Projektsemester zwischen Theorie und Praxis: Herausforderungen, Gefahren und Chancen
Das Projektsemester 2022: Theoretisch, praktisch, gut… Weil es so schön war und um der Redaktions-Reflexion (hier verlinken) eine Dozierenden-Perspektive zur Seite zu stellen: Hier eine Auseinandersetzung mit zwei großen Begriffen in Interview-Form.

Foto: Marisa Sias | Pixabay
Theorie und Praxis sind Begriffe, mit denen sich sowohl im Wissenschaftsbetrieb als auch in der Kulturlandschaft intensiv beschäftigt wird. Von sozialphilosophischen Studien eines Jürgen Habermas über meisterhafte Lyrik der Wortakrobaten Bushido und JokA: Die Bandbreite der Rezeption ist enorm. Auch die Philosophiedozentin Prof. Dr. Katrin Wille und die Literaturdozentin Jenifer Becker interessieren sich für den Theorie- und den Praxisbegriff. Also haben sie zu Beginn des Projektsemesters eine Veranstaltung organisiert, die den Titel trug: Projektsemester — zwischen Theorie und Praxis: Herausforderungen, Gefahren und Chancen.
Da dieses Gespräch nur für eine Stunde Zeit anberaumt gewesen ist, aber über so viel zu reden war, haben sich die beiden bereit erklärt, die Auseinandersetzung zu intensivieren.
Sowohl Prof. Dr. Katrin Wille als auch Jenifer Becker haben dieses Projektsemester ein Projekt geleitet (Prof. Dr. Katrin Wille: Clownerie der Lücke; Jenifer Becker zusammen mit Prof. Dr. Dagmara Kraus: Schreiben auf KI). Im folgenden Interview sprechen sie über Herausforderungen, Gefahren und Chancen im Zusammenspiel von Theorie und Praxis, definieren für uns den Theorie- und den Praxisbegriff und erzählen von ihren persönlichen Theorie- und Praxiserfahrungen in diesem Semester.
Tilman: Gleich zu Beginn habt ihr eine Gesprächsrunde über das Zusammenspiel von Theorie und Praxis im Projektsemester veranstaltet. Warum war euch das wichtig?
Katrin Ich sehe eine große Chance in der Verbindung von Theorie und Praxis für die Philosophie. Viele Vetreter*innen des Fachs sind darauf bedacht, sich scharf von den anderen, insbesondere den künstlerischen Disziplinen abzugrenzen. Ich begreife die Philosophie aber in Teilaspekten auch als ästhetische Praxis, die sich mit anderen ästhetischen Praktiken verbinden kann. Das Projektsemester bietet die Chance, das ganz konkret und interdisziplinär umzusetzen. Ich sehe aber auch Gefahren…
Tilman: Welche Gefahren meinst du?
Katrin: Ich habe in den vergangenen Jahren gemerkt, dass viele Studierende mit einer Theorieskepsis aus dem Projektsemester kommen. Dem möchte ich etwas entgegensetzen und trete dafür ein, dass im Projektsemester Verbindungsformen und Spannungen zwischen Theorie und Praxis thematisiert und erprobt werden.
Tilman: Diesen Gefahren wolltet ihr auch in der Veranstaltung etwas entgegensetzen?
Jenifer: Erstmal war uns wichtig überhaupt in den Dialog zu kommen. Ich habe die Herausforderungen zum Beispiel viel kleinteiliger und innerhalb des Projektformats gedacht: Wie lassen sich theoretische Betrachtungen produktiv mit Praxis zusammenführen, ohne dass wir bei einem starren Seminar-Korsett landen? Für mich ist dabei wichtig, das nicht nur als Bedrohung zu sehen, sondern als Herausforderung, die wir konstruktiv meistern können. Also habe ich in der Vorbereitung zu meinem Projektseminar viel über didaktische Konzepte nachgedacht, die mir eine Verschränkung von Theorie und Praxis ermöglichen.
Tilman: Um eine Diskussion über Theorie und Praxis zu führen, fände ich es wichtig, zu erörtern, was wir unter den genannten Begriffen verstehen: Katrin, was meint ihr, wenn am Philosophieinstitut von Praxis gesprochen wird?
