Der Tod meines Freundes, des Professors
von anonym
Prof. Dr. A. war kein stereotypischer Philosoph. Er lebte ein einfaches Leben im 3. Stock eines Plattenbaus. Sein Lieblingsessen waren Frikadellen, er trank gern Bier, kannte jede Abfahrtzeit des lokalen Zugs, hörte Barockmusik und war Autor einer Einführungsschrift zu Wittgenstein. Seine Lehrweise war präzise, aber geduldig. Er erklärte zugänglich, aber nicht ohne Anspruch. Wenn es um Wittgenstein ging, kam er schnell in Fahrt, auch wenn er immer sachte sprach. Er erklärte mir häufig, dass Wittgenstein auch nicht „zu ernst“ genommen werden soll. Dann wünschte er sich von mir, dass ich eine Zigarette anzündete, weil er den Duft so liebte. Er hatte aufgehört seine Pfeife anzustecken. Er konnte sich aber auch nicht entsinnen, wo sie gewesen ist, sonst hätte er sie bestimmt auch noch zu feierlichen Anlässen angemacht und erst wieder ausgehen lassen, wenn er in tiefster Nacht zu Bett gegangen wäre. Aber er erinnerte sich nicht, ob sie im Keller lag oder in der Garage. Er erinnerte eh nicht mehr so viel. A. war in den letzten Jahren seines Lebens demenziell verändert. Ich entwickelte zu ihm eine tiefe Freundschaft, die über seinen Tod hinausgeht. Und auch wenn sich sein Tod schon bei unserem ersten Treffen angebahnt hat, war ich erschrocken, als ich von ihm erfuhr. Fast so als hätte ich nie in Erwägung gezogen, dass er sterben könnte.
Wie ich die Möglichkeit bekam mit ihm Zeit zu verbringen
Es waren noch einige Wochen bis mein Studium in einer Universitätsstadt anlief. Bis dahin wollte ich noch ein wenig Geld verdienen, um neben dem Studium weniger arbeiten zu müssen. Ein 450€-Job hatte ich schon. Ein paar Kapazitäten hatte ich aber noch und mir war es wichtig auch noch etwas zu tun, das Bedeutung hat. Durch einen Zufall bekam ich eine Broschüre der Malteser in die Hand, in der von Begleitungs- und Entlastungsdienst für demenziell veränderte Menschen die Rede war.
Mein Großvater litt zu dieser Zeit auch schon an einer Parkinsondemenz und ich war interessiert, wie man professionell mit Menschen umgeht, die durch Demenz verändert waren. Die Ausbildung schreckte mich zwar zuerst etwas ab, aber es waren nur 40 Unterrichtseinheiten und ich bereute keine davon. In einer kleinen Runde lernten wir wie man sanft und empathisch spricht, wie man die Bedürfnisse von demenziell veränderten Menschen rasch erkennt und welche Berührungen (besonders in späteren Stadien) Sicherheit und Geborgenheit geben. Ständig wurden Eindrücke und Erfahrungen reflektiert. Wir lernten aber auch die Basics wie Erste-Hilfe und Prävention sexueller Gewalt. Meine Koordinatorin hatte immer ein offenes Ohr und ermöglichte mir sofort im Anschluss an die Ausbildung einen Einsatz. Auch wenn sie gar nicht wusste, dass ich ein angehender Philosophiestudent bin, teilte sie mich A. zu.
Die Zeit mit A.
Bei dem ersten Treffen waren die beiden jungen Menschen, die die Verbindung zu den Maltesern hergestellt haben, mit dabei. Julian und Anni (Namen geändert) schienen etwas aufgeregt, reichten mir aber freundlich die Hand und stellten A. mit seinem Kosenamen vor. Julian hatte bei ihm studiert. A. hatte ihm einen Job als wissenschaftlichen Mitarbeiter ermöglicht und A. empfand viel für ihn. Es wurde mir nie ganz klar wie A. zu Julian stand, aber es war deutlich, dass er eine tiefe Verbindung zu ihm hegte, ob väterlich, freundschaftlich oder gar romantisch blieb mir unbekannt. Julian war immer liebevoll für ihn da, aber ihm war eine gewisse Erschöpfung anzusehen, die auch auf Annis Gesicht zu sehen war. Beide erledigten alles, damit A. in seiner Wohnung bleiben konnte. Nebenbei arbeiteten Julian und Anni auch noch Vollzeit in sozialen Einrichtungen. Als ich anfangs zwei Stunden in der Woche zu Besuch kam, war das für die beiden eine große Entlastung. Nach und nach wurde ich immer mehr zu einem wichtigen Standbein bei A.s Betreuung.
