Die Lacan-Analyse
Jetzt wird es ernst: Ein Theaterstück soll im zweiten Teil der Serie zu Jacques Lacans Bildtheorie analysiert werden. Was verrät mir das Theaterstück „Mein Ideal ist so schön, ich kann es mir mein Leben lang ansehen“ über mich selbst? Ab auf die Couch! Noch keine Ahnung von Lacans Bildtheorie, dann schnell noch Teil 1 lesen!
Als Einleitung:
Als Disclaimer hier ein kurzer Hinweis: Wer noch nie etwas von der Bildtheorie von Jacques Lacan gehört hat, sollte sich dringend Teil 1 dieser zweiteiligen Textserie anschauen. Ich fasse im folgenden zwar noch einmal das Wesentliche zusammen, aber ohne ausführlichere Einführung in seine Theorie, wird man dem Psychoanalytiker nicht gerecht. Gerne also einfach rechts auf den Link klicken und kurz Teil 1 durchlesen!
Nachdem das geklärt ist, nun also zum Wesentlichen: In diesem Teil soll ein Kunstwerk auf die Couch, oder vielmehr die Künstler*innen und die Rezipient*innen dieses Kunstwerkes. Lacan geht es nämlich im Grunde darum, jene Prozesse zu beschreiben, die sich bei der Schaffung von Kunst und bei ihrer Rezeption bei den menschlichen Akteur*innen abspielen. Aus meiner Sicht schärft Lacan den Blick dafür, wie (unter anderem) Kunst in den Prozess des Selbstbewusstseins, des Imaginierens des eigenen Selbst eingebunden ist. Lacan sieht auch in Bezug auf Kunst Prozesse am Werk, die es dem Subjekt erlauben, ein ‚Subjekt der Vorstellung‘ von sich selbst zu generieren, aus dem wiederum die Art und Weise erwächst, wie ich mich Anderen präsentiere.
Diese Prozesse, die in Teil 1 dieser Textserie ausführlicher beschrieben werden, teilen sich in zwei Perspektiven auf: Einmal schaut das Subjekt selbst intentional auf Kunst und macht sich selbst ein (teilweise) vorgefertigtes Bild von ihr. Rechts ist eine Grafik zu sehen, die diese sogenannte Funktion des Auges beschreibt. Lacan bezeichnet die Position des Auges auch als Geometralpunkt. Auf der anderen Seite fühlt sich das Subjekt erblickt durch das Kunstwerk hindurch (angeschaut vielleicht durch Künstler*innen oder Auftraggeber*innen). Es hat das Gefühl, angeschaut, vielleicht sogar entlarvt zu werden und präsentiert eine Art (Schutz-)Schirm als Reaktion. Dieser Schirm ist die Art und Weise, wie das Subjekt mit dem ‚Blick‘ durch das Kunstwerk umgeht, wie es sich selbst, angesichts der Wirkung des Kunstwerkes repräsentiert. Das untere Dreieck zeigt diese Seite des Schemas. Der Ursprungsort des Blickes ist dabei der Lichtpunkt und das sogenannte Tableau das angeschaute Subjekt.

Allerdings sind in unserer Betrachtung zwei Subjekte von Bedeutung: Auch Künstler*innen oder Auftraggeber*innen unterliegen demselben Prozess. Vom Blick potentieller Rezipient*innen getroffen, erschaffen auch sie einen Schirm, in unserem Fall ein Kunstwerk, in dem sie etwas von sich zeigen. Gleichzeitig haben auch Künstler*innen ein Bild von den Rezipient*innen und dieses Bild wirkt sich auch auf den Schirm aus. Rechts sieht man, wie Lacan (alle Grafiken stammen von ihm selbst) beide Perspektiven übereinander legt. Auf der rechten Seite ist das Subjekt der Vorstellung zu finden, auf der linken Seite der Blick. In der Mitte überschneiden sich jetzt Schirm und Bild: Das, was ich von mir zeige (als Reaktion auf einen Blick), und das Bild, was ich mir von etwas mache, beeinflussen sich gegenseitig. Ich zeige jemandem etwas bestimmtes von mir, weil ich ein bestimmtes Bild von dieser Person habe, gleichzeitig spielt das Bild, das ich mir von dieser Person mache eine Rolle dabei, was ich dieser Person von mir zeigen möchte. Um diese gegenseitige Abhängigkeit sichtbar zu machen, legt Lacan beide Dreiecke übereinander.