Katrin: Wir alle denken mit etwas verschiedenen Akzenten über den Begriff „Praxis“ nach. Mir ist wichtig Praxis ganz umfassend zu verstehen und Theorie in die Praxis einzubetten. Wir sind also immer inmitten von Praxis und Theoretisieren stellt sich dem nicht gegenüber, sondern ist Teil davon und selbst eine Praxis, die sich aus bestimmten Anlässen entwickelt – eben eine theoretische Praxis.
Tilman: Und welche theoretischen Auseinandersetzungen werden am Literaturinstitut um den Praxisbegriff geführt?
Jenifer: Kreativ schreiben heißt auch immer – vor allem, wenn es um die Betrachtung von Schreibprozessen und poetologischen Fragestellungen geht – künstlerisch zu forschen. Am Literaturinstitut wird daher viel über den Begriff der Artistic Research diskutiert, wobei die Dozierenden sehr unterschiedliche Standpunkte einnehmen. Mich interessiert besonders: Wie lässt sich im literarischen Text auch der Schreibprozess sichtbar machen?
Katrin: Artistic Research gehört meines Erachtens an eine Kunsthochschule und wir verspielen die besonderen Möglichkeiten unseres Standortes, wenn wir es dem Konzept der ästhetischen Praxis vorziehen. Für uns am Philosophieinstitut ist das Konzept der ästhetischen Praxis viel näher an einer kritischen Dimension des Praxisbegriffes.
Tilman: Was verstehst du unter der kritischen Dimension des Praxisbegriffs?
Katrin: Die kritische Dimension des Praxisbegriffes richtet sich gegen ein verkürztes Handlungs- und Subjektverständnis. Oftmals wird praktisches Handeln so verstanden, dass Subjekte sich geeignete Mittel suchen, die sie möglichst effektiv einsetzen, um gewisse Ziele zu erreichen. Wenn wir Praxis als etwas Umfassendes verstehen, dann benötigen wir Wege, um uns den Dimensionen der Praxis zu nähern, mit denen wir vertraut sind über die Vollzüge, die wir eingeübt haben und die wir miteinander teilen. Diese Vollzüge sind Orte des Wissens. Ein Wissen, das sich aber nicht von den Vollzügen abtrennen lässt und Vollzugswissen bleibt.
Jenifer: Vielleicht sind wir dann doch die zu narzisstischen Künstler*innen, die genau dieses Ich im Forschungsbegriff drin haben möchten.
Tilman: Um den Theoriebegriff nicht zu kurz kommen zu lassen: Was verstehen wir unter Theorie? Geht es hier erstmal nur um eine Denkbewegung mit Erkenntnisgewinn oder ist darin das Lesen von wissenschaftlicher Fachliteratur impliziert?
Katrin: Ich würde zwischen mindestens zwei Formen von Theorie unterscheiden. Da wäre Forschungsliteratur lesen und sich mit Konzepten, geschichtlichen Debatten, Methoden und Positionen auseinandersetzen. Davon abgrenzen würde ich ein Theoretisieren, das immer und überall entstehen kann. Wenn ich zum Beispiel eine Erfahrung im Alltag mache und diese mit jemanden teile, kann sich daraus eine Diskussion über sprachliche Beschreibungen von Erfahrungen entwickeln. Manchmal erwächst daraus eine Eigendynamik, die aus einfachen Beschreibungen Konzepte oder Begriffe macht und wir bemerken, dass diese Konzepte und Begriffe eine Geschichte haben und gewisse Deutungsmöglichkeiten transportieren.
Jenifer: Je mehr wir darüber sprechen, desto unklarer ziehen sich für mich die Grenzen zwischen Theorie und Praxis. Das ließ sich auch im Projektsemester beobachten.
Wir hatten genug Zeit, in den individuellen Textbesprechungen auch literaturtheoretische Fragen mitzudenken: Was heißt schreiben mit Texten, die jemand anderes geschrieben hat. Stichwort: Weiterverwertung, Appropriation. Was bedeutet in diesem Zusammenhang eigentlich Autor*innenschaft? Hier lösen sich Grenzen zwischen Theorie (als selbstreflexive Analyse eigener oder fremder Texte) und Textgenese (als Praxis) gänzlich auf.
Tilman: Wenn ich euch richtig folge, lässt sich also auch Theorie primär als Praxis deuten. Worin unterscheiden sich Theorie und Praxis dann konkret?
