Sechs Dinge, die wir in Hildesheim wirklich fürs Berufsleben lernen
Die Frage, ob uns das Studium am Kulturcampus wirklich auf irgendeine Art des Berufsalltags vorbereitet, stellen wir uns wohl alle in regelmäßigen Abständen. Und die Angst vor der Antwort auf diese Frage wird mit jedem Semester, das uns unserem Studienabschluss näher bringt, ein wenig größer: Von der „Superspannendes Gender-Seminar, wie cool ist mein Studium bitte!“-Euphorie bis zum resignierten Abgleich der Anforderungen in interessanten Stellenausschreibungen mit den eigenen Qualifikationen sind es nur wenige Semester: Habe ich überhaupt irgendetwas in meinem Studium gelernt außer Literaturverzeichnisse anzulegen und den Namen „Foucault“ richtig auszusprechen (nicht, dass ich heute immer wieder „Literaturverzeichnis“ googlen und französische Namen generell meiden müsste…)? Und bringt mir das, was ich gelernt habe, irgendetwas im Arbeitsalltag?
Ich habe drei Hildesheimer Absolvent*innen genau diese Fragen gestellt. Anna, Berit und Daniele arbeiten heute alle als Regieassistenzen am Staatstheater Braunschweig und sprechen darüber, was sie in Hildesheim wirklich für ihre Berufspraxis gelernt haben. Dabei beziehen sich ihre Erfahrungen zwar auf das Studium mit Hauptfach Theater und das anschließende Arbeiten an einem ebensolchen, sind aber sicherlich nicht nur für diesen Studienbereich der Domäne gültig.
1. Diskurse, Diskurse, Diskurse
Ob Gender-Theorie oder rassismuskritische Kulturarbeit – in Hildesheim lernen wir in vielen Seminaren wenig konkrete Fakten, sondern eher, uns durch aktuelle wissenschaftliche Diskursfelder zu arbeiten. So unergiebig das manchmal scheinen mag, weil wir selten einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen erhalten, sondern vor allem lernen, die Dinge stets kritisch zu hinterfragen: Für das Arbeiten in modernen Kunst- und Kultureinrichtungen, in denen diese gesellschaftspolitischen Diskurse eine immer größere Rolle spielen werden (hoffentlich!), ist dieser Umgang mit komplexen Themengebieten von großem Wert.
2. Dinge funktionieren lassen
GEMA-freie Musik organisieren, Requisiten mit Heißkleber reparieren, Ton- und Lichtpulte bedienen – ob in Übungen, eigenen Projekten oder im Rahmen von Festivals: Wer in Hildesheim künstlerisch arbeiten möchte, lernt die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Vor allem aber lernen wir, die Angst davor zu verlieren, uns neue Fähigkeiten anzueignen. Natürlich können wir dann Dinge oft nur ein bisschen und unsere Fertigkeiten sind nicht vergleichbar mit denen professioneller Requisiteur*innen oder Veranstaltungstechniker*innen, aber meistens reicht das eben auch.
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Ich finde, in Hildesheim ist es so ein Ding von einer Deprofessionalisierung auf der einen Seite, was bedeutet, dass, wenn ich Kunst machen möchte, ich mir auch ganz viel dafür draufschaffen muss. Ich krieg halt niemanden gestellt, der mir das Licht fährt, sondern ich fahr dann das Licht selber oder meine Freund*innen fahren das Licht für meine Produktion und dann mach ich das mal für die.
— Berit
Dieser Zugriff auf Kunst – für die eigene Arbeit „Dinge einfach funktionieren zu lassen“ – ist in der Arbeitswelt egal ob in künstlerischen Positionen oder in organisatorischen Berufen immer nützlich!
3. Etablierte Kulturinstitutionen vs. Freie Szene
Wer in Hildesheim studiert, kommt nicht umhin, sich nicht nur mit etablierten Kunst- und Kulturinstitutionen auseinanderzusetzen, sondern stets auch die Freie Szene im Blick zu haben. Egal, für welchen Bereich man sich nach dem Studium als Arbeitsort (vorerst) entscheidet: Man weiß, dass es den anderen eben auch gibt und man weiß um die unterschiedlichen Ästhetiken und Arbeitsprozesse. Das heißt, dass die Entscheidung für eine der beiden Richtungen oder für ein dazwischen immer auch eine bewusste Entscheidung für diese Ästhetiken und Arbeitsweisen ist – und die Verbesserungsmöglichkeiten dieser.