Ganz im Sinne dieser Aufteilung möchte ich im Folgenden das Theaterstück „Mein Ideal ist so schön, ich kann es mir mein Leben lang ansehen“ genauer unter die Lupe nehmen. Das Stück ist eine Hildesheimer Produktion vom Regisseur Bruno Brandes und seit dem 20.02.2021 auf der Theater-Streaming-Plattform spectyou.com zu sehen. Das Stück entstand unter besonderen Bedingungen während des Lockdowns. Ich empfehle sehr, das Theaterstück unter rechts stehendem Link vorher anzuschauen. Es ist nur eine kostenlose Anmeldung erforderlich und dann kann man das Stück entweder kostenfrei anschauen oder freiwillig einen selbstgewählten Betrag dafür bezahlen.
Ich versuche also jetzt einige der von Lacan beschriebenen Prozesse an diesem Theaterstück sichtbar zu machen und dabei gleichzeitig so etwas wie eine Analyse des Stückes vorzunehmen. Aufteilen möchte ich diese Analyse in 2 erläuternde und 2 resümierende Teile: „Der Schirm des Künstlers“, „Mein Auge, mein Bild“, „Als was sehe ich mich mich sehen?“ und „Das Bild des Künstlers?“
Der Schirm des Künstlers: Der Schirm als Darstellung der Funktion des Auges
Worum geht es in dem Stück? Was wird mir gezeigt, also was zeigt der Künstler (als Autor), was zeigen die Künstler*innen (als Schauspieler*innen) mir hier von ihnen? Auch ein Theaterstück entsteht nach Lacan als Reaktion auf einen angenommenen Blick. Den Lacan’schen Schirm würde ich für diese Analyse also als das begreifen, was sich mir zeigt, wenn ich das Stück anschaue. Beginnen wir mit dem offensichtlichsten: Bei der Ausstattung, dem Bühnenbild und der Kleidung der Schauspieler*innen treffen für mich Gegensätze aufeinander. Die Ausstattung ist minimalistisch, besteht aus einer Palme, eine Goldfolie als Wüste auf dem Boden, einigen Stühlen und einem Vorhang, der ein Zugabteil darstellen soll. In Kontrast dazu stehen für mich die sehr alltäglich wirkenden T‑Shirts, die die Schauspieler*innen tragen. Das sind Shirts, die man im Home-Office tragen würde – wenn man nicht gerade eine Video-Konferenz hat. Alltagskleidung (und eine gewisse Intimität) treffen also auf eher außergewöhnliche, durch die Ausstattung hervorgerufene Bilder: Wüste, Zug, Palme…

Richtig greifen – oder befriedend begreifen – lässt sich das Stück immer nur vorübergehend. Ein gutes Beispiel ist die erste Szene: Die Schauspielerin Anna Sacher beginnt mit einem Telefongespräch, das mir nichts über dessen Inhalt verrät. Man hört nur ihr „Mhm.“, „Ja.“ oder „Nein.“ Die Szene stellt etwas dar, was wir alle kennen und ist gleichzeitig extrem nichtssagend. Nicht nur die Mitschauspieler*innen auf der Bühne werden mit Handgesten von ihr vertröstet, auch das, was mir als Zuschauer gezeigt wird, ist nichts anderes als eine Vertröstung. Sinn, Inhalt und Kontext wird nicht preisgegeben und auch im weiteren Verlauf des Stückes erfahren wir nichts über den Inhalt des Gesprächs. Für mich ist das ein erstes interessantes Beispiel für die Tatsache, dass das Stück die Art und Weise aufgreift, auf die ich es anschaue. Der vermutete Blick wird immer wieder getäuscht und verunsichert mit vermeintlichen Handlungen, Aussagen und Ansätzen, die sich als unverständlich, unzusammenhängend oder schlichtweg sinnlos präsentieren.

