Einatmen, Ausatmen, Zähneputzen.

Mein Self­care-Problem.

Mai 2020.
Mitar­bei­tende des briti­schen Premier­mi­nis­ters halten in der Downing Street Arbeits­treffen ab, die wie Partys aussehen. Alle anderen sitzen zu Hause und googlen Self­care-Tipps.
Naja, viel­leicht nicht alle. Aber laut Google so viele wie zuletzt im November 2016. (Kleiner Reminder: Damals hatte Donald Trump über­ra­schend die US-Präsi­dent­schafts­wahl gewonnen.)
Das war aber auch eine krasse Zeit im Mai 2020. (Moment mal, wieso war?)
Wir hatten gerade erst ange­fangen, Masken zu tragen. Wir beschäf­tigten uns mit expo­nen­ti­ellem Wachstum, fingen an zu joggen und in Bergamo fuhren Armee­fahr­zeuge Särge durch die Stadt. 

Darauf erstmal ein Schaumbad. 

Die Top 5
Such­an­fragen
im Mai 2020

  • breathing exer­cises
  • medi­ta­tion
  • rela­xa­tion
  • how to organize
  • how to calm down

Bevor es weiter­geht, eine Sache vorweg: Ich mache selber halb­wegs regel­mäßig Yoga. Schaum­bäder sind echt 'ne feine Sache. Und du bist es auf jeden Fall Wert, dir täglich die Zähne zu putzen. Trotzdem bekenne ich:

Ich habe eine Problem mit Selfcare.

Aber first things first.

Was ist das über­haupt, Selfcare?

Laut Wiki­pedia (ja ganz recht, Wiki­pedia, don't judge!),
laut Wiki­pedia also bedeutet Self­care, sich um sich selbst zu kümmern.
Dazu gehören vor allem Verhal­tens­weisen, die die Gesund­heit fördern und aktives 'Manage­ment' von Krank­heiten im Krank­heits­fall. Self­care umfasst unter anderem alltäg­liche Dinge wie gesundes Essen, genug Bewe­gung, ausrei­chend Schlaf und … Zahnhygiene.

Hier stellt ihr Euch jetzt bitte ein Foto
mit rüstigen Renter*innen vor, die
fröh­lich in der Gegend rumlaufen.

Darunter die Caption
"Walking is bene­fi­cial for the
main­ten­ance of good health." 

You cannot make this shit up.

Wie so ziem­lich alles auf der Welt wurde auch Self­care von den alten Grie­chen erfunden. Angeb­lich war es Sokrates, der… Sorry, das muss ich jetzt kurz auf Englisch zitieren, weil es so gut ist:

Socrates has been credited with foun­ding the self-care move­ment in ancient Greece.

Way to go Sokrates, du alter Influencer.

Von Sokrates zum Schaumbad mit Sekt in der Hand und Totes-Meer-Maske im Gesicht ist zwar ein ziem­li­cher Sprung, aber schaut mal, wie ich ihn jetzt einfach trotzdem wage.
Wenn ihr mich fragt, ist Sokrates nämlich ein gutes Beispiel dafür, was mich an Self­care stört. Waren die alten Grie­chen nicht ein Haufen Dudes mit genug Zeit und Geld, um mittags auf der Agora abzu­hängen, über den Sinn des Lebens zu philo­so­phieren und Ratschläge zur vollen Gönnung zu erteilen? (Ja, das waren sie.) Und die Follower dieser ersten Self­care-Bewe­gung waren, genau, ein Haufen Dudes mit genug Zeit und Geld, um sich um sich selbst zu kümmern. (Klingt komisch, is aber korrektes Deutsch.)

Zuge­geben: Heute tauchen unter #self­care vor allem weiße, able-bodied, gut ausse­hende cis-Frauen auf. Ihr Wappen­tier ist die Mons­tera, ihr signa­ture drink ist Yogi-Tee, Bauch rein, Brust raus und ab mit Euch in den nach unten schau­enden Hund!
Hab ich was vergessen? Ach ja: jung sind diese über­durschnitt­lich flexi­blen Self­care-
Prak­ti­zie­re­rinnen auch meis­tens. Sorry, Boomer, für Euch leider keine Selfcare!

Ihr versteht, worauf ich hinaus will: Self­care scheint das Ding einer spezi­fi­schen, global gesehen ziem­lich privi­le­gierten Gruppe zu sein. Und eine Marke­ting­ma­schine zum Verkauf von allem mögli­chen Zeug, das kein Mensch braucht. (But that's capi­ta­lism, huntey!)

Wenig über­ra­schend greifen Frau­en­zeit­schriften das Thema seit geraumer Zeit auf.

Warum ist Self Care wichtig?