Aber zurück zu unserem ersten Treffen: A. verstand zuerst nicht, wieso ich denn neuerdings zu Besuch kommen sollte. Er hatte schließlich Julian und Anni. Ich stellte mich noch einmal vor und sagte, dass ich Philosophie studieren möchte. Ich sagte: „Na, wir könnten doch Freundschaft schließen.“ Der Move war vielleicht ein wenig unorthodox, aber ich bereute es nicht. A. lachte ein gemütliches Lachen in seinen Altherrenbauch und Julian und Anni waren ähnlich glücklich wie ich, dass er doch so offen war für das Experiment. Er fragte mich, was ich denn so triebe und ich erzählte, dass ich Philosophie studiere und tippte auf das Buch auf seinen Tisch: „Wittgenstein, damit wollte ich mich schon immer auseinandersetzen.“ Ich erzählte ihn von anderen Forschungsinteressen, die er alle ignorierte und sagte etwas so Schlaues zu der Philosophie Wittgensteins, dass ich es leider vergessen habe, weil ich es – offen gestanden – nicht verstand.
Dass wir unser gemeinsames Thema hatten, half ungemein. Trotzdem versuchte ich regelmäßig die Vorschläge der Ausbildung zu beherzigen, aber Mensch-ärgere-dich-nicht und Spaziergänge waren einfach nicht sein Fall. Er saß viel lieber in seiner Küche und hörte Barockmusik und ließ sich bequatschen. Er freute sich immer, wenn man altbackene Begriff wie „verdrießlich“, „fabelhaft“ oder „derweilen“ verwendete. Dann richtete er sich auf, machte eine große Gebärde und wiederholte das Wort in bedeutungsvollem Ton. Manchmal kam es mir vor, als machte er sich lustig, wenn er in schelmischer Weise beifügte: „Der Junge sagt ‚fabelhaft‘. Oho!“.
Ich versuchte häufig über seine Familie zu reden, weil ihn das teilweise an ruhige Plätze führte. Seine Kindheit war ihm teuer. Er spielte viel mit seiner Schwester und vor seinen Eltern hatte er Achtung. Aber viel mehr habe ich nicht erfahren. Schnell fragte er mich schon wieder über die praktischen Probleme der Gegenwart aus. „Wie sieht es aus im Kühlschrank? Kannst du nicht mal Hackfleisch holen? Gibt es noch Bier? Ich trinke ja ganz gerne mal eins.“ Wenn bei der sogenannten „Biografiearbeit“ nur ein paar Sekunden Stille herrschte, dann nahm er die unsichtbaren Beckenschellen in die Hand und klatschte sie zur Radiomusik zusammen. Neben der Musik rund um Johann Sebastian Bach liebte er Marschmusik, da er eine Weile neben einer Bundeswehrkaserne lebte, in der schon in den Morgenstunden geprobt wurde. Ich bewunderte, dass er sich selbst mit dieser Situation anfreunden konnte.
Zu einem späteren Treffen nahm ich den Tractatus logico-philosophicus mit, den ich mir ihm zuliebe direkt nach dem ersten Treffen kaufte. Es ist das Hauptwerk seines Vorbilds, Ludwig Wittgenstein. „Oh, da wird deine Mutter aber Augen gemacht haben, als das plötzlich da lag.“, sagte er zu mir, „Ist das nicht ein Titel? ‚Tractatus logico-philosophicus‘ – ‚Logisch-philosophische Abhandlung“. Wir lasen die ersten Sätze durch. Satz für Satz. Nach unserem ersten Treffen hatten wir die ersten drei Sätze gelesen. Zu jedem Satz gab es viel zu sagen. A., der manchmal vergaß zu essen oder wie seine Verwandten hießen, brachte die Sinnzusammenhänge der wittgensteinschen Philosophie so gut zum Punkt, wie kaum ein*e andere Professor*in, die*den ich kennengelernt habe. Von nun an nahm ich es zu jedem Treffen mit und wir lasen nach und nach jeden Satz durch, bis ich einen zufriedenstellenden Kommentar machen konnte. Er hatte viel Geduld mit mir und freute sich mir Wegweiser zu geben.
A. konnte aber auch anders. Sein Humor war something else. Er reimte gerne schweinische Sätze und sprach von Freunden aus seiner Jugendzeit, die wohl „richtiggehende Ficker“ gewesen waren. Ich tat gut daran, diese Sprüche als Humor zu werten. Eine Anekdote aus der Jugend, die er immer wieder erzählte, war eine Geschichte über seinen exzentrischen Kunstlehrer, der die Herstellung des ersten Kunstwerks erklärte: „Es war ein Höhlenmensch, der nahm seinen Finger, steckte ihn in den Arsch [er machte eine Gebärde] und wischte die Scheiße an der Wand ab. So entstand die erste Malerei!“ Ich war so erschrocken von dieser Erzählung, dass ich mich kaum einkriegte vor Lachen.