Mein Blick, mit dem ich etwas zu erfahren trachte, wird regelmäßig ironisiert. Auf die Frage, warum es hier so dunkel sei, antwortet eine Schauspielerin: „Das ist wegen der unsicheren Zeiten, in denen wir leben und meiner Jugend.“ Im Sinne Lacans könnte man sagen: Der Schirm spielt hier mit meinem Bild (Funktion des Auges), das ich mir permanent versuche von dem Stück zu machen. Ich habe fast das Gefühl, dass mit dem Stück versucht wird, mich aus dem Modus permanenter Zuschreibungen herauszulösen, weil wirklich ALLE (und das ist wirklich ein interessantes Phänomen) von mir vorgenommenen Zuschreibungen im Laufe des Stückes aufgegriffen und ironisiert, überhöht oder karikiert werden. Der Schirm versucht die Funktion des Auges darzustellen. In folgendem Dialog kommt das gut zum Ausdruck:
S1: „Also ist jetzt der Raum der Wüste, der Raum der Bühne als als… Ne.“
S2: „Ja.“
S1: „Also indem wir hier aufführen und diese Texte sprechen?“
S2: „Beides.“
S1: „Ah.“

Mir selbst soll gezeigt werden, was ich gerade tue, während ich das Stück anschaue und wie vergebens, fast lächerlich diese Tätigkeit (diese Bildkreation) ist. Dazu trägt ebenfalls bei, dass der Text sehr assoziativ voranschreitet. Nebensächlichkeiten, die im Laufe der Gespräche zwischen den Schauspieler*innen fallen, werden aufgegriffen und plötzlich zum Hauptthema. Für unsere Zeit enorm ernste und wichtige Themen werden gleichsam nebensächlich eingestreut und dann wieder fallengelassen, teilweise in Form von Plattitüden. Hochtheoretisches wechselt sich ab mit Trivialem und Poetischem. Der Schirm, der hier entstehen soll, ist aus meiner Sicht einer der Undurchdringbarkeit. Einordnungsversuche werden gezielt dekonstruiert. Selbst diese Dekonstruktionsthese wird im Laufe des Stückes von den Schauspieler*innen selbst aufgegriffen und wieder ins Absurde hineingeführt. Folgendes Zitat von Lacan selbst bietet sich aus meiner Sicht sehr an:
"Umgekehrt ist das, was ich erblicke, nie das, was ich sehen will. Das Verhältnis von Maler und Kunstliebhaber, von dem ich eben sprach, ist, was immer man sagen mag, Spiel, Augentäuschungsspiel. Da ist keine Beziehung zum Figurativen, wie man sich unpassenderweise ausdrückt, wenn man irgendwelche Beziehung auf eine zugrundeliegende Realität meint.“
(Jacques Lacan, Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, Hemsbach 1990, S. 109)
Das Stück bietet mir ständig neue Themen und Einordnungsmöglichkeiten, also einen Schirm an, nur um eben dieses Gezeigte wieder ad absurdum zu führen. Auch der Prozess der Theoretisierens (also genau das, was dieser Text gerade versucht) wird ironisiert: „Die Heterotopie ist die Maracuja und die Utopie die Passionsfrucht. Also Heterotopie gleich Utopie plus Orangensaft.“ Das klingt fast schon nach einer Karikatur von Lacan… Beeindruckend dabei ist, dass das Stück mich nicht mit völlig unzusammenhängenden Sätzen konfrontiert, sondern sich auch die größte Absurdität meistens aus dem vorhergegangenem ergibt. Auch aus diesem Grund schafft es das Stück selbst mit der Absurditätsthese zu spielen. Mehrmals habe ich mich gefragt: Ist das jetzt vielleicht doch ein ernst gemeinter Gedanke? Aber das Gezeigte entzieht sich der Interpretation, oder besser gesagt, das Gezeigte performed den Prozess des Interpretierens oder – mit Lacan gesprochen – die Funktion des Auges selbst. Ich sehe mir meine Versuche, mir ein Bild von der Sache zu machen, selbst auf der Bühne an. Ich sehe ein stückweit mich auf der Bühne. Der Schirm, den mir die Künstler*innen zeigen wollen, bin aus meiner Sicht ich selbst, oder genauer gesagt, meine Haltung, meine Gedankenprozesse in Bezug auf das Stück. Was macht das mit mir und ebendiesem Prozess?