Fragt zum Beispiel die Glamour.
Alltags­stress, schlechte Work-Life-Balance, keine Zeit für ausge­wo­gene Mahl­zeiten, die Freundin hat Liebes­kummer, dazu noch die Schlaf­stö­rungen. Ab und zu ist das ja ganz okay, aber auf Dauer, liebe Leserin, kann das zu Depres­sion und Burnout führen.
Auweia.
Nun denke ich mir: Scheiße, wenn das mein Leben ist (und, damn you, Glamour!, das hört sich tatsäch­lich nach meinem Leben an), dann muss sich drin­gend was ändern.
Na, das findet die Glamour aber auch!
Besser noch: Die Glamour sagt, um mein Leben zu ändern, braucht es nicht viel!!

"Acht­sam­keit und Selbst­für­sorge können immer und überall betrieben werden. Also: Nichts wie ran an die Arbeit!"

Es folgen die übli­chen 1001 Self­care-Ratschläge: Yoga, Medi­ta­tion, Jour­na­ling, und so weiter.

Moment mal, hab ich das richtig verstanden?
Ich bin vom daily hustle total über­for­dert, und die Glamour so: A bisserl mehr geht immer, LOL!

Wie sagte elhotzo doch gleich?
"schlimmste an Self­care, dass man sich selbst drum kümmern muss"

Darauf erstmal ein Schaumbad.

Passend dazu gibt es von der Glamour noch ein paar Tipps zur Gestal­tung des Bade­zim­mers
(Blau­töne! Kerzen! hübsche Spiegel!) und eine Empfeh­lung für — Achtung! — Selbst­be­frie­di­gung.
Wichsen gegen's Burnout. Na, das ist immerhin originell.

Ich weiß ja nicht, wie's Euch geht. Aber wenn ich so was lese, krieg ich einen Ohrwurm.
Ich sage nur: Macht kaputt, was Euch kaputt macht.
Und nicht: Hey, dein Leben ist zwar so anstren­gend, dass es dich krank macht, aber hier ein paar Tipps, was du zusätz­lich noch machen könn­test, und schau mal, hier eine Packung hand­ge­schöpfter Bade­zu­satz aus Arionabeeren-Trester für 19,99.

Viel­leicht ist es wirk­lich so, wie der briti­sche Professor André Spicer unlängst in seinem Artikel über Self­care im Guar­dian schrieb:

Self­care is life­style advice for
an age of dimi­nished expec­ta­tions,
where most people have given up
on getting to the top
 and the best
they can hope for is to get through the day.

Auweia.

Ja was denn nun?!, höre ich Euch fragen. Ist Self­care ein first world problem oder der Anfang vom Ende der Wohl­stands­ge­sell­schaft? Bin ich eine schaum­ge­ba­dete Göttin oder eine arme Sau, der nichts anderes übrig bleibt, als ihren Kummer in Patchouli zu ertränken?
Die Antwort ist ganz klar, werte Leser*innen mit dem eisernen Durchhaltevermögen.

Sowohl als auch.

To quote Hamlet
Act III
Scene 3
Line 87
"Nooooo!"

Yes, ihr love­lies, yes.
Und ehrlich gesagt: Wenn ihr so weit gekommen seid und immer noch glaubt, dass der nach unten schau­ende Hund Euch aus diesem ganzen Schla­massel helfen wird, dann weiß ich auch nicht.

Aber keine Sorge, ich verspreche Euch: gleich ist es vorbei.
Ok, nicht gleich.
Aber bald.
Also hopp!
Drei Minuten Zahn­putz-Pause und dann nichts wie auf zum Artikel-Endspurt!!

André Spicer zufolge leben wir in einer Zeit, in der 30% der Bevöl­ke­rung des globalen Norden mindes­tens einmal im Leben an einer Angst­stö­rung erkrankt. Das wären in Deutsch­land unge­fähr
2,5 Millionen Menschen. (I did the math!)
Ange­sichts dessen erscheint Self­care und die häufig damit einher­ge­hende Thema­ti­sie­rung von psychi­schen Krank­heiten und mentaler Gesund­heit doch sinn­voll und wichtig und gut, nicht wahr?

Versteht mich bitte nicht falsch: Ich finde es wichtig, dass psychi­sche Krank­heiten entta­bui­siert und wir alle für das Thema mentale Gesund­heit sensi­bi­li­siert werden. Aber irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass das ganze Self­care-Gedöns nicht der nächste Meilen­stein auf dem Weg zu einer besseren Welt ist.
Und zwar aus zwei Gründen.

1. In der Auffor­de­rung zur Selbst­sorge steckt eine neoli­be­rale Logik: Wenn du ausge­brannt, depressiv, unglück­lich oder krank bist, dann bist du selbst Schuld. 

Hast dich wohl nicht genug um dich selbst geküm­mert, was?

2. Self­care bekämpft die Symptome, nicht die Ursache. Anstatt zu fragen, ob das System uns krank macht, werden wir mit einer Anlei­tung zum Acht­sam­sein abgespeist.

Klappe halten, weitermeditieren!

Darauf erstmal ein… na, ihr wisst schon.

Btw: Das mit dem Zusam­men­hang von Kapi­ta­lismus und psychi­schen Krank­heiten habe ich mir nicht ausge­dacht. Da gibt's eine ziem­lich gute Studie zu von Alain Ehren­berg mit dem wunder­baren Titel 
Das erschöpfte Selbst. Depres­sion und Gesell­schaft in der Gegen­wart. (That's right, kids! Ich lese nicht nur Wikipedia.)

Und jetzt?

Kein Licht­schein am Ende des Tunnels? Keine uplif­ting message zum Schluss? Keine Moral? Nichtmal ein klit­ze­kleiner Aufruf zur Revolution?

Na gut, Leute.

Es gibt einen Silber­streifen am Hori­zont, und er ist natür­lich pastellfarben.

Ein Kapitel in meiner umfas­senden Geschichte der Selbst­sorge von der Antike bis heute habe ich Euch verschwiegen. Da war doch noch was zwischen Sokrates und den ganzen Internet-Karens. Eine Gruppe afro-ameri­ka­ni­scher, lesbi­scher Femi­nis­tinnen nämlich. Sie waren es, die den gegen­wär­tigen Self­care-Begriff geprägt haben, aller­dings nicht in dieser weich­ge­spülten Version, mit der wir heute pausenlos trak­tiert werden.

Above all else, our poli­tics initi­ally sprang from the shared belief that Black women are inher­ently valuable, that our libe­ra­tion is a neces­sity not as an adjunct to some­body else's but because of our need as human persons for auto­nomy. […]
We realize that the only people who care enough about us to work consis­t­ently for our libe­ra­tion are us. Our poli­tics evolve from a healthy love for ourselves, our sisters and our commu­nity which allows us to continue our struggle and work.

So heißt es im Mani­fest des Combahee River Kollek­tivs von 1977.
Self­care ist hier einge­bunden in einen poli­ti­schen Kampf um gleiche Rechte. Self­care ist wichtig, weil schwarze Frauen in der Gesell­schaft entwertet, diskri­mi­niert und herab­ge­wür­digt werden, sie tagtäg­lich der struk­tu­rellen Gewalt von Rassismus, Sexismus und Homo­phobie ausge­setzt sind, und sich niemand um ihre Belange kümmert, außer sie selbst.
Deshalb verstehen sie Self­care als wich­tigen Bestand­teil ihres poli­ti­schen Kampfes. Audre Lorde, eine afro-ameri­ka­ni­sche queere Akti­vistin, bringt es wie folgt auf den Punkt:

Caring for myself is not self-indul­gence, it is self-preser­va­tion, and that is an act of poli­tical warfare.

Self­care ist in diesem Kontext nicht nur wichtig, um sich für den poli­ti­schen Kampf zu rege­ne­rieren. Sondern auch weil margi­na­li­sierte Gruppen wie beispiels­weise schwarze Frauen durch struk­tu­relle Benach­tei­li­gung mehr belastet und ausge­laugt werden. So gibt es beispiels­weise ein Phänomen wie den racial sleep gap: Unter­su­chungen in den USA haben gezeigt, dass schwarze Menschen in den USA weniger und schlechter schlafen als weiße Menschen.

Und was lernen wir daraus, außer dass Self­care wieder mal ein Beispiel für white­washing ist?

Viel­leicht, ganz viel­leicht, könnte es bei Self­care um mehr gehen als den Verkauf von Bade­zu­sätzen (ok, letzte Schaumbad-Anspie­lung an dieser Stelle). Was wäre, wenn wir Self­care betreiben würden, nicht um beson­ders fit und achtsam für das Hams­terrad des Kapi­ta­lismus zu sein, sondern um beson­ders fit und achtsam kaputt zu machen, was uns kaputt macht?

Darauf erstmal einen Schnaps.

Die Zitate stammen aus:

https://en.wikipedia.org/wiki/Self-care, Wiki­pedia Artikel Self­care, zuletzt einge­sehen am 8.2.2022.Der

Isabel Sophie Möller: "Self Care lernen: Die besten Tipps für deinen Alltag", https://www.glamour.de/beauty/artikel/self-care-lernen-die-besten-tipps, zuletzt einge­sehen am 8.2.20222.

André Spicer: "'Self-care': how a radical femi­nist idea was stripped of poli­tics for the mass market", https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/aug/21/self-care-radical-feminist-idea-mass-market, zuletzt einge­sehen am 8.2.2022.

The Combahee River Coll­ec­tive: "The Combahee River Coll­ec­tive State­ment", https://www.blackpast.org/african-american-history/combahee-river-collective-statement-1977/, zuletzt einge­sehen am 8.2.2022.

Audre Lorde: A Burst of Light and other Essays. Ixia Press, 2017.

Wer mehr über den racial sleep gap erfahren möchte, kann das u.a. im Artikel The Inequa­lity of Sleep der Zeit­schrift The Atlantic nach­lesen: https://www.theatlantic.com/health/archive/2015/10/the-sleep-gap-and-racial-inequality/412405/, zuletzt einge­sehen am 8.2.2022.

Von Fabi­enne Imlinger