Nacht­ein­ander Folge 4

Suberg's Ü‑30-Party

Ihr habt’s verpasst? Wir nicht. Wir gehen auf Hildes­heims Partys, damit ihr es nicht müsst.

Vorge­plänkel

Ich weiß: Mit Anfang 20 alleine auf eine Ü‑30-Party zu gehen, klingt wie der lang­wei­ligste Versuch einer ausge­brannten Vice-Redak­tion, das eigene Artikel-Spek­trum zu erwei­tern, indem man ausnahms­weise mal nicht darüber schreibt, wie es denn ist, sich auf Ayahuasca in der Schlange zum Stra­ßen­ver­kehrsamt auf Tinder als Charles Manson auszu­geben, während man sich selbst in Brand gesetzt hat. Dennoch ist es notwendig. Hinter all den Malen, die irgendein gestran­deter Mitt­vier­ziger auf eurer Abitur-Party war und viel zu lange geblieben ist, steckt ein Mikro­kosmos. Eine Oase, ein Ort, den er Heimat nennt. Ein Ort, der auch mal Aufmerk­sam­keit verdient hätte, denn Ü‑30-Menschen sind auch nur Menschen, die Spaß haben wollen, und anderen Spaß ermög­li­chen wollen. So auch Herr Radicke, der Veran­stalter der Suberg Ü‑30-Party, der mir im Vorfeld gnädi­ger­weise trotz ange­kün­digter Ausweis­kon­trolle (offi­zi­eller Einlass ab 27 Jahren) den Eintritt und Unsterb­lich­keit gewährte. 

Und dann bin ich plötz­lich irgendwie ange­trunken und hab tatsäch­lich etwas Bock, als ich in den Bus steige, doch dann steige ich kurz vor Mitter­nacht alleine aus und finde mich in einem Teil von Hildes­heim, in dem ich noch nie gewesen bin. Ich will kurz meine Gedanken ordnen, ehe ich von Leuten über­rollt werde, die mit Flaschen voller Mischen in Rich­tung der Volks­bank-Arena pilgern. Es regnet, also stelle ich mich vorerst bei dem Polizei-Gebäude unter. Jemand kommt vorbei, foto­gra­fiert das Polizei-Schild vor dem Gebäude und haut gegen die Müll­tonne an der Bushal­te­stelle. Leute hupen in ihren Autos, der Bass treibt die gesamte Gegend zum Vibrieren, Taxis fahren über den Bürger­steig. Der Energie-Pegel der anste­henden Kolonnen scheint gen Zenit zu steigen, während ich meinen einzigen Stift verliere und mich am meisten mit einer einsam über die Straße wehenden Müll­tüte iden­ti­fi­ziere. Ich ziehe über den Park­platz und spüre Blicke, die fragen, ob ich Drogen verkaufe. Am Eingang lege ich mir meine höfliche Rede zurecht, die auf Herrn Radicke, Pres­se­frei­heit, Förde­rung von der Zukunft dieses Landes und auf Selbst­ver­wirk­li­chung verweist und an die Vernunft der Türsteher, der so recht­mä­ßigen Hüter dieser Welt, appel­liert. Ich werde wortlos durch­ge­wunken und zahle meine 15 Euro. 

Während­ge­plänkel

Vor der Garde­robe befindet sich die größte Menschen­traube der Welt. Hier fragen sich Frauen, ob der Türsteher mexi­ka­nisch sei, bevor sie die Trenn­wand zwischen Menschen­masse und abge­ge­benen Jacken zu Boden reißen. Alle sind hier wahn­sinnig kalt ange­zogen und überall riecht es nach Eau de Cologne und Verzweif­lung. Für heute habe ich mir mein reifstes Hemd ange­zogen, um älter auszu­sehen, und ich sehe, dass hier jeder andere Typ sein frechstes Hemd ange­zogen hat, um jünger auszu­sehen – beides scheint nicht so recht zu gelingen. Ich meine, mit einigem Abstand der Jüngste hier zu sein, sehe dann aber die Titel der Dance­f­loors und fühle mich glatt 20 Jahre älter: Chart­breaker, Club­sounds und Discofox. „Schmiddi, wo's dein Kind?“ — „Ach, naaaah“ heißt es vor mir. Rechts von mir foto­gra­fiert jemand mit Blitz gekonnt um einen wohl von Alkohol ausge­knockten Mann herum, links von mir werden Muffins verkauft. 

Der Chart­breaker-Floor ist gigan­tisch. An den Bars stehen Strand­stühle, Palmen und Pflanzen, die niemand der hier arbei­tenden Leute zu kennen scheint. Ich glaub, es sind Birken­feigen. Parallel zu einem regel­recht tötenden Bass wird auf einer LED-Lein­wand über dem DJ-Pult der tonlose Trailer für „Holmes & Watson“ mit Will Ferrell und John C. Reilly gezeigt, dann der Trailer zum neuen Spiderman-Film. Niemand außer mir lässt sich davon irri­tieren, denn alle außer mir haben wahn­sinnig viel Spaß und tanzen überall. Die Tische sind mit jeweils einer einzigen Tulpe versehen und sehen so aus, als würden sie jeden Moment zusam­men­bre­chen. Aus irgend­einem Grund gibt es hier auch einen VIP-Bereich, in dem sich aber niemand aufhält. In einem laufenden Lied ist die Rede von Copa­ca­bana und Fort­nite, und ich verliere mein Gespür für Raum und Zeit. Ich schwebe. Beyoncés „Single Ladies“ weckt mich auf. Jemand hat mir mal in der neunten Klasse den Rat gegeben, bei diesem Lied darauf zu achten, welche Mädchen ihre Hände heben. Hier heben alle Menschen ihre Hände, der Laden bebt, und die ersten Leute werden mir gegen­über schon miss­trau­isch, weil meine Hände unten bleiben und unten bleiben werden. Der DJ spricht davon, auch andere Musik zu haben. Mit anderer Musik meint er Helene Fischer, und ich schwebe wieder im Nichts, also gehe ich auf die Toilette. Sie ist so gut wie leer und riecht nach Gras. Jetzt scheint das hier eine Party zu sein. Ich wasche mir die Hände dennoch lieber drei Mal. Ich kehre zum von allen beju­belten „Mambo No. 5“ zurück, welches vom Maca­rena beerbt wird. Nur 20 Prozent geben sich Mühe, die Luft scheint raus, ich wechsle den Floor. 