4. Mit Geld für künstlerische Projekte umgehen
Ob bei Festivals oder eigenen Projekten – in Hildesheim künstlerisch zu arbeiten heißt auch: Selbst Finanzanträge schreiben, Budgets verwalten, Geld kalkulieren.
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Und was ich in Hildesheim zum Beispiel gelernt habe, ist auch mit Budget umgehen – was mir nicht so viel bringt als Regieassistenz, da habe ich eher nicht so viel zu tun mit Budget, aber ich weiß, wie viel ich mit 800 € überhaupt stemmen kann. Das ist ein schöner Richtungswert, auch wenn das Budget kommuniziert wird oder wenn andere Abteilungen darüber diskutieren.
- Daniele
Selbst wenn es sich nur um Beträge von wenigen hundert Euro handelt – die sich im Vergleich zum monatlichen Studierendeneinkommen trotzdem riesig anfühlen – lernen wir, einzuschätzen, was mit wie viel Geld erreichbar ist, wie sich Dinge kostengünstiger gestalten lassen, wo wir aus finanziellen Gründen Abstriche machen müssen und meistens leider auch, wie viel unbezahlte Arbeit Kunst und Kultur bedeutet – traurig, aber trotzdem eine gute Vorbereitung auf das Berufsleben!
5. Interdisziplinäres Arbeiten
So viele verschiedene Kunstrichtungen unter einem Dach, Kulturpolitik, Kulturvermittlung – im Berufsalltag ist diese Bandbreite eher unwahrscheinlich. Trotzdem ermöglicht uns das Eintauchen in die verschiedensten Arbeitsbereiche und Themengebiete, die fächerübergreifenden Projekte und das interdisziplinäre Arbeiten einen großen Überblick, der uns im Arbeitsalltag und in Institutionen neue Potenziale und Möglichkeiten aufzeigen kann – für Kooperationen, neue Arbeitsweisen und Inspirationen von außerhalb. Und der uns auch die Möglichkeit bietet, frei zu entscheiden, ob wir das überhaupt wollen – vertiefend in nur einer Fachrichtung zu arbeiten – oder ob wir das Interdisziplinäre für unsere Berufspraxis beibehalten wollen.
6. Immer auch Vermittlung mitdenken
Nicht nur, weil es einen eigenen Master dafür gibt, kommen wir in Hildesheim nicht darum herum: Kulturvermittlung. Ob für das eigene künstlerische Arbeiten, für Aufgaben im Kulturmarketing oder für die kritische Betrachtung etablierter Institutionen: Ständig sind wir in Seminaren, Übungen und Projekten damit konfrontiert, über Kulturvermittlung nachzudenken.
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Ich finde, es tut enorm viel zu meiner Perspektive dazu, immer auch Vermittlung mitzudenken. Überhaupt Vermittlungsformate zu kennen, die sich jenseits von Einführungsrunden oder Nachgespräch befinden, und darüber nachzudenken, was alles so möglich wäre bei bestimmten Stücken, und was sich erzählt und was sich nicht erzählt, gerade wenn es um Stücke geht, die Themen verhandeln, mit denen nicht alle Zuschauer*innen sofort etwas anfangen können, die nicht so niedrigschwellig sind.
- Anna
Für die Berufspraxis ist das eine gute Grundlage dafür, Kunst und Kultur nicht im luftleeren Raum zu gestalten, sondern ihre Vermittlung schon bei der Konzeption mit zu beachten – und so im besten Fall bessere Kulturarbeit zu leisten.
Ein Gespräch mit

Berit
studierte von 2014 bis 2018 Szenische Künste mit den Fächern Theater, Literatur und Kulturpolitik am Kulturcampus Hildesheim und anschließend von 2018 bis 2020 Dramaturgie im Master in Leipzig. Berit arbeitet seit der Spielzeit 2020/21 als Regieassistenz im JUNGEN! Staatstheater Braunschweig.

Daniele
studierte von 2017 bis 2021 Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis mit Hauptfach Theater und Nebenfach Literatur am Kulturcampus Hildesheim und arbeitet seit der Spielzeit 2021/22 als Regieassistenz im Schauspiel des Staatstheaters Braunschweig.

Anna
studierte von 2015 bis 2021 Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis mit Hauptfach Theater und Nebenfach Literatur am Kulturcampus Hildesheim und arbeitet in der Spielzeit 2021/22 als Regieassistentin im Schauspiel des Staatstheaters Braunschweig.