A. lebte allein und war häufig einsam. Und doch war er ein sozialer Mensch, der schon als Dozent regelmäßig große Partys in seiner kleinen Wohnung veranstaltet hat, bei denen bis zu 50 Studierende tranken, rauchten, lachten und diskutierten. Die Stille war für ihn manchmal schwer auszuhalten, weswegen er jede freie Minute nutzte, um bei seinem Umfeld (insbesondere bei Julian) anzurufen. An einem Abend, an dem Julian arbeiten musste, versuchte er es bis zu 70 Mal. Bei mir rief er einmal ganze 20 Mal an. Als ich an einem Sommertag mal zu ihm fuhr, krachte ich mit meinem Fahrrad mit einem Mofa zusammen und kam deswegen viel zu spät. Da mein Handy den Crash nicht gut überstand, konnte ich ihn auch nicht anrufen, um Bescheid zu sagen – zumal ich sowieso ganz schön unter Schock stand und die Schürfwunden an meinen Beinen ordentlich schmerzten. Als ich dann eine halbe Stunde zu spät bei ihm ankam, stand er schon mit hochrotem Kopf in seinem schweißnassen Unterhemd in der Türschwelle und keuchte den Tränen nahe, dass er froh sei mich zu sehen. Ich war auch froh, ihn zu sehen. Der Unfall traf mich zwar doll, als er aber zwei Monate später selber fiel und Julian, Anni und ich aufgrund seiner Immobilität entschieden, ein Heim für ihn auszusuchen, war ich noch doller getroffen. Meine Arbeit als Begleitungs- und Entlastungsdienst war vorbei.
A. im Heim
Ich zog aus der Universitätsstadt nach Hildesheim und konnte A. nicht mehr so häufig besuchen kommen. A. rief nicht mehr so häufig bei mir an, sondern nur noch bei Julian. Aber A. war im Heim viel beschäftigt. Er wurde tagsüber betreut und konnte sich mit anderen Menschen seines Alters unterhalten und Kaffee trinken. Er war es zwar gewöhnt mit jüngeren Menschen Zeit zu verbringen, aber eine ältere Frau namens Gerda (Name geändert) war irgendwie vernarrt in A., so dass sie ihn als ihren Mitstreiter betrachtete. Gerda und A. gegen den Rest der Welt. Die beiden – so behauptete Gerda – waren die einzigen im Heim, die noch „klar im Kopf“ waren: „Manchmal auch ein bisschen schusselig, aber wir haben studiert.“, sagte sie. Gerda übersah andere Teile der Gruppe, die auch studiert haben oder im hohen Alter immer noch eine klare Artikulation besaßen, nicht grundlos. Mir kam es so vor, als wollte sie sich bewusst mit A. zusammentun, um zumindest eine tiefe Bezugsperson zu haben. In der Gruppe – auch wenn sie viel Zeit miteinander verbrachten – war es recht kühl, wenn auch die Betreuer*innen empathisch versuchten zu vermitteln. Gerda kam irgendwann nicht mehr zu der Gruppe und A. wollte auch nicht mehr und saß den ganzen Tag in seinem Zimmer und schlief viel.
A. nahm immer mehr ab. Manchmal schäme ich mich dafür, dass ich so selten zu ihm gegangen bin. Als er mich immer weniger erkannte und er durch meine Besuche eher noch verwirrter wurde, wusste ich, dass ich es nur noch aus Egoismus machte. Ich stellte mich ihm immer auf’s Neue vor und konnte meine Enttäuschung nicht verbergen, dass er mich nicht erkannte. Meine Enttäuschung ging natürlich nicht an ihm vorbei. Besonders demenziell veränderte und sterbende Menschen haben sehr feine Antennen. Mir fehlte die nötige Distanz, die man zu diesem Zeitpunkt als professionelle Demenzbegleitung haben muss. Vor seinem Tod schrieb ich ihm nur noch einen Brief, den ich niemals abschickte.
Im Interview mit Prof. Dr. Nauck von der Palliatiavmedizin Göttingen sind wir auch auf die feinen Antennen von Sterbenden gestoßen. (https://www.uni-hildesheim.de/kulturpraxis/palliativ/)
A.s Andenken
A. starb in der zweiten Welle der Corona-Pandemie. Julian und Anni konnten ihn, gemäß der Situation, nur mühevoll und selten besuchen. A. bekam eine Lungenentzündung und hielt es bis zu einem Punkt nicht mehr aus. Ohne Patientenverfügung hätte er noch lange leiden müssen. Ein Geistlicher, Julian und Anni standen an seinem Totenbett. In den letzten Momenten wandte sich A. der Religion zu. Ob er in Gedenken an seine Familie den Geistlichen bat oder ob er das Mystische suchte, dass den Tod bei Wittgenstein ausmachte, bleibt sein Geheimnis. Bei Wittgenstein verhält es sich so: Im Tod verfällt alle Beschreibung, alle Empirie. Das Schöne und das Gute zeigen sich, wie sich alles zeigt. Alle Rätsel sind gelöst. Ich wünsche mir, dass er in dieser Welt ist.
Julian und Anni haben eine schöne Bestattung in einem Friedwald organisiert. Eine Frau spielte Ziehharmonika. Im Hintergrund hörte man jemanden in den Wald pinkeln. Er hätte sich kaputtgelacht. Ich kicherte auch in mich hinein.
Anni, Julian und ich hoben auf sein Wohl das ein oder andere Bier und nicht ohne Tränen dachten wir an diesen fabelhaften Professor.
Heute verbringe ich jede Woche ein bis zwei Tage bei einem Ehepaar in einem Vorort von Hildesheim. Herr und Frau F. arbeiteten in einem Büro und interessieren sich für’s Reisen und für Stadtgeschichte.
„Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 1963. 6.521)
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