Nacht­ein­ander Folge 1

Fast-Berg­fest

Ihr habt’s verpasst? Wir nicht. Wir gehen auf Hildes­heims Partys, damit ihr es nicht müsst.

Vorge­plänkel

Also gehe ich endlich vor die Haustür, um den letzten Bus zum Lein­kamp zu erwi­schen, und das Erste, was ich sehe, ist diese tote Ratte, die wieder­holt über­fahren worden ist. Ich gehe weiter. Ich erwi­sche den Bus gerade noch so, es herrscht eine merk­wür­dige Energie. Der Bus ist voller, als er an einem Donners­tag­abend um 23:30 Uhr in Hildes­heim sein sollte. Ob die alle zur Domäne wollen? Nein, es ist schließ­lich ein Donners­tag­abend um 23:30 Uhr in Hildes­heim, und es ist die Domäne, von der wir hier reden. Irgend­wann steigen auch die Leute ein, die ich tatsäch­lich sehen möchte, und sie sind, eben weil es die Domäne ist, extrem pessi­mis­tisch, was den Abend angeht. Wir sehen es als Ersatz für die Weih­nachts­feier vom Lite­ra­tur­in­stitut, denn uns bleibt nichts anderes übrig. 2014 wurde im Laufe einer Lite­ra­tur­in­sti­tuts­weih­nachts­feier der Kron­leuchter im Blauen Salon herun­ter­ge­rissen und das Jahr darauf soll es auch sehr cool gewesen sein, weil dort Drogen an Orten genommen wurden, an denen man keine Drogen nehmen sollte. 2016 war's auch cool, aber 2017 nicht. Wir reden darüber, wie wir wohl alle verse­hent­lich unsere Brücken zu Guido Graf verbrannt haben und ihn nie darauf anspre­chen werden. Allmäh­lich gewinnt die Stim­mung an Tempe­ratur. Unser Leben vor der Party war ein Regen­bogen in einem Schwarz-Weiß-Film, heute Abend würde er zu einem Regen­bogen aus einem Farb­film heran­reifen, so zumin­dest meine Sichtweise.

Vom Lein­kamp aus gehen wir den Kilo­meter zur Domäne, weil wir keine Wahl haben, und jemand spielt im Gehen Gitarre und impro­vi­siert einen Monolog über irgendein polni­sches Volks­lied und es hat absolut keine Berech­ti­gung, so lustig zu sein, wie wir es finden. Ich habe noch nichts getrunken, alle anderen schon, und wir schütten uns in unserer besten Imita­tion von coolen kidz die Flasche Wein ins Gesicht, denn was sollen wir bitte sonst tun. Irgendwie schweift das Gespräch zu Harry Potter und wie das Fran­chise das Etwas ist, das von allen am meisten über­be­wertet wird und warum so viele ihre gesamte Iden­tität daran koppeln. Wir fragen uns, wer denn der Harry Potter der Domäne sei und einigen uns dabei auf Thomas Klupp, weil es a) stimmt und b) super witzig wäre, wenn er als er selbst die Rolle dieses kleinen Zaube­rers einnehmen würde, er, der er ja 40 und aus Erlangen ist und in diesem Szenario von all den anderen Figuren als dieser kleine Zauberer akzep­tiert würde.

Während­ge­plänkel

Wir sind da, bloß hab ich noch zu viel Wein und stehe alleine vor dem Kunst­ge­bäude, weil ich zu lange dabei gebraucht habe, meine Nase im Morse­code-Stil zu putzen. Ich gehe auf Toilette, wäre ja komisch, wenn ich den Rest trinke, während ich mutter­see­len­al­lein auf all diese Menschen­trauben starren würde. Irgend­wann bin ich fertig und gehe hinein, finde meine Gruppe nach einiger Zeit wieder. Für einen Donners­tag­abend um 00:12 Uhr auf der Domäne ist viel los, aber in einem anderen Kontext wäre es dürf­tiger. Auf Floor #1 läuft ganz amüsante Trash-Musik die man halt kennt, doch mein Blick schwingt direkt über die Tanz­fläche hinweg weil sich die Leiter hoch überall weiße Vorhänge und Matratzen befinden und in einem schwa­chen Azur­blau leuchten. Es sieht mini­ma­lis­tisch aus, wie ein Bordell in der Antike wahr­schein­lich aussah, nur ist es hier halt hübscher, mehr aber auch nicht. Auf Floor #2 läuft cooler Hip-Hop für coole kidz und es ist wirk­lich cool, doch hab ich den Eindruck, als würden 90% so tun, als wüssten sie über die Songs und die Künstler Bescheid, aber ist es allen egal, weil sie cool und eins sind. Hier leuchtet es rot und das Bier kostet nur 1,50 € und das ist gut. Daran angren­zend ist eine Art Raucher­garten, wo ein wunder­schönes Holz­kanu steht und Leute Speed ziehen, was für mich aber zweit­rangig ist, weil ich davon abge­lenkt bin, wie denn bitte alle von ihnen hinkriegen, die Lines auf ihren Handys gerade zu halten, wenn sie die Handys doch nur in einer ihrer Hände halten.

