Die Gottesfrage im Jahr 2021 – welche Metaphysik brauchen wir?

Dienstag, 27. April 2021 um 11:41 Uhr

In einer internationalen Workshop-Tagung sind Wissenschaftler*innen aus philosophischer und theologischer Sichtweise der Frage nachgegangen, wieviel und welcher Art von Metaphysik das Reden über Gott bedürfe. Ausgangs- und Referenzpunkt der Tagung bildete das zweibändige Spätwerk von Jürgen Habermas „Auch eine Geschichte der Philosophie“, das einen problemorientierten Durchgang durch die okzidentale Philosophiegeschichte am Leitfaden des Diskurses von Glauben und Wissen darstellt.

Angesichts gegenwärtiger Umbrüche und Transformationsprozesse in Gesellschaft und Kirche lässt sich auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht in der Philosophie und in der Theologie eine zunehmende Sprachlosigkeit in der Gottesfrage konstatieren. So lautete die Ausgangsfrage des Online-Workshops: Lässt sich überhaupt noch eine rational begründete Rede von Gott im 21. Jahrhundert aufrechterhalten?

Die Idee zu der Tagung war entstanden aus einem Lektürekreis zum Spätwerk des Philosophen Jürgen Habermas heraus. Diesen hatten Prof. Dr. René Dausner, Professor für Systematische Theologie an der Universität Hildesheim und Prof. Dr. Thomas M. Schmidt, Professor für Religionsphilosophie an der Goethe Universität Frankfurt a. M. und ehemaliger Assistent von Habermas, gemeinsam mit Prof. Dr. Jakub Sirovátka, Professor für Philosophie und Religiöse Studien an der tschechischen Universität in České Budějovice sowie an der Karls Universität Prag (Tschechien) schon vor längerer Zeit ins Leben gerufen. Mit der Online-Tagung sollte der fachliche Austausch auch einem weiteren Personenkreis zugänglich gemacht werden.

Neben den drei vorgenannten Organisatoren waren als Referenten außerdem vertreten: Prof. Dr. Christoph Böttigheimer, Professor für Fundamentaltheologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Prof. Dr. Georg Essen, Professor für Systematische Theologie an der Humboldt Universität zu Berlin und Prof. Dr. Holm Tetens, Professor em. für Theoretische Philosophie an der Freien Universität zu Berlin.

„Jürgen Habermas hat mit seinem zweibändigen Spätwerk ‚Auch eine Geschichte der Philosophie‘ der Philosophie und der Theologie einen denkerischen Impuls für das 21. Jahrhundert formuliert, der zentral in der Frage nach der Denkbarkeit Gottes besteht“, so René Dausner im Anschluss an die Tagung. „Es ist der Mühe wert, dieser Frage intensiver nachzugehen und die Koordinaten von Glauben und Wissen philosophie- und theologiehistorisch heute neu zu vermessen.“

Den zentralen Diskussionspunkt der Tagung bildete die durch Habermas geprägte Charakterisierung des nachmetaphysischen Denkens, dessen Genealogie und Entstehungsgeschichte in seinem neuen Buch nachgezeichnet wird, um die Frage nach der Universalität und Gültigkeit der im okzidentalen Denken entfalteten Geltungsansprüche bezüglich der Gottesfrage zu diskutieren.

Die abendländische Metaphysikgeschichte lasse sich – so Prof. Dr. Holm Tetens in der zentralen These seines Beitrags – deuten als komplexe kontroverse Antwortversuche auf die folgende Leitfrage: Lässt sich überhaupt und wie lässt sich die Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr als ein vernünftig eingerichtetes Ganzes denken? Die Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr werden in diesem Kontext nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Bemühungen um ein gutes und gelingendes Leben bedacht.

Schwerpunkt des Vortrags von Prof. Dr. René Dausner, Professor für Systematische Theologie an der Universität Hildesheim, waren die Transzendenzvorstellungen im nachmetaphysischen Denken. Dausner ging in seinem Beitrag von der doppelten Annahme aus, dass das nachmetaphysische Denken zwar eine Verabschiedung der traditionellen Metaphysik im Sinn der Onto(theo)logie, nicht aber eine Preisgabe von Transzendenzvorstellungen bedeutet.

Im Gegenteil: Das kritische Einspruchsrecht der Philosophie gegenüber dem Naturalismus und Determinismus speist sich aus der notwendigen Bezugnahme auf Transzendenz, die in der Philosophie als eine Transzendenz von innen ihren Ort hat. Für die Genealogie des nachmetaphyischen Denken ist das Erbe eines religiösen Transzendenzbewusstseins keinesfalls irrelevant, auch wenn die Zukunft von Religion für den philosophischen Transzendenzbezug keine notwendige Bedingung sein muss.

Unter dem Titel „nachmetaphysisches Denken“, so Prof. Dr. Thomas M. Schmidt, vertritt Habermas ein prozedurales Verständnis von Vernunft. Nur eine Form von Religion, die sich noch nicht restlos in reine Weltanschauung aufgelöst hat, sondern den Bezug zur rituellen Praxis einer Gemeinde bewahrt, stellt eine echte Herausforderung für diese prozedurale Gestalt von Vernunft dar. Der sakrale Komplex, der aus rituellen Praktiken des Umgangs mit Mächten des Heils und des Unheils und aus mythischen Weltbildern besteht, bildet einen anthropologisch tiefsitzenden Mechanismus, der im Falle von Krisen der kommunikativen Vergesellschaftung, die zu Zerfall und Anomie, Gewalt und Rebellion führen können, eine Art „Ausfallbürgschaft“ übernehmen kann.

Prof. Dr. Jakub Sirovátka zeichnete die von Habermas entworfene Charakterisierung der Religionsphilosophie Kants als einer Rekonstruktion der ehemals theologischen Inhalte aus der Position einer nachmetaphysischen Vernunft nach. Laut Habermas geht Kants Versuch letztendlich fehl, alleine aus der moralischen Vernunft einen absoluten Sollensanspruch samt den Postulaten der Unsterblichkeit der Seele und des Daseins Gottes abzuleiten. Gegen die Habermassche Deutung wendet Sirovátka kritisch ein, dass für Kants Ethik und Religionsphilosophie das Motiv der Hoffnung eine konstruktive Rolle spielt und dass die deontologische Ethik konstitutiv mit dem Bemühen um die gemeinschaftliche Errichtung einer moralischen Welt verbunden ist.

Prof. Dr. Christoph Böttigheimer fragte nach dem Rationalitätsaufweis christlichen Glaubens im Kontext nachmetaphysischen Denkens. Ausgehend vom Grundproblem menschlicher Existenz, nämlich der Erfahrung von Endlichkeit und Kontingenz, versuchte er den Wahrheitsanspruch christlichen Glaubens ohne Zuhilfenahme metaphysischer Reflexionen einzulösen. Besondere Bedeutung misst er dabei der sozialphilosophischen Anerkennungstheorie bei. In seinem Vortrag ging Prof. Dr. Georg Essen der Frage nach, ob die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens es erlaube, die Zuordnung von Vernunft, Offenbarung und Geschichte auch als ein Bestimmungsverhältnis und eben nicht nur als ein Aufhebungsverhältnis zu begreifen.

„Die Tagung hat uns Organisatoren zweierlei gezeigt,“ so das Resümee von René Dausner. „Erstens, dass die gemeinsame Lektüre eines so herausfordernden Werks wie das von Jürgen Habermas gegenüber aller notwendigen Einzellektüre einen unerschöpflichen Mehrwert darstellt; und zweitens, dass eine Auseinandersetzung mit dem, was Habermas ‚Transzendenz von innen‘ nennt, um der Zukunft der Menschheit und der Menschlichkeit willen unaufgebbar ist.“

Dementsprechend waren sich alle Teilnehmer*innen der Online-Tagung abschließend einig, dass eine Fortsetzung des Austauschs in einem größer angelegten, internationalen Veranstaltungsformat sehr wünschenswert sei.

 


Ins Leben gerufen wurde die Online-Tagung von Prof. Dr. René Dausner, Professor für Systematische Theologie an der Universität Hildesheim, Prof. Dr. Thomas M. Schmidt, Professor für Religionsphilosophie an der Goethe Universität Frankfurt a. M. sowie Prof. Dr. Jakub Sirovátka, Professor für Philosophie und Religiöse Studien an der tschechischen Universität in Ceské Budejovice und der Karls Universität Prag (Tschechien). Screenshots: Dennis Stammer, René Dausner

Screenshot der Online-Tagung: Dennis Stammer.

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