In der Hänge­matte zur Uni

Studieren während Corona
von Clara Wiese
Ich bin zu spät. Mein Seminar hat vor fünf Minuten ange­fangen und ich finde den Raum nicht. Damit beginnt dieses Semester wie jedes andere auch. 

Also, fast. Abge­sehen davon, dass wir uns inmitten einer welt­weiten Pandemie befinden, die alle Bereiche öffent­li­chen Lebens lahm­legt und der von mir gesuchte Raum deshalb nur virtuell exis­tiert. Wäre ich jetzt auf dem Campus, würde ich einfach die nächste Person, die vorbei­läuft, um Rat fragen. Statt­dessen sitze ich – wie alle anderen auch – alleine in meinem Zimmer vor dem Laptop. Erneut durch­forste ich meine diversen Nach­rich­ten­ka­näle nach dem Zugangs­link für das Online-Meeting per Webcam, doch auch diesmal verge­bens. Ich bin völlig ratlos. So viel also zum Thema Schwer­punkt­fach Medien. Ohne allzu große Hoff­nung schicke ich einen letzten Hilferuf via Insta­gram Story an meine digi­tale Commu­nity, über die ich gerade mehr denn je mit Menschen in Kontakt stehe. Es ist schon verrückt, wie wichtig soziale Medien als Tor zur Außen­welt plötz­lich geworden sind. Doch auch dort weiß niemand etwas. Ich schaue ein Katzenvideo.

Studieren während Corona ist etwas völlig anderes. Zoom, Jitsi oder Big Blue Button lauten die verhei­ßungs­vollen Namen der Platt­formen, die den Unter­richt trotz Social Distancing ermög­li­chen sollen. Für uns Studie­rende am Kultur­campus Domäne Mari­en­burg der Univer­sität Hildes­heim hat die Lehre auf Distanz einen beson­ders bitteren Beigeschmack. Diesen Sommer hätte das Projekt­se­mester statt­finden sollen, in dem das prak­ti­sche Arbeiten inner­halb der Künste und Medien noch einmal mehr als sonst im Fokus steht. Das alles ist jetzt auf den Sommer 2021 verschoben worden. Auch private Theater- oder Film­pro­jekte von Studie­renden wurden Hals über Kopf auf Eis gelegt. Der Frust ist riesig.

Zum Haare raufen: Ganz so einfach wie gehofft, ist der Wechsel zur digi­talen Lehre leider nicht. (© Foto: Nora Fischer)

Obwohl das Semester gerade erst begonnen hat, wird schon seit Wochen im Freun­des­kreis und im Netz disku­tiert: Von Präsenz- zu Fern­lehre – geht das über­haupt? Darf das als voll­wer­tiges Semester gelten? Im Netz befindet sich eine Peti­tion in Umlauf, die ein „Nicht-Semester“ oder „Flexi­mester“ fordert, damit gerade Studie­renden in prekären Arbeits­ver­hält­nissen, mit Kindern oder in Care-Berufen keine Nach­teile entstehen. Auch in puncto tech­ni­scher Umset­zung gibt es kriti­sche Stimmen. Werden unsere Daten ausrei­chend geschützt? Können die erfor­der­li­chen Zugänge zu einem Computer und zum Internet als Bestand­teil einer digi­ta­li­sierten Gesell­schaft einfach so voraus­ge­setzt werden? Wen schließen wir von akade­mi­scher Bildung aus? Warum werden diese Fragen erst jetzt gestellt? Parallel dazu kursieren pani­sche Gesuche nach Lite­ratur, um die letzten Haus­ar­beiten trotz der geschlos­senen Biblio­theken noch fertig­zu­stellen. Der Kampf um Ressourcen geht auch unter Akademiker*innen weiter. Nicht nur auf Netflix benehmen sich einige, als wären sie im Raubtiergehege.

