
Die letzten Stunden wertschätzen
Ich sprach mit Prof. Dr. Friedemann Nauck von der Klinik für Palliativmedizin der Georg-August Universität Göttingen, um mit ihm über die Praxis, Ziele und Ideale der Palliativmedizin zu sprechen. Wir reden über die Bedeutung von Aufrichtigkeit und Vertrauen und merken, wie wichtig die Individualität des Menschen auch noch in der letzten Sekunde ist.
Ein Beitrag von Phabio Freiboth
Vorweg ein paar einleitende Worte zu Palliativmedizin
und Palliative Care:
Palliativmedizin setzt da an, wo kein Erfolg auf lebenserhaltende Behandlung mehr in Aussicht steht. Ob zu Hause, in Hospizen oder auf Palliativstationen in Krankenhäusern: Patient*innen, die palliativ betreut werden, sind von schweren Krankheiten betroffen, die schwere Schmerzen verursachen. Außerdem sind sie damit konfrontiert, dass sie in einem absehbaren Zeitraum sterben müssen. Damit gehen natürlich vielerlei Krisen und Probleme einher. Diese können nicht nur von ausgebildeten Fachärzt*innen gelindert werden, sondern werden von einem multiprofessionellen Team bearbeitet. An der Uni Göttingen sind neben einem Pflege- und Ärzt*innen-Team, Sozialpädogog*innen, Psycholog*innen, eine Musiktherapeutin, verschiedene ehrenamtliche Mitarbeiter*innen und kirchliche Seelsorger*innen tätig. Die Patient*innen dürfen die Hilfe dieses Teams in Anspruch nehmen. Sie bestimmen selbst, welche Angebote sie annehmen, um den Schlussakkord ihres Lebens möglichst lebenswert zu gestalten.

Phabio von Kulturpraxis: Herr Prof. Dr. Nauck, Ihnen ist es wichtig, dass palliative Versorgung dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Sie wissen: Schwerkranke und Sterbende brauchen aber mehr als nur medizinische Zuwendung. Sie verdienen Aufmerksamkeit und Achtung.
Was bedeutet es für Sie, die Sorgen und Ängste der Patient*innen ernst zu nehmen?
Prof. Dr. Nauck: Der erste Schritt dabei ist ja, dass den Menschen überhaupt erstmal eine Gelegenheit gegeben wird, ihre Ängste auszudrücken. Um einer anderen Person die Ängste zu zeigen, muss ich ihr gegenüber auch Vertrauen gewinnen. Ja, auch meine medizinische Arbeit beinhaltet ganz viel Vertrauensaufbau. Bei Menschen, die unter großen Schmerzen leiden, kann ich zum Beispiel dazu beitragen, indem ich mit Pflegenden, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und anderen aus dem Team im Palliativzentrum im Rahmen der Symptomlinderung zusammenarbeite und Patient*innen erstmals wieder durchschlafen oder nach langer Zeit keine oder kaum noch Schmerzen empfinden. Das sind dann ein paar Milligramm Morphin oder ein anderes starkes Opiat, aber entscheidend ist, dass man vorher genau zuhört und darauf achtet: Was sind das überhaupt für Schmerzen? Es ist auch für die Wahl der Medikation besonders wichtig, sehr genau zuzuhören. Die belastenden Symptome, die häufig auftreten (wie die Schmerzen, die Luftnot, vielleicht die Schlaflosigkeit, Verstopfung, die Appetitlosigkeit, der Geschmack, der weg ist) kann man so behandeln. Aber die Erkrankungen, die das verursachen, sind ja die, die meist nicht mehr ursächlich behandelt werden können und die das Lebensende anzeigen. So geht es auch darum, die Sterbesituation vorzubereiten. Da liegen verständlicherweise oft sehr starke Ängste dahinter. Wenn man das Vertrauen durch Zuverlässigkeit und Anwesenheit stärkt (das gilt als einzelne Person, aber auch für das ganze Team), dann kommen die Menschen auf einen zu. Wir sprechen in der Palliativmedizin nach Cicely Saunders von „total pain“ [1] — also nicht nur vom körperlichen, sondern auch vom psychischen, sozialen und vom spirituellen Schmerz. Insofern ist es meine Aufgabe, die Patient*innen ernst zu nehmen, zuzuhören und Zeit zu geben, damit sie ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen ausdrücken können. Besonders wichtig ist mir dabei der Blick auf eine realistische Hoffnung, auch wenn das Sterben nahe ist: Ein Leben ohne Hoffnung geht nicht.