Katrin: Praxis ist für mich der primäre Begriff und Theorie einer, der darin eine bestimmte Funktion erfüllt. Auch Theorie ist eine Praxis, aber eine bestimmte Praxis. Deswegen halte ich es in jedem Fall für sinnvoll an den beiden Begriffen festzuhalten. Dabei haben aber sowohl Theorie als auch Praxis eine transformative Kraft. Theorie und Praxis stehen in einem Rückkopplungsverhältnis. Sich diesem zu nähern, ist eine zentrale Aufgabe von ästhetischer Praxis, wie ich sie verstehe.
Tilman: Ihr habt nun einige Chancen und Gefahren von Theorie und Praxis genannt. Was davon konntet ihr konkret in euren Projekten zu beobachten? Wie war das bei deinem Projekt »Schreiben auf KI«, Jenifer?
Jenifer: Wir hatten zu Beginn ein starres Konstrukt mit klar aufgeteilten Theorie- und Praxisblöcken, das im Laufe des Semesters aber aufgebrochen und dynamischer wurde. Am Anfang haben wir mit theoretischer Überforderung gearbeitet und den Studierenden eine Menge Textmaterial zur Lektüre gegeben. Dann haben wir zielgerichtet Schreibübungen und das Ausprobieren von Programmen angeleitet, um ab der Hälfte des Semesters mit den Textwerkstätten anzufangen. In den Textwerkstätten hat sich das Nachdenken über den Schreibprozess mit KI-gestützten Verfahren als der interessanteste Punkt im Arbeitsprozess herausgestellt Das sehe ich auch als einen Teil der Verschränkung von Theorie und Praxis: Im Kunstwerk selbst darüber nachzudenken, was im Kunstwerk eigentlich gemacht wurde.
Tilman: Wie sah das bei Clownerie der Lücke aus?
Katrin: Bei uns war der Mittwoch als Theorietag und der Donnerstag als Praxistag angesetzt. Am Freitag war Zeit für Textrecherchen, um sich Performances anzuschauen oder Experimente in der Stadt durchzuführen. Ich habe Überlegungen für alle drei Bereiche eingebracht, war aber offen für Vorschläge von Studierenden. Die Interessen und Erfahrungen der Studierenden haben uns dann ganz andere Wege eröffnet, die ich gar nicht im Sinn hatte.
Tilman: Inwiefern?
Katrin: Einige Studierende haben zu Beginn so intensiv zum Thema recherchiert, dass zwei theoretische Ansätze ins Spiel gekommen sind, die uns die ganze Zeit begleitet haben und ungeheuer produktiv geworden sind. Im Verlauf des Semesters haben wir uns von unserer Drei-Tage-Struktur verabschiedet und eine Werkstattwoche gemacht. Auch hier waren die theoretischen Überlegungen enorm wichtig. Aus meinem letzten Projektseminar zum akademischen Körper ist ein Magazin mit dem Namen honoris causa entstanden, das wurde von einigen Studierenden auch nach dem Projekt weitergeführt. In der Werkstattwoche haben wir für weitere Ausgaben der honoris causa mit dem diesjährigen Projektseminar Songs und Texte beigesteuert, die voll von Bezügen und der Weiterarbeit unserer theoretischen Diskussionen sind.
Jenifer: Wie schön, dass du nochmal die produktive Kraft der Werkstattformate benannt hast! Auch bei uns waren es die Werkstätten, in denen unglaublich gut gemeinsam gedacht und gearbeitet wurde. Auch um die Verzahnung zwischen theoretischem Nachdenken und der Praxis Kunst-Machen deutlicher hervorzuheben, sollten wir Werkstattformate noch viel größer machen.
apl. Prof. Dr. Katrin Wille
Geboren 1971 in Göttingen, hat Philosophie, Geschichte, Ev. Theologie, Volkswirtschaftslehre in Münster und München studiert, Promotion München, Habilitation Jena, arbeitet als außerplanmäßige Professorin für Philosophie am Institut für Philosophie in Hildesheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der feministischen Philosophie und der kritischen Auseinandersetzung mit den Praktiken des Unterscheidens, Negierens und Kritisierens in der Philosophie wie in der Arbeit an der Verhältnisbestimmung zwischen Begriff und Erfahrung.
Dr. des. Jenifer Becker
Geboren 1988 in Braunfels, hat Journalistik und Literarisches Schreiben studiert, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim, schreibt an Romanen und anderen Projekten
Ein Beitrag von Tilman Rasmus Busch, veröffentlicht am 5. September 2022