Wir gehen auf Floor #1 und alle haben ihre Signa­ture-Dance-Moves (beispiels­weise sich während­dessen einfach mega cool zu kämmen) und tanzen bzw. leben im Moment und ich hab den Eindruck, als würde ich tanzen wie ein Alien, das versucht, alle Tanz­me­thoden gleich­zeitig zu imitieren, um sich irgendwie an die Umge­bung zu assi­mi­lieren. Es wird mir egal. Dann läuft ein Lied, das nicht "Barbie Girl" ist, es aber genau so gut sein könnte, und es über­rascht mich mit einem komplett fehl­plat­zierten Rap-Verse und ich lache und lache, weil er wirk­lich so beschissen ist. "Hey Ya" läuft und wird vor dem "Alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright alright" abge­würgt und in meinem gesamten Leben war ich noch sie so ange­pisst und wir gehen raus. Alle reden schon davon abhauen zu wollen, bloß kann ich sie auf ener­gi­sche Weise dazu mani­pu­lieren das genau nicht zu tun, wobei die Energie daher stammt, dass ich mich bewege, um mir keine Blasen­ent­zün­dung von der Mauer zu holen, schließ­lich kann das JEDEM PASSIEREN. Ich rutsche mit wem in ein Gespräch über seinen Lebens­lauf und er erzählt mir, dass er 30 sei und ich glaube ihm nicht und dann kommt Pfeffi ins Spiel und alle sind plötz­lich im "Hell-yeah"-Modus, der sich dann aber als "Hell-yeah-lass-uns-endlich-gehen"-Modus heraus­stellt und irgendwie bin ich der einzige von uns, der aktuell ne gute Zeit hat. Jeden­falls geht's wieder an die frische Luft und jemand gibt kein Feuer ab, weil wir kein Fran­zö­sisch spre­chen können. Jemand schmeißt uns ne bren­nende Ziga­rette zu und ich frage mich, ob ich wieder blute, tue es dann doch nicht und dann zieht meine Gruppe Leine und ich gehe mit Rich­tung Taxi, lass es dann aber bleiben.

Nach­ge­plänkel

Ich gehe auf Toilette und die unten ist von zwei Männer­stimmen besetzt, also gehe ich nach oben. Als ich wieder runter­komme, sitzen da zwei Typen, die mich fragen, ob da oben eine Party sei, und ich bin mir nicht sicher, ob das ein Euphe­mismus für irgend­etwas ist, und sage nein. Sie igno­rieren mich sofort, als eine Frau an ihnen vorbei­geht, weil ich nämlich keine bin. Im Kunst­ge­bäude nehme ich Platz auf Holz voller Sitz­kissen, schließ­lich sind dort die einzigen Menschen, die mir bekannt vorkommen, nur stecken die gerade in einem sehr einsei­tigen Gespräch, das ernst aussieht und ich nicht einfach crashen kann, daher mache ich mir Notizen und versuche dabei, möglichst beschäf­tigt auszu­sehen. Während­dessen über­lege ich mir, wie ich nach Hause komme. Da ist eine Frau, die immer bei derselben Bushal­te­stelle einsteigt wie ich, aber dann ist sie weg und ich kann sie nicht fragen, ob wir uns ein Taxi teilen könnten und ich bin froh darüber. Im Augen­winkel sehe ich, wie Leute im Off den Floss-Move machen und ich denke mir, dass ich hier schnellst­mög­lich abhauen sollte. Es ist 03:00 Uhr und ich habe keinen dieser Menschen jemals gesehen, und alle fragen sich, wo bloß die anderen Leute seien, die ich auch niemals gesehen habe, und ich frage mich, wo ich bloß bin, also gehe ich zu Fuß von der Domäne in die Innen­stadt und brauche nur zwei Stunden.

War gut.

Text: Marcel Schütte.

Illus­tra­tionen: Nelli Lorenson.

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