Care Leaver: Erwachsen werden ohne Eltern

Montag, 10. November 2014 um 12:48 Uhr

Dass Jugendliche nicht in der Herkunftsfamilie leben, ist selten ein Thema auf dem Campus. Viele junge Menschen die im Heim, in der Pflegefamilie und Wohngruppe aufwachsen, erhalten kaum Unterstützung beim Übergang in das Erwachsenenleben, Hilfen enden abrupt. Das Institut für Sozial- und Organisationspädagogik baut mit Studierenden ein Netzwerk auf und erforscht die Bildungsbiografien der jungen Leute.

Eine Forschergruppe der Universität Hildesheim geht der Frage nach, was aus Kindern und Jugendlichen wird, die im Heim, in der Pflegefamilie und in betreuten Wohngruppen aufwachsen und diese Erziehungshilfen verlassen. Dabei verfolgen sie auch Übergänge in Hochschulen. Die jungen Leute können in ihrer Bildungslaufbahn nur bedingt auf familiäre Unterstützung zurückgreifen. Von ihnen wird früh viel erwartet, etwa ein selbstständiges Leben im eigenen Wohnraum mit 18 Jahren. Die Hilfen enden abrupt. Ein Drittel der jungen Erwachsenen besuchen zum Zeitpunkt der Beendigung der Hilfe weder eine Schule noch machen sie eine Ausbildung. Ein Team um Professor Wolfgang Schröer untersucht in mehreren Projekten Bildungswege der Care Leaver, also junger Menschen, die außerhalb ihres Elternhauses aufgewachsen sind.

So wurden umfangreichere Daten über die Lebenswege von Care Leavern in Deutschland und gelungene Übergangsmodelle in anderen Ländern erfasst und wie Organisationen den Übergang in das Erwachsenenleben begleiten. Mit Studierenden wurden biografische Interviews geführt – wie verlief ihr Weg in die Uni? In einer Studie mit rund 250 Jugendlichen, die derzeit in Jugendhilfeeinrichtungen leben, untersuchen die Forscher, welche Unterstützung die befragten 16-Jährigen auf ihrem Bildungsweg erhalten und welche Erwartungen an sie gestellt werden. Derzeit entsteht ein Arbeitsbuch, das sich an Fachleute in der Kinder- und Jugendhilfe wendet.

Gemeinsam mit Betroffenen haben die Sozialpädagogen seit 2012 das bundesweite Netzwerk „Care Leavers in Deutschland" aufgebaut. Mittlerweile wurde ein Verein gegründet. Die jungen Erwachsenen entwickeln Informationsmaterial, einen Flyer, drehen einen Film und geben Tipps – zum Beispiel, wie man einen Bafög-Antrag stellen kann, ohne die Einkommensnachweise der Eltern vorlegen zu müssen.

Auch die Aktivitäten in Niedersachsen sollen regional weiterentwickelt werden. Gemeinsam mit sechs weiteren Hochschulen aus Hildesheim, Emden, Holzminden, Oldenburg und Vechta wollen die Sozialpädagogen auf die Lebenssituation von Studierenden mit Jugendhilfeerfahrung aufmerksam machen und sie auf den Weg zu höheren Bildungsabschlüssen unterstützen. „Junge Menschen, die in der stationären Jugendhilfe aufgewachsen sind, sind wesentlich seltener als ihre Peers an Hochschulen anzutreffen. Care Leaver müssen den Übergang in Selbständigkeit früher, schneller und in der Regel ohne familiäre Unterstützung bewältigen", so die Sozialpädagogin Katharina Mangold. Mit dem Projekt „Care Leaver an Hochschulen in Niedersachsen“ begegnet die Hildesheimer Arbeitsgruppe dieser Chancenungleichheit. Das Niedersächsische Wissenschaftsministerium fördert das Projekt im Rahmen des Programms „Wege ins Studium öffnen“. Dabei gehe es nicht allein um harte und finanzielle Faktoren, sondern darum, „sich bewusst zu machen, was es für unterschiedliche Lebenslagen an unserer Uni gibt", so Mangold.

Hochschulöffentliche Informationsveranstaltung

Sara Milde und Katharina Mangold vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim laden zur Informationsveranstaltung ein. Dr. Eric van Santen (DJI München) spricht mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Hochschulen, Jugendhilfe und Studierenden über die Lebenssituation von Care Leaver an Hochschulen. Die Diskussion „Bildungserfolgreiche Jugendliche in stationären Hilfen zur Erziehung? – Das gibt's doch nicht!“ findet am 10. November 2014 um 16.15 Uhr im Hörsaal 3 am Hauptcampus der Universität Hildesheim statt. Insbesondere junge Menschen mit Jugendhilfeerfahrung – aber auch alle anderen Interessierten – sind herzlich eingeladen.

Unterstützung: Studienberatung und Stipendienberatung ansprechen

Betroffene und am Thema Interessierte können sich an Katharina Mangold wenden (mangoldk[at]uni-hildesheim.de). Die Studienberatung unterstützt in der Orientierungsphase und berät Studieninteressierte, Studierende gehen in Jugendzentren und informieren Schülerinnen und Schüler über Wege an die Hochschule und Unterstützungsmöglichkeiten. Dabei gehe es nicht darum, immer mehr junge Leute an die Hochschulen zu holen, sondern aufzuzeigen, dass ein Studium ein möglicher, denkbarer Weg ist, sagt Studienberater Martin Scholz. Die Stipendienberatung der Universität gibt einen Überblick über Stipendienprogramme und hilft bei der Antragstellung weiter. Markus Langer von der Stipendienberatung ermutigt junge Leute, sich um ein Stipendium zu bewerben. Der Sozialfonds springt zudem in unerwarteten Notlagen ein.


Benjamin Strahl und Katharina Mangold führen biografische Interviews mit jungen Erwachsenen: Spielen sie mit dem Gedanken, zu studieren? Wie verlief der Weg an die Uni? Gemeinsam mit Studierenden mit Jugendhilfeerfahrung bauen die Sozialpädagogen der Universität Hildesheim ein bundesweites Netzwerk auf. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Benjamin Strahl und Katharina Mangold führen biografische Interviews mit jungen Erwachsenen: Spielen sie mit dem Gedanken, zu studieren? Wie verlief der Weg an die Uni? Gemeinsam mit Studierenden mit Jugendhilfeerfahrung bauen die Sozialpädagogen der Universität Hildesheim ein bundesweites Netzwerk auf. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim