisiertes Unterrichtsangebot der polnischen, weiblichen Gefangenen im Konzentrationslager Ravensbrück. Auch den Zeichnungen aus dem Lager wollen wir uns noch einmal dezidierter zuwenden.

Die Fragen stellte Isa Lange.

Zur Person

Dr. Wiebke Hiemesch, 31, geboren in Hannover, Titel der Doktorarbeit „Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück. (Über-)Lebenserinnerungen“, betreut durch Prof. Dr. Meike Sophia Baader von der Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim sowie Prof. em. Dr. Juliane Jacobi vom Institut für Pädagogik der Universität Potsdam.

Einblicke in Forschung

Das Interview mit Wiebke Hiemesch ist Teil einer fortlaufenden Serie über Doktorandinnen und Doktoranden an der Universität Hildesheim. Wer Einblicke in seine Arbeit, Forschungsmethoden und wissenschaftliche Erkenntnisse geben möchte, kann sich gerne in der Pressestelle bei Isa Lange melden (presse@uni-hildesheim.de).


Die Erziehungswissenschaftlerin Wiebke Hiemesch hat gerade ihre Doktorarbeit bei Professorin Meike Baader abgeschlossen. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Die Erziehungswissenschaftlerin Wiebke Hiemesch hat gerade ihre Doktorarbeit bei Professorin Meike Baader abgeschlossen. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim