das geht doch gar nicht!
Doch. Denn wer bin ich, wenn sich alles um mich herum verändert? Kenne ich mich selbst überhaupt jemals richtig? Und was bedeutet Fremdheit eigentlich genau? Antworten darauf suche ich mit dem Philosophen Bernhard Waldenfels.Eine Bemerkung vorweg: Es handelt sich hier nicht in erster Linie um eine wissenschaftliche Wiedergabe der philosophischen Positionen bzw. Arbeit von Bernhard Waldenfels, sondern um eigene Gedanken im Zusammenhang mit meiner Beschäftigung damit.
Im vergangenen Lockdown-Winter 2020/21 schrieb ich meine Bachelorarbeit zu diesem Thema. Erst im Nachhinein fiel mir auf, wieviel es mit der aktuellen Situation während der Corona-Pandemie zu tun hat. Denn in gewisser Weise bietet diese Zeit viel Potential, sich selbst fremd zu werden. Wie ich das meine? Viele Menschen haben plötzlich so viel Zeit alleine verbracht wie nie zuvor. Der Alltag war starken Veränderungen unterworfen und damit auch vieles, worüber man sich und sein Leben definiert,
Freunde konnten sich kaum noch treffen, Hobbies womöglich nicht gepflegt werden, das Studium veränderte sich — und das alles quasi von einem Tag auf den anderen. Kann es sein, dass dieses vermehrte Allein-Sein zu einem Gefühl der Selbstentfremdung führt? Obwohl das eigentlich paradox klingt, denn man könnte doch glauben, je mehr Zeit man für sich hat, desto näher ist man sich selbst … Aber vielleicht brauchen wir andere, um uns selbst zu erkennen und zu spüren.
Als Philosoph hat sich Bernhard Waldenfels besonders intensiv mit dem Phänomen der Fremdheit beschäftigt. Dabei steht er in der phänomenologischen Tradition von Denkern wie Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Lévinas. Lévinas' Auseinandersetzung mit Alterität (Andersheit) scheint durch Waldenfels' Fremdheitsbegriff anders gewichtet oder erweitert zu werden. Die Psychoanalyse (nach Sigmund Freud) beeinflusst das Werk von Waldenfels stark. Interessierten empfehle ich als Einstiegsliteratur "Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden" (2006).

Bernhard Waldenfels (*1934), erster Schultag
Was heißt "fremd" eigentlich? Waldenfels unterscheidet hier in verschiedene Bedeutungen. Im Englischen z. B. können mehrere Wörter verwendet werden: foreign bezieht sich auf ein Außerhalb (Ort), alien vom lateinischen alienum bedeutete ursprünglich "einem Anderen gehörend" (Besitz) und strange (frz. étrange) meint, dass etwas fremdartig ist. Waldenfels unterscheidet das Fremde vom Anderen, welches durch einfache Abgrenzung vom Selben entstehe. Er geht davon aus, dass Fremdes an sich eine andere Qualität inne hat und beschreibt es u. a. als das Außer-Ordentliche, da es sich dem Zugriff einer Ordnung entzieht.

Fremdheitserfahrungen können nach Waldenfels sowohl interkulturell als auch intrakulturell gemacht werden. Und auch auf der individuellen Ebene kann Fremdes zwischen Personen (intersubjektiv) und in uns selbst (intrasubjektiv) in Erscheinung treten. Meistens wird die Bedeutung des Wortes "fremd" interkulturell gebraucht. Ich möchte mich hier jedoch auf das Subjekt konzentrieren. Nun kann man in diesem Kontext natürlich sehr weit ausholen, denn es gibt sicherlich viele (psychologische) Theorien zum Selbst und der Frage, inwiefern ein solches überhaupt existiert bzw. wie es konstituiert wird.
Doch ich spreche hier von einem empfundenen Ich oder Selbst, wie wir es in unserer Alltagskommunikation für gewöhnlich voraussetzen. Es ist dieses gefühlte Ich-selbst-Sein, das durch ein spezifisches In-der-Welt-Sein (also Bezüge zur Umwelt, Praktiken usw.) geformt wird. Die Identität, die ich mir gebe und die mir gegeben wird, ist immer hochgradig abhängig von äußeren Faktoren, von Anderen und Anderem, und meiner Beziehung zu diesen. Man kann also von einer grundsätzlichen Bezogenheit der menschlichen Existenz ausgehen. Und hier ist schon die Tür geöffnet für das Fremde.
Hier lassen sich unterschiedliche Aspekte in Waldenfels Philosophie oder Phänomenologie des Fremden finden. Einerseits die Tatsache, dass das Fremde sich eben dadurch charakterisieren lässt, indem es sich einer Definition entzieht. Gerade im Hinblick auf die Ordnung, die bezogen auf das menschliche Subjekt vielleicht mit dem oben genannten Ich oder Selbst zu fassen wäre, steht das Fremde für die Anteile in uns, die "ungreifbar" sind. Wir können uns selbst als Fremde erfahren, wenn unsere Ordnung vom Außer-Ordentlichen eingeholt wird. Hier schließt Waldenfels an den Freudschen Ausspruch an: "Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus".
Und auch Rimbauds "Je est un autre" (Ich ist ein Anderer) scheint in diese Richtung zu weisen. Waldenfels erklärt diese Fremdheit im Eigenen damit, dass das Selbst auf Fremdes, d.h. von außen Kommendes, antworten muss. Somit beginnt es nicht bei sich selbst, sondern ist gewissermaßen immer schon bei dem Anspruch des Anderen. Er schreibt in "Topographie des Fremden" (suhrkamp, S. 30):
"Die Fremdheit meiner selbst wäre dann keine okkulte Form des Eigenen, die einem Keller-Ich zuzuschreiben wäre, sie bestünde vielmehr in der Anwesenheit des Anderen in mir, die mit einer Abwesenheit meiner selbst für mich Hand in Hand ginge."

Eigenheit und Fremdheit sind bedingt durch die Zugänglichkeit bzw. Unzugänglichkeit der Ordnung, die etwas beinhaltet (das Eigene) oder nicht beinhaltet (das Fremde). Das Nebeneinander einer Vielheit an Ordnungen lässt sich auf den unterschiedlichen Ebenen, seien es Nationalstaaten, Gemeinschaften oder Individuen, betrachten. Die Dynamik von Selektion und Exklusion spielt also eine wichtige Rolle, um verschiedene Formen der Organisation zu verstehen. Auf das einzelne Subjekt bezogen ließe sich das übertragen, wenn man davon ausgeht, dass nie alles in die eigene Ordnung (oder Identität) integriert werden kann.

Vielleicht sollte man das Selbst als etwas Unfertiges, in Teilen immer unvollständiges ansehen. Fremdheit wäre dann hier auch die Quelle neuer Möglichkeiten, denn was mir an mir selbst fremd ist, kann ich entdecken und dazu nutzen, eine neues Bild von mir zu formen. So würde ich Fremdes immer als Möglichkeit betrachten, dass das Bestehende auch ganz anders sein könnte. Vielleicht braucht es auch die Irritation durch Unbekanntes und Unvertrautes, um aus bloßen Mustern und starren Konzepten auszubrechen und das Ungedachte zu denken bzw. das Ungesehene (in sich) zu sehen.
Illustrationen: Lea Nägle; Titelbild "Alien": Unbekannt (aus der Redaktion)
Foto: Husserl-Archiv Freiburg
Literatur: Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden, Studien zur Phänomenologie des Fremden I, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt (1997)