Mein Auge, mein Bild
Es ist weiter oben schon angeklungen: Ich versuche permanent, das Stück für mich einzusortieren. Dieser Ansatz ist auch nochmal verstärkt dadurch, dass ich das Stück (zumindest beim zweiten Sehen) anschaue, um es zu analysieren. Die Funktion des Auges, mir ein Bild von etwas zu machen und somit einen Beitrag zu meiner Selbstkonstruktion zu machen, findet sich hier mit der Herausforderung konfrontiert, dass eben dieser Prozess im Stück aufgegriffen wird, ja sogar Teil der Performance ist. Ich gelange also relativ schnell zu der Einsicht: Das Stück erzählt etwas über mich, über meine Art Kunst anzuschauen, mich mit ihr auseinanderzusetzen und sie mit Zuschreibungen zu überhäufen, die ihr niemals gerecht werden können. Besonders hart in Frage gestellt wird dieser Prozess, wenn von mir konstruierte Bilder im Stück selbst antizipiert und aufgegriffen werden:
„Wir sind in einem Raum, den es nicht gibt. Du musst dir das ein bisschen wie ein Musikvideo von Selena Gomez oder einen Kinofilm mit schnellen Schnitten vorstellen, wo sich die Bilder aufeinander beziehen, aber man weiß nicht wieso, also der Zusammenhang zwischen ihnen ist nicht sichtbar, aber man spürt seine Anwesenheit.“
Zu dem Zeitpunkt als dieses Zitat fällt, hatte ich mir schon Notizen für den vorliegenden Text gemacht, in dem eben diese Zuschreibung steckte. Ich fühlte mich ertappt. Das Stück erklärt sich selbst und macht diese Erklärungen so zu einem Teil der Inszenierung, was ihnen ihre Gültigkeit und Notwendigkeit ein Stück weit abspricht. Die Position als Kritiker*in, als Rezipient*in wird in Frage gestellt, wenn deren Gedankenprozess Teil der Inszenierung werden. Frei nach dem Motto: „Danke, das können wir selbst.“ Ich bin mit der partiellen Sinnlosigkeit meiner vermeintlich neutralen Analyse konfrontiert und komme doch nicht aus dem Zuschreibungsmodus heraus. Das führt unweigerlich in eine Auseinandersetzung mit mir selbst. Lacan beschreibt eben diesen Prozess mit einem Verweis auf eine antike griechische Erzählung. Einem Malerwettstreit gewinnt Parrhasios darin mit einem besonderen Trick:
„Das zeigt sich, als Zeuxis’ Gefährte Parrhasios den Sieg davonträgt, weil er auf eine Mauer einen Schleier malt, so täuschend, daß Zeuxis sich mit der Bitte an ihn wendet, er möge ihm doch zeigen, was dahinter gemalt sei. Es geht also eigentlich um die Täuschung des Auges. Über das Auge triumphiert der Blick.“
Jacques Lacan, Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Hemsbach 1980, S. 109.
„Dagegen zeigt das Beispiel von Parrhasios, wenn man einen Menschen täuschen will, braucht man ihm nur das Bild eines Vorhangs vor Augen zu halten, das heißt das Bild von etwas, jenseits dessen er zu sehen verlangt.“
Jacques Lacan, Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Hemsbach 1980, S. 119.
Der Vorhang selbst ist eng mit dem Bestreben verknüpft, sehen zu wollen, was dahinter ist. „Mein Ideal ist so schön, ich kann es mir mein Leben lang ansehen“ zeigt mir permanent diesen Vorhang und führt mir vor Augen, dass ich etwas sehen, will, was nicht existiert. Dass ich einen Sinn suche, den ich niemals werde finden können. Der Vorhang (als Schirm) stellt mein Begehren (so würde es Lacan selbst formulieren), meine Herangehensweise selbst dar. Ich werde immer wieder mit den eigenen Vermutungen / Bildern zu diesem Stück konfrontiert, damit stellen sich diese als falsch oder zumindest nicht vollständig heraus. Mir wird ständig meine unvollständige Erfassung des Stückes vor Augen geführt „jenseits dessen“ ich „zu sehen“ verlange. Meine Bilder entpuppen sich als realitätsferne, imaginierte Mutmaßungen darüber, was sich hinter dem Schirm, dem Vorhang, dem Gezeigten im Stück verbirgt. Aber jede dieser Mutmaßungen wird im nächsten Schritt vom Stück selbst wieder verworfen.