P: Die Patient*innen ernstnehmen heißt also auch immer, die Schmerzen ernst zu nehmen. Egal wie sie auftreten, ob körperlich, psychisch, sozial oder spirituell. Sind sie alle gleichermaßen auch als Schmerzen zu bezeichnen?
N: Genau! Ja, das würde ich so sagen.
P: Ich möchte nochmal genauer über der Angst vor dem Tod sprechen. Also die Angst davor zu wissen, dass man bald nicht mehr am Leben ist, dass man seine Entwürfe aufgeben muss und Angehörige mit dem Tod konfrontiert sein werden. Wie gehen Sie mit dieser Angst um?
N: Also ich geh damit um, wie die Patient*innen damit umgehen. Einige sagen zu mir: „Herr Nauck, vor dem Tod habe ich keine Angst. Damit habe ich mich abgefunden.“ Aber der Weg dahin ist meist das Schwierige. Da tauchen dann die Fragen auf wie „Wie werde ich sterben?" oder "Wie kann ich das meinen Liebsten leichter machen?“ Oft erleben wir Patient*innen, die schon viel weiter sind mit der Verarbeitung, dass ihr Leben tatsächlich eine Endlichkeit erreicht, als die Angehörigen. Die Angehörigen sind da oft lange nicht so weit und üben Druck aus: „Vater, du musst doch essen, du musst doch trinken!“, obwohl die Sterbenden das gar nicht mehr wollen oder viel Anstrengung vonnöten wäre. Das ist den meisten Menschen in Palliativstationen und Hospizen bekannt und da müssen wir schauen, wie wir eine Situation schaffen, in der wir – als Behandlungsteam – eine moderierende Rolle einnehmen. Das heißt, dass wir versuchen, den Angehörigen, die es ja nur gut meinen, ein wenig leichter zu machen.
P: Die psychische, soziale und spirituelle Arbeit richtet sich also auch zentral an die Angehörigen.
N: Absolut. Wir sprechen im englischen von „Unit of Care“. Wir sind zuständig für die Patient*innen und ihre Angehörigen. Wir begleiten die Angehörigen ebenso zum Beispiel auf der psychologischen Ebene. Klar: Viele stellen eigene Überlegungen zur Sterblichkeit an, welche ängstigen können, fühlen sich alleine gelassen oder haben das Gefühl nicht alles geschafft zu haben, nicht alles besprochen zu haben. Unser Ziel ist es da, ein wenig den Druck rauszunehmen.
P: Was heißt das: „Den Druck rausnehmen“?
N: Das kommt auf die Situation an. Ein praktisches Beispiel von letzter Woche: Es kam eine Tochter von einer Sterbenden auf mich zu, die sagte: „Ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich sie bis in den Tod begleite und immer bei ihr bin.“ Da konnte ich nur fragen: „Wie wollen Sie das denn machen? Immer bei ihr sein? Nicht mehr duschen? Nicht mehr rausgehen? Sie haben doch auch Kinder. Können Sie das wirklich guten Gewissens versprechen?“ Da sagt mir die Patientin, ganz leise, weil sie schon so schwach ist: „Dieses Versprechen habe ich ihr auch nie abgenommen.“ Und plötzlich ist der Druck raus! Der Anspruch „jederzeit“ erreichbar zu sein, ist einfach unrealistisch, wenn man das ganz wörtlich meint. Auch für unser Team. Klar, es ist immer eine Person da, die zur Not hilft, aber ich zum Beispiel kann ja nicht einmal für meine Familie, für meine Partnerin, meine Kinder „jederzeit“ erreichbar sein. Versprechen wir manchmal zu viel oder glauben wir, wir müssen zu viel versprechen? Etwas zu versprechen, das man nicht halten kann, kann in massiven Schuldgefühlen enden. Aber auch wenn sie zum Beispiel Kinder haben ist es wichtig, nie etwas zu versprechen, was sie nicht halten können. Viele Kinder verwinden das nie. Und so machen wir es hier auch nicht. Wir versprechen nur Dinge, die wir auch halten können.
P: Das ist ein sehr interessantes Thema in der Palliativversorgung: Wie realistisch soll man eigentlich sein? Wie realistisch kann man sein? Was ist, wenn man Menschen dann doch alleine im Sterbebett liegen lassen muss, weil man zum Beispiel verreist ist oder so?
N: Es gibt auch Menschen, die alleine sterben wollen. Autonomie bis zuletzt! Vielen Menschen ist ihre Eigenständigkeit so wichtig, dass sie erst sterben können, wenn ihre Angehörigen das Zimmer verlassen haben. Noch zum Begriff „realistisch“: Ich glaube, dass das nicht das richtige Wording ist. Es geht mehr um Ehrlichkeit. Wie ehrlich kann ich sein, ohne verletzend zu sein? Wie erfahre ich von meinem Gegenüber, was er oder sie über die Erkrankung oder das Sterben denkt oder wissen will. Es ist ja nicht wichtig, dass ich der sterbenden Person mit einer Krebserkrankung aufzähle, wo die Metastasen sitzen, das muss und möchte die erkrankte Person oft gar nicht wissen. Es geht dann mehr um das große Ganze. Da müssen wir auch verdeutlichen, dass wir ja nicht immer genau wissen, wie der Weg zum Tod für den einzelnen Patienten aussieht. Es ist ja ähnlich wie bei Geburten, bei denen wir nur sehr unzuverlässig vorhersagen können, wann sie geschehen. Nur 4% der Kinder werden am errechneten Termin geboren. Ich mag die Vorstellung, dass sich Kinder das herausnehmen, zu überlegen wie und wann sie das Licht der Welt erblicken wollen. Wenn ich also sage, dass es mir um das große Ganze geht, dann meine ich, dass ich immer den Blick darauf werfe, dass ich einen Menschen behandele. Ich behandele ja keine Krankheit, sondern einen Menschen, der eine Krankheit hat. Den möchte ich individuell und ehrlich betreuen. Wenn dann das Vertrauensverhältnis stimmt, dann weiß die Patient*in eben auch, dass ich ihr auch nur das erzähle, was sie wissen muss.
P: Wenn ich das richtig verstehe, entsteht dann auch aus der Ehrlichkeit das Vertrauen.
N: Genau. Ehrlichkeit schafft Vertrauen. Das eine geht nicht ohne das andere. Um das zu etablieren, mache ich für die Visite auch immer mein Mobiltelefon aus, nur meine Sekretärin weiß, wo ich bin. Und ich nehme mir Zeit, um den Patient*innen und den Angehörigen zuzuhören. Manche Leute denken sich da: „Was nimmt sich denn der Nauck da so viel Zeit raus?“, aber das ist mir wichtig, da lasse ich mich auch nicht drängeln. Wenn ich dann um zehn vor neun meinen Schreibtisch verlasse, dann kapsele ich mich auch gedanklich von dem ganzen Papierkram ab, den ich zu erledigen habe – und das ist oft eine ganze Menge! Sich dann zu 100% auf die Patient*innen einzustellen ist wichtig, und das ist auch ne Menge Übung, aber erst so kann man richtig erkennen, was die Bedürfnisse und Wünsche der Patient*innen sind. Es ist total schön sich dann auf sie und ihre Bedürfnisse einlassen zu können.
P: In meiner Ausbildung als ehrenamtliche Sterbebegleitung habe ich auch gehört, wie wichtig es ist, sich auf die Sterbenden mit Herz und Hand einzulassen, das heißt: die Feinfühligkeit der Sterbenden anzuerkennen.
N: Super, ja, das sieht man ja bei Neugeborenen, die das auch nicht formulieren können, aber so bedürftig sind nach Wärme, Nähe und Liebe. Ja meinen Sie denn, dass wir das im Verlauf des Lebens abgeben? Egal, ob man ein toller Hecht irgendeiner tollen Firma oder der beste Bauarbeiter Göttingens oder Hildesheims ist – die Sensibilität gibt man nicht ab. Wenn man Bilder der Personen von früher sieht (die meisten haben sowas ja doch noch irgendwo rumliegen) was sieht man da nicht für wunderbare Menschen?! Von einem tollen Urlaub, von der Taufe bis zur Hochzeit. Großartige Menschen! Und das hilft wiederum diesen Menschen, abseits der Krankheit, zu sehen. Und dann ist auch die Sensibilität da.
P: Wie übe ich diese Sensibilität dann zum Beispiel praktisch aus?
N: Sie können dem Patienten am Lebensende etwas Schönes vorlesen. Am besten einen Text, den er gemocht hat. Viele sagen, der Mensch wäre nicht mehr „ansprechbar“ – auch ein unpassender Ausdruck! Ich kann ja auch Menschen in Narkose ansprechen. Warum sollte ich das nicht tun? Der Mensch ist vielleicht nicht so erreichbar, wie ich das gerne hätte. Bei Menschen, die kognitiv so eingeschränkt sind, kommt jedoch dazu, dass man einschätzen muss, wie viel man der angesprochenen Person zumuten möchte. Wie viel Anwesenheit möchte die oder der Sterbende haben? Da kann man zu viel oder zu wenig geben. Das kommt dann wieder auf die Persönlichkeit an.
P: Wenn ich zum Beispiel einen Text vorlese – ist dann nur noch die Form relevant?
N: Nein, das würde ich nicht sagen. Es ist wichtig, was vertraut vorkommt. Wir haben in Göttingen zum Beispiel einen wissenschaftlichen Schwerpunkt – auch schon vor 2012 – zum Thema Migrant*innen und Geflüchtete in der Palliativversorgung und wollen wissen, was die Bedürfnisse und Bedarfe dieser Menschen sind. Das gilt übrigens auch für Menschen, die in sozial prekären Situationen leben, auch diese müssen mit Nachdruck nach ihrer Einstellung zum Tod befragt werden, weil das bisher nicht oder kaum untersucht wurde. Wir sind froh, dass wir das hier in Göttingen im Rahmen der Forschung untersuchen dürfen. Bei uns auf der Station haben wir einmal einen gläubigen Mann betreut, und niemandem war klar, dass er gläubig ist. Da mussten wir die Familie befragen, um zu erfahren, was ihm wichtig war im Leben. Es war sein Glaube und als er dann Stellen aus dem Koran hörte, die von Angehörigen vorgelesen wurden, hat man gesehen, wie seine Lippen angefangen haben sich zu bewegen. Das kann man natürlich auch beim Vater Unser erleben, mit Liedern, Schlagern oder was auch immer. In dem Zuge möchte ich auch nochmal die Ehrenamtlichen erwähnen, die wir auch unbedingt brauchen (und wir haben glücklicherweise viele). Mit dem Geist der Absichtslosigkeit gehen sie voller Respekt auf die Stationen und sind einfach für die Schwerkranken und Sterbenden da. Die/der Patient*in erwartet eben auch nichts anderes von den Ehrenamtlichen. Nur gemeinsam mit den Haupt- und Ehrenamtlichen geht das Konzept von Hospizarbeit und Palliative Care auf. Gemeinsam kann man sich den Ängsten der Menschen am besten widmen, wenn man aufrichtig Aufmerksamkeit schenken kann. Und damit wären wir wieder beim Anfang unseres Gesprächs. Man kann am Ende einer Behandlung natürlich nicht sagen, dass man Tod und Sterben immer passend erklärt hat, aber man hat Menschen geholfen den Weg dahin zu finden.
P: Und das ist mehr, als es klingt. Vielen Dank für das Gespräch!
[1] Saunders Cicely (2000): The evolution of palliative care. Patient Education and Counseling 41.
![Nauck, Friedemann[2388]](https://www.uni-hildesheim.de/kulturpraxis/wp-content/uploads/2021/06/Nauck-Friedemann2388.jpg)
Prof. Dr. Friedemann Nauck: Leiter der Palliativstation
der Universitätsmedizin Göttingen