Der Club­sound-Floor ist glei­cher­maßen dunkel und grell. Er hat eine gewisse Knick­licht-Optik, oder eher die Optik der Farben, die man sieht, nachdem einem die Chemi­ka­lien aus Knick­lich­tern ins offene Auge geschüttet wurden. Ich find's hübsch, fühle mich jedoch einge­engt. Mir stehen zu viele Menschen auf der kleinen Tanz­fläche, die Wände hängen zu tief, die Musik scheint über­steuert, zumin­dest verstehe ich hier rein gar nichts. Jemand tanzt im Anzug und der DJ hier trägt Band­anas an den Armen und gibt mir ernste DJ Ötzi-Vibes. Ich bin verwirrt, aber habe mitt­ler­weile so viel Körper­span­nung entwi­ckelt wie noch nie in meinem gesamten Leben, weil ich nicht als respektlos empfunden werden möchte. Mein Kaugummi wird allmäh­lich flüssig und ich begebe mich in die rettenden Arme des Discofox-Floors. 

Dieser würde mich zutiefst depri­mieren, wenn es hier nicht so viele wunder­volle Sitz­ge­le­gen­heiten gäbe. Die ersten Leute scheinen auf den Sitz­bänken einge­schlafen zu sein. Ich glaub, das hier ist Après-Ski-Musik, bloß scheinen alle überaus glück­lich damit zu sein. Mich umgibt ein regel­rechter Gene­ra­tion X‑Kult. Ihre Augen sagen, dass ich mit ihnen tanzen soll. Ihre Körper sagen, dass sie gerade einen Erdbeben auf einem Tram­polin erleben. Ich sitze gegen­über von einem Ü‑70-Paar, das sich sehr sexuell anein­ander reibt. Ich sage ihnen, dass sie ein süßes Paar abgeben, und hoffe ein biss­chen, dass sie mir für diese Worte und mein Schul­zeugnis Geld geben. Sie tun es nicht. Als Abschieds­ge­schenk verschwinde ich und gebe ihnen ihren Frei­raum. An einer anderen Tisch­decke klebt fremdes Blut. Zwei Bros high-fiven und umarmen sich vor Ekstase beim Tanzen, es riecht nach schwit­zender Kotze. 

Ich schreite zur Tür zum Raucher­be­reich, da sie die ganze Zeit über auf ist und daher die beste bzw. einzige Quelle für frische Luft ist. Auf dem Weg dorthin erzählt mir die Lein­wand auf dem Chart­breaker-Floor, dass das Feuer­zeug vor dem Streich­holz erfunden wurde. Die Körper­span­nung beginnt mir weh zu tun. Eine sehr nette Dame mit konstantem Lächeln fragt mich, was ich hier tue. „Ist das Poetry Slam?“ — „Nein.“ Sie geht, und während ich versuche, beschäf­tigt auszu­sehen, frage ich mich, ob sie mich für ein verlo­renes Kind im Super­markt hält. Mir wird warm um's Herz. Zwar hat sie mich mit ihrem plötz­li­chen Erscheinen erschro­cken, aller­dings denke ich, dass ich alle anderen hier mit meinem gene­rellen Erscheinen auf gleiche Weise erschrecke. Ich treffe auf die Damen, die den Türsteher für einen Mexi­kaner hielten. Sie loben mich für mein visu­elles Gedächtnis und sagen, dass sie hier jeden Floor schlecht finden, sie aber trotzdem Spaß haben, weil sie einander haben. Mein Herz explo­diert und ich glaube, dass ich eine gute Zeit habe. Ich sollte gehen. 

Nach­ge­plänkel

Oben auf dem Discofox-Floor grinden mitt­ler­weile alle anein­ander. Ob ich Reporter sei, fragt mich ein Mitt­vier­ziger auf scherz­haft-aggres­sive Weise. Er hat zu viel Energie und fordert mich dazu auf, einen Witz zu erzählen. Nein. Er will mich mit einer seiner ledigen Freun­dinnen verkup­peln, schließ­lich sehe ich ja zeugungs­fähig aus. Mein Stich­wort. Der DJ ruft „Das geht noch schneller!“, ich nehme ihn beim Wort und ziehe begleitet von einem Pitbull-Song Leine. In der Garde­roben-Schlange werde ich fälsch­li­cher­weise des Umwer­fens der Trenn­wand bezich­tigt, aber das ist in Ordnung. An diesem Abend wurde so viel für mich getan, dass das das Mindeste wäre, was ich tun könnte. Danke, alte Menschen.

Text: Marcel Schütte.

Illus­tra­tionen: Nelli Lorenson.

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