Als was sehe ich mich mich sehen?
Wenn ich dieses Stück schaue, werden nicht nur meine Theorien, meine Bilder als falsch oder unvollständig gebrandmarkt, sondern meine ganze Herangehensweise an Kunst, an dieses Stück. Ich stelle diese Prozesse bei mir in Frage, weil ich das Gefühl habe, sie auf der Bühne in Frage gestellt zu sehen. Ich performe mich letztendlich selbst beim Ansehen des Stückes (als Studierender, Akademiker etc.) und muss immer wieder in Frage stellen, ob ich gerade das Richtige tue. Wie trivial ist eigentlich das Theoretische? Wie sehr kann ich mit meinen Herangehensweisen überhaupt relevante Antworten auf meine Fragen finden? Wie rational ist eigentlich diese Analyse, wenn mir klar wird, dass sie bei diesem Stück nur eingeschränkt Sinn ergibt und ich sie dennoch fortführe? Das Stück ermöglicht es mir so, mich als akademisch, theoretisch interessierten Rezipienten zu sehen, der auf diese Sichtweise auf Kunst beschränkt zu sein scheint. Erst dadurch, dass diese Herangehensweise ironisiert und karikiert wird, wird sie auch sichtbar. Ich fühle mich ertappt, wenn Thesen, die ich mir über das Stück gemacht habe, plötzlich im Stück selbst auftauchen. Oder vielmehr: Ich ertappe mich selbst! Ich ertappe mich dabei, wie ich dieses Stück ansehe, wie ich mit dem Stück umgehe und als was ich es versuche zu gebrauchen. Der Titel des Stückes bekommt nun auch eine interessante neue Bedeutung: Ich sehe mein Ideal als Akademiker, Kunstkenner oder zumindest ‑versteher, als Kulturvermittler selbst am Werke.
Das Bild des Künstlers
Ich sehe das Stück an und sehe mein Ideal-Ich am Werke und habe das Gefühl, das Stück ist für Leute wie mich geschrieben: Der Schirm des Stückes ist abgestimmt auf ein Bild, was wiederum der Künstler sich von seinen Rezipient*innen gemacht hat. Die analytische Herangehensweise wurde meiner Wahrnehmung nach sehr genau antizipiert und in das Stück eingeflochten. Der Autor (als Subjekt) hat hier sein eigenes Bild von den Rezipient*innen ins Werk gesetzt. Nur aus Annahmen über die Rezipient*innen heraus ist es vorstellbar, dass ein Schirm versucht, das zu zeigen, was bei den Rezipient*innen selbst abläuft. Lacans Bildtheorie ist im besten Sinne am Werk.
Doch noch ein (ganz) kurzer Schluss
Ich hoffe, dass ich selbst bei der Erstellung des Textes gut genug antizipiert habe, welcher Herangehensweisen sich diejenigen bedienen, die jetzt meinen Text lesen. Lacan Theorie ist nicht einfach, ich habe trotzdem versucht zu zeigen, wie gut Teile seiner Bildtheorie geeignet sind, um etwas über Kunst sagen zu können. Bei der Bildtheorie Lacans handelt es sich um keine Analyseraster, um Kunst zu beschreiben, sondern um eine Hilfe, Prozesse, die bei der Kunstrezeption ablaufen zu erfassen und auf bestimmte Begriffe zu bringen. Um mit Lacan selbst zu sprechen:
„Nun gut! Referenzen wie diese anzuführen, soll nicht bedeuten, daß wir in jenes unstete historische Spiel der Kritik eintreten, das bestimmen möchte, was die Funktion der Malerei ist in einem gegebenen Momente, bei einem bestimmten Autor oder in einer bestimmten Zeit. Ich für mein Teil möchte mich ins radikale Prinzip der Funktion dieser Schönen Kunst stellen. (…) Für uns geht es um die Schöpfung, wie Freud sie auffaßt, das heißt die Schöpfung als Sublimation, