Ein Gespräch mit Florian Kessler
Über eine Studienzeit in Hildesheim, Selektionsmechanismen, Konformismus und Klasse, Netzwerke, Buchmessen und das Berufsfeld Lektorat.
„Ich sitze im Glashaus und sage, hey, da ist ein Glashaus.“
Florian Kesslers Artikel „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn“ erschien 2014 in der Zeit und löste eine Debatte über Konformismus und Klasse im Literaturbetrieb aus. Er kritisierte, dass Literatur innerhalb einer sehr weißen, westeuropäischen und sehr männlichen Blase entsteht, dass es einen bildungsbürgerlichen Habitus gibt, alle einen ähnlichen Hintergrund haben, und meist Familien, die das Studium finanzieren. In Diskussionen fehlt die Reibung, sie werden brav, und vor allem elitär.
Auch Florian Kessler ist Arztsohn, seine Mutter Lehrerin und die Großeltern Germanist*innen. Florian Kessler nutzte sein Privileg, um seine eigene Blase zu kritisieren. Es sei natürlich leichter zu sagen „das ist ein Glashaus, wenn man selbst drinnen sitzt“, sagt er.
In seinem Artikel geht er auch auf die „Vorgeschichte des heutigen Konformismus“ ein, denn das sei ein Selektionsmechanismus, der bestimmt wer in die Literaturblase hineindarf, und wer nicht.
Er schreibt von der Aufnahmeprüfung zu seinem Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“. „Die prüfenden Professoren im Raum J305 liebten mich für dieses Zitat [von Roland Barthes] und für meine Hornbrille und für mein kunsteuphorisches Auftreten vermutlich auch.“ […] „Ich wiederum lachte viel und an den richtigen Stellen.“
In unserem Gespräch meint Florian Kessler, dass ein Grund für dieses Phänomen sei, dass sich „gleich und gleich gerne gesellt“. Die meist männlichen Professoren fühlten sich vielleicht in ihm, gespiegelt, weil er sie an sich selbst erinnerte.
Die Frage, wer hat welche Ausgangsposition und steht damit vor welchen Hürden um „mitschreiben“ zu können, ist immer noch relevant. In einer kurzen Diskussion geht es um die Zugänglichkeit von Seminaren, die fehlende Transparenz für Ausschlusskriterien, und die Relevanz einer Reflexion wer aus welchen Gründen beispielsweise in Anthologien publizieren darf und wer ausgeschlossen wird.
Aus dem Publikum kommt die Frage: „Aber musste es so sein, dass wer mit bildungsbürgerlichem Hintergrund diesen Artikel schreibt, und warum ist das so?“
Darauf antwortet Florian Kessler: Zum Glück ändere sich das gerade stark, aber leider sei es so gewesen, dass er eben ernst genommen wurde.
„Für mich ist es bequem. Für andere unbequem. Ich riskiere herzlich wenig.“, sagt er.
Übers Reinglitschen: Soziale Faktoren der Literaturbetriebswirtschaftslehre
Dass es in den Selektionsmechanismen des Literaturbetriebs ausschließlich um literarische Qualität geht, ist eine Illusion. Auch nach der Schreibschule, auf Buchmessen und in der Verlagswelt spielen noch andere Faktoren mit. Florian Kessler erzählt vom Glitschfaktor der Buchmessen, Netzwerken und Stipendienvergaben.
„Ökonomisch gibt es eigentlich keinen Grund Messen zu veranstalten, es wäre alles auch übers Internet möglich.“, meint er. Oft geht es um den „glitschigen Bereich zwischen echt am Text sitzen, und sich gut kenne, verstehen, mögen, und in Wahrheit Gleichsein.“ Das schließt aber diejenigen aus, denen diese Art der Vernetzung nicht liegt, oder die das nicht wollen. Gleichsein bedeutet immer auch Ausschluss.
Hildesheim war für Florian Kessler eine gute Zeit, es war faszinierend, sich so viel mit Gegenwartsliteratur auseinanderzusetzen und Menschen zu treffen, die das auch interessierte. Doch auch die Domäne gehört zum Betrieb, den er unter anderem als „steifleinern, patriachal, konservativ und stockig“ beschreibt. Und auch in Hildesheim gab und gibt es den Glitschfaktor: Er beschreibt: „Bisschen feiern, bisschen weiter reinrutschen. […] Es gibt nichts ohne Normsetzung.“
Ähnlich unverblümt spricht Florian Kessler aus, dass Stipendienvergaben durchaus über Bekanntschaft mit Lektor*innen verlaufen. Auf die Frage, ob er Tipps hat, wie man als Journalist*in zu einer Zeitung kommt, antwortet er, dass auch hier Näheverhältnisse helfen würden, zum Beispiel Praktika. Ein Zusammentreffen der richtigen Person, zur richtigen Zeit mit dem richtigen Thema sei entscheidend.