Nach einer halben Stunde habe ich den Link zum Seminar tatsäch­lich gefunden. Aber sich jetzt mitten­drin dazu schalten? Zu spät kommen ist online noch unan­ge­nehmer als offline. Schließ­lich richten sich etwa zwanzig Augen­paare perma­nent auf das Brow­ser­fenster, in dem man plötz­lich erscheint. Das bis zur Perfek­tion einge­übte In-den-Raum-schlei­chen ist ab jetzt keine Option mehr. Dann lieber hoffen, dass man in der nächsten Woche noch Anschluss findet.

Bei dem Gedanken daran, was mir nun alles entgehen könnte, werde ich unruhig. Im Laufe des Tages besuche ich zwei weitere Semi­nare und kann mir endlich selbst einen Eindruck verschaffen. Zuge­geben, ich habe Bade­mäntel und Menschen in Betten erwartet. Jemand liegt in einer Hänge­matte, ansonsten sehen aber alle sehr normal und aufnah­me­be­reit aus. Es tut gut, in diese vertrauten Gesichter zu schauen.

Trotzdem wird schnell deut­lich, dass unser Arbeiten hier auf Spar­flamme läuft. Die Gespräche kommen nicht recht in Schwung, mal reden alle, mal niemand. Dabei habe ich unsere Gesprächs­kultur immer als sehr ausge­reift empfunden. Die allge­meine Verun­si­che­rung ist spürbar. Gerade in praxis­be­zo­genen Veran­stal­tungen fühle ich mich ausge­bremst. Räum­lich getrennt einen Podcast zu produ­zieren und dabei frei auch über private Themen zu spre­chen, mit Kommiliton*innen, die ich nie zuvor gesehen habe? Ich stelle mir das alles schwierig vor. Vieles an unserem Campus lernen wir durch wildes Auspro­bieren. Wild ist hier gar nichts. Doch nicht nur wir Studie­renden, auch die Dozie­renden kämpfen mit der neuen Situa­tion. Schließ­lich kennt Technik keine Hier­ar­chien und macht allen das Leben schwer. Ständig sind Bild und Ton gestört, die Verbin­dung bricht ab oder man wird gar nicht erst zuge­schaltet. Bereits an Tag eins ist der Server über­lastet. Einige Dozie­rende schmeißen schon nach der ersten Sitzung das Hand­tuch und verteilen Aufgaben wieder ganz „oldschool“ per Mail. 

Daneben gibt es noch weitere Stör­quellen: Kinder, Haus­tiere und Mitbewohner*innen laufen durchs Bild und erin­nern uns daran, warum Arbeit und Frei­zeit in unserer Gesell­schaft norma­ler­weise räum­lich getrennt statt­finden. Aber auch daran, dass wir alle nur Menschen sind, die noch weitere Aufgaben im Leben haben und oft unter­schied­liche Rollen erfüllen müssen. Dass wir gezwungen sind, unsere Privat­räume – zumin­dest einen Ausschnitt davon – mitein­ander zu teilen, ist unan­ge­nehm. In der Groß­auf­nahme erscheinen mir die Gesichter der anderen, wenn auch nur auf dem Bild­schirm, näher als sonst. Es ist beinahe intim. Ich muss an die Abhand­lungen des Film­kri­ti­kers Béla Balázs denken, in der er die Groß­auf­nahme als revo­lu­tio­näre Dimen­sion der Film­kunst beschreibt. Laut Balázs eröffnet diese Einstel­lung einen Zugang zur Physio­gnomie des Menschen, die sogar die unbe­wussten inneren Dialoge und Facetten des mensch­li­chen Wesens wider­spie­gelt. Also doch was gelernt, denke ich.

Am Ende des ersten Tages bin ich erschöpft. Meinem Umfeld ergeht es ähnlich. Alle haben den Eindruck, dass das Pensum an Haus­auf­gaben und zu lesenden Texten eher noch erhöht wurde, obwohl wir ja nicht weniger, nur eben anders präsent sind. Es mangelt an Moti­va­tion aufgrund des fehlenden Kontaktes zuein­ander. Das Wort „Selbst­stu­dium“ bekommt jetzt eine ganz neue Dimen­sion und auch für mich ist dieser Einzelkämpfer*innenmodus nur zu ertragen, weil er eine Ausnahme ist. Denn das ist er, und es wird auch wieder anders sein: kollek­tiver, wilder, hand­ge­machter. 

Viel­leicht ist die Situa­tion nicht so, wie wir uns diesen Sommer vorge­stellt haben und für einige bedeutet die Isola­tion eine immense psychi­sche Belas­tung. Für mich selbst ist sie zumin­dest erträg­lich. Ange­sichts vieler Menschen, deren wirt­schaft­liche Exis­tenz gerade auf dem Spiel steht, die sich in Flücht­lings­la­gern aufgrund der kata­stro­phalen Hygie­ne­be­din­gungen nicht vor einer Anste­ckung schützen können oder die an allen Fronten von früh bis spät im Dauer­ein­satz sind, empfinde ich Demut als uner­läss­lich. Ich bin mir dessen bewusst, wie privi­le­giert meine Lage ist.

Obwohl hier gerade kein Unter­richt statt­findet, zieht es die Studie­renden der Domäne Mari­en­burg bei gutem Wetter zu „ihrem“ Campus. (© Foto: Clara Wiese)

Bevor ich schlafen gehe, scrolle ich noch kurz durch die viralen Hits der Woche: zahl­reiche Nähan­lei­tungen für das Anfer­tigen einer Mund-Nasen-Atem­schutz­maske, ein renom­mierter Thea­ter­re­gis­seur, der sich nicht die Hände waschen will, und ein Getränk aus Instant-Kaffee und Karies. Es sind wirk­lich merk­wür­dige Zeiten. 

…und bei euch so?

Wie sieht euer Home-Office aus?

"Aufstehen, Früh­stü­cken, an den Schreib­tisch setzen…"

"Aufstehen, Früh­stü­cken, an den Schreib­tisch setzen, oh, die Straße vor meinem Haus ist ja gerade busy, ach, schau mal, mein Nachbar ist da, ich wink mal, viel­leicht sieht er mich, ach, wenn ich jetzt schon im Fenster sitze, kann ich auch rauchen, hey, willst du mitrau­chen, plötz­li­cher Deep Talk am Vormittag, ach, who are kidding, am späten Mittag, stimmt, ist ja schon Mittag, ich könnte eigent­lich was essen, ich meine, man muss sich ja stärken, also erst mal kochen, noch eine Folge 'River­dale' zum Essen, okay, ab zurück an den Schreib­tisch, Buch aufklappen, fest­stellen, dass ich eigent­lich ein anderes Buch aus der Bib brauche, okay, dann bis morgen warten, kann ich dann jetzt über­haupt was machen, hmm, erst mal rauchen, lange das Doku­ment anstarren, viel­leicht hilft es, die Posi­tion zu wech­seln, also aufs Sofa, ah, meine Pflanzen brau­chen Wasser, wenn ich das nicht jetzt mache, vergess ich es, und ein Snack geht eigent­lich auch, okay, zurück, im Liegen schreiben ist irgendwie unbe­quem, viel­leicht gehts besser auf dem Sessel, ah, ja, top, könnte mal meine Mails zum drei­ßigsten Mal heute checken, was geht auf Twitter, Face­book, Insta­gram, das ist ja auch span­nend, okay, back to work, hundert Wörter schreiben, puh, erst mal dieses 100 Wörter drei Mal über­ar­beiten, Mitbe­woh­nerin kommt zum sechsten Mal random in mein Zimmer, wir waren heute noch nicht draußen, na, das ist wichtig, Laptop zu, denk an die Maske, erst Mal ne Runde spazieren gehen, plötz­li­cher Deep Talk am frühen Abend, nach zwei Stunden nach Hause weil wir richtig doll Hunger haben, also kochen, eine Folge 'River­dale' noch, komm, noch eine, ach, ich schaff heute eh nichts mehr, mach ruhig den Wein auf, noch eine Folge 'River­dale', okay, ich versuch jetzt noch mal was zu machen, aber ich setz mich schon mal ins Bett, ist beqeum, also, ach, naja, ich glaube, ich schlaf jetzt einfach eine Nacht drüber."