Auf die Frage, ob denn die Bellaleitung und Prosanova immer noch als Referenz gilt, und ob das für ihn Türöffner waren, antwortet er:
„Ja, aber auch Türschließer. Ich habe es nicht geschafft tolle Bücher zu schreiben.“, denn so wie das öfter passiere, bei Berufen rund um Literatur, vertrete man andere Menschen, die sich selbst verwirklichen. „Eine Entscheidung für den Betrieb, ist auch eine gegen das eigene Schaffen.“
Er schätzt, dass insgesamt „Der*die ist ja eine Nette“-Argumente, „subjektive Gründe“ und „Kontexte in der Vita“ bei der Jobsuche eine größere Rolle spielen als die Bellaleitung und Prosanova. „Dieses diffuse sich einen Namen machen“, würde es gut beschreiben.
Das eigene Schreiben
Die Entscheidung „den Apparat zu vertreten“, also, dass er das eigene Schaffen dem Entstehen Bücher anderer hintenanstellt, war für Florian Kessler nicht von Anfang an klar. Ehrlich und offen erzählt er von seinem jungen Schriftsteller-Ich, den großen Träumen, und dass er sich irgendwann in Hildesheim nicht mehr Zugehörig fühlte und nach Berlin zog. Dort schottete er sich ab und verbrachte einen Sommer mit einem Romanprojekt, das „riesige Kunst“ werden sollte. Er bezeichnete diesen Sommer als „Disaster“ und sagte, dass es wichtig sei, sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob man tolle*r Künstler*in sein will, oder ob es wirklich um das Schreiben geht.
Er habe für sich herausgefunden, dass für ihn ein Arbeitsumfeld gut ist, in dem es nicht immer darum geht, der*die Allerbeste zu sein. Auch dass es für diese Entscheidung ein Privileg braucht, und dass andere nie in die Situation kommen, das entscheiden zu dürfen, ist ihm bewusst.
Das Lektorat als Berufsfeld und der Hanser Verlag
Seit 2015 ist Florian Kessler Lektor im Hanser Verlag. Dieser wurde 1928 gegründet, und ist bis heute im Familienbesitz von Carl Hanser. Der Verlag gehört zu den wenigen konzernunabhängigen Verlagen in Deutschland. 2014 wurde die Leitung von Jo Lendele übernommen.
Auf die Frage nach seinem Berufsalltag bei Hanser, erzählt Florian Kessler, dass Hanser früher ein Verlag mit großer habitueller Ausstrahlung, aber tollem Programm war. Mittlerweile ist das Interesse an Gegenwartsliteratur im Verlag groß, und es gibt den Wunsch „jünger, weiblicher und vielfältiger“ zu werden.
Das tatsächliche Bücher-Lektorieren, sagt Florian Kessler, sei der „schöne, kleine Teil“, aber ein großer anderer Teil seines Berufs sei „viel, viel Kommunikation“, dazu gehöre „nach Autor*innenfotos fragen, Instagramlive machen“, usw. Er sei sozusagen „Schnittstelle zwischen Verlag und Autor*in“. Es gibt zwei zentrale Sitzungen pro Woche, und im Idealfall sollten Autor*innen ein Werk lang begleitet werden. Sie versuchen viel Textarbeit zu machen, es sei aber unterschiedlich, wie sehr das Autor*innen auch wollen. „Manche wollen das, manche hassen es, und wollen ein Manuskript hinlegen.“ Für ihn seien die Runden, in welchen Textarbeit gemacht wird, ein schöner Teil der Arbeit, das sei ähnlich wie Textwerkstätten.
Obgleich es manchmal eine Herausforderung ist, für Texte eine Öffentlichkeit zu finden, ist es immer wieder überraschend, wie die Instagrambubble neben dem klassischen Feuilleton zur Diskursfläche wird. Jeder Text braucht eine andere Art der Öffentlichkeit. „Die tollsten Texte sind die, die Talk in Town sind.“ Allerdings gibt es viele „Talk in Town‘s“ und es ist wichtig zu fragen, „wen kann das interessieren, und aus welchen Gründen“.
„Wer ist für den Beruf als Lektor geeignet?“, wird gefragt. Florian Kessler antwortet: „Leute, die sehr viel Spaß an Gegenwart und Gegenwartskultur haben, für die Literatur kein abgekoppeltes Phänomen ist, die sich für Themen, Schreibweisen, Formen interessieren.“
Als Lektor*in sei man wie in einer „coolen Zeitmaschine“. Das, was in Zukunft gelesen wird, wird gerade produziert, und in diesem Beruf befindet man sich mitten in Diskussionen, Tendenzen und Strömungen. Außerdem müsse man „sehr gerne sehr viel kommunizieren, moderieren“, aber vor allem „sehr gerne lesen und schreiben.“
Aus dem Publikum kommt dann die Frage „Wie schaffst du es, dich auf dem Laufenden zu halten?“ Florian Kessler meint, dass Veranstaltungen wie das Prosanova, Treffen mit anderen Generationen wichtig sei. Er erzählt, dass er auf einen Kongress gefahren ist um die Autorin Mithu M. Sanyal zu treffen, weil er ihre Sachbücher „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“, und „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ interessant fand. Er wollte auf sie zugehen, und fragen, ob sie ein drittes Sachbuch schreiben will. Dann meinte sie „ich will einen Roman schreiben.“, und so entstand „Identitti“. Es sei selten, aber toll, wenn es so passiert.
Was er sonst macht, um auf dem Laufenden zu bleiben, sei „Vorschau durchgucken, Trends beobachten, US-Verlage im Blick haben“. Die seien im Guten wie im Schlechten unsere Zukunft. Und außerdem ist er viel auf Twitter und Instagram unterwegs.
Der Stellenwert digitaler Diskursflächen wurde auch in der Debatte über den Roman „Stella“ von Takis Würger ersichtlich. Sowohl im Feuilleton als auch auf Social Media wurde das Buch heftig diskutiert. Florian Kessler meint: „Das war ein guter Effekt vom Betrieb.“ „Es entstand eine Polemik und eine Gegenpolemik“. Allerdings gehe es in solchen Diskussionen oft mehr um die Effekte, als um Literatur, meint er, aber es sei gut, wenn der Verlag direkt mit Reaktionen konfrontiert wird.
Manchmal nehme sich Florian Kessler vor „ruhiger zu bleiben“, und beim nächsten Mal „nicht mehr so rumzurampen“. Er sagt aber auch: „Es liegt mir, mich da so reinzuwerfen.“
Auch auf die hohen Stapel der unverlangt eingesandten Manuskripte kommen wir zu sprechen. „Werden die gelesen? Hat man bei Hanser eine Chance, ohne Agenturen, und auf diesem Weg, zu einer Veröffentlichung zu kommen?“, wird Florian Kessler gefragt. Er antwortet ernüchternd: Eigentlich nicht. Die Chancen sind sehr klein. Wettbewerbe, ein häufig erscheinender Name, Empfehlungen, Agenturen oder Instagram sei der typischere Weg für Autor*innen um an Verlage zu kommen.
Aussicht auf den Literaturbetrieb
Es ist ein „schönes, angenehmes Blasenphänomen, dass wir da jetzt rumwünschen können.“, sagt Florian Kessler auf die Frage, was seine Aussichten und Wünsche für den Literaturbetrieb sind.
Zwischen ökonomischen Veränderungen, großen Konzern-Verlagen, verändertem Leseverhalten, unglaublich großen Summen auf Spitzentiteln, sei es für unabhängigere Verlage immer schwieriger, und würde immer prekärer werden. Es gibt eine „Indie-Landschaft“ aus Kleinverlagen. Und inmitten dieses „ökonomischen Szenario“, ist ein „Reden darüber, was besser werden könnte, Luxus.“
Gleichzeitig findet Florian Kessler, dass es auch positive Entwicklungen im Literaturbetrieb gibt. Es ist „viel Power“ da. „Die Welt schreit danach, dass auf sie mit politischen Fragestellungen reagiert wird.“ Es ist „Gesprächsbereitschaft“ da, eine „gewisse Form von Niederschwelligkeit“, „Frauen spielen in Verlagsprogrammen eine größere Rolle“, und es kommt vor, dass Twitter-Diskurse öffentlichen Druck und Veränderung erzeugen.
Zum Nach- und Weiterlesen
- Mut Bürger: Die Kunst des neuen Demonstrierens. Hanser, München 2013
- Werkstattgespräche. Funktionen und Potentiale einer Form literarischer Praxis. Blumenkamp, Salzhemmendorf 2012
- Unbetrieb. Essay über die deuschsprachige Gegenwartsliteratur und den Literaturbetrieb. Zeitschrift Bella triste Nr. 39, 2014
- Lassen Sie mich durch ich bin Arztsohn
https://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch/komplettansicht
- Interview in der Frankfurter Rundschau:
https://www.fr.de/kultur/literatur/lektor-sein-eine-utopie-11067434.html
Zusatz-Quellen
Lassen Sie mich durch ich bin Arztsohn
https://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch/komplettansicht
Florian Kessler, *1981, ist Kulturjournalist und Lektor. Er studierte „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ in Hildesheim, war Mitherausgeber der Bella Triste, und beim Prosanova 2005 im Leitungsteam. Seit 2015 ist er Lektor bei Hanser, davor arbeitete er als Journalist. 2013 erhielt er den Förderpreis des Nicolas-Born-Preises.