© Foto & Text: Janina Laßmann (BA Szeni­sche Künste) 

„Konzen­tra­tion be like…“

„Konzen­tra­tion be like…“

© Foto & Text: Carina Isabelle Kluge (MA Insze­nie­rung der Künste und Medien)

„Home Office / Uni. Das ist, wenn…"

„Home Office / Uni. Das ist, wenn die Versu­chung viel zu groß ist im Schlaf­anzug vor dem PC zu sitzen und statt zuzu­hören lieber Mandala-Malen passiert. Oder in der münd­li­chen Prüfung über Zoom mit den Dozie­renden über die schönen alten Altbau­türen im Hinter­grund philo­so­phieren. Oder die Mitbe­woh­nerin in der Küche vor PC und Webcam sitzen sehen, während sie nebenher nen Teig in der Schüssel knetet. Oder wenn die beiden Mitbe­woh­ne­rinnen im Neben­zimmer zusammen an einem Block­se­minar teil­nehmen und ein komi­sches, anderes räum­li­ches Gefühl aufkommt. Physisch zu zweit im virtu­ellen Raum mit anderen. Nicht allein — viel­leicht eine gute Stra­tegie gegen die Einsam­keit vor dem eigenen PC.“

© Foto & Text: Marlene Richert (BA Kultur­wis­sen­schaften und ästhe­ti­sche Praxis)

"Vor der aller­ersten online-Sitzung…"

Vor der aller­ersten online-Sitzung habe ich meinen Schreib­tisch so vor eine weiße Wand plat­ziert, dass niemand mein Zimmer sehen kann. Dann hatte ich auch mehr Platz für Yoga. Die meisten Semi­nare sind aber ohne Kamera, ich liege also in meiner Hänge­matte und höre einfach zu.

© Foto & Text: Thomas Schmale (BA Szeni­sche Künste)

Ich starre auf den Bildschirm
Ich starre auf den Bild­schirm. 

Ich vermisse den Weg zur Uni. Ich vermisse das zufäl­lige Treffen von Personen auf dem Unige­lände. Ich vermisse es Blicke im Seminar auszu­tau­schen. Ich vermisse es spät dran zu sein. Ich vermisse das gemein­same Warten auf dem Boden vor einer Bürotür. Ich vermisse es den tuschelnden Kommiliton*innen im Seminar einen Blick zuzu­werfen. Ich vermisse es zur Uni zu fahren um dann zu merken, dass die Übung nur alle zwei Wochen statt­findet. Ich vermisse die kleine Wiese wo ganz selten mal eine kleine Maus zu sehen ist. Aber vor allem, wenn sich dort immer neue kleine Gruppen bilden um zusammen zu essen, zu quat­schen und sich gegen­seitig zu erzählen, dass sie noch schnell in den einen oder anderen Text rein schauen müssen. Ich vermisse es, wenn ich zum Essens­wagen sprinte und als eine der ersten Essen 2 von Conni bekomme. Ich vermisse auch wenn im Hofcafé die Person vor mir den letzten Studie­ren­den­teller bekommt und ich deshalb mit einem Laugen­crois­sant und einem Scho­ko­riegel ganz langsam zum Semi­nar­raum spaziere. Ich vermisse das immer wieder sagen müssen, dass ich jetzt eigent­lich schnell weiter zur Sprech­stunde muss. Ich vermisse zu fragen, ob die Insti­tuts­küche für dieses oder jenes mitge­nutzt werden könnte. 

Ich vermisse das Gemein­same. Einmal gemeinsam in 101 oder im Kartof­fel­wasch­haus sitzen und gemeinsam lachen. Nur ganz kurz. Das wäre es eigent­lich. Das wäre perfekt. 

© Foto & Text: Sonja Schütte (MA Insze­nie­rung der Künste und Medien)

"Studieren im digi­talen Semester…"
Studieren im digi­talen Semester – das ist das Gefühl von Muß im Kopf, wöchent­lich und spürbar stei­genden Diop­trie­werten und von ausgie­bigen Mahl­zeiten als größtes High­light am Tag.

© Collage & Text: Julia Zalewski (MA Kultur­ver­mitt­lung) & Philipp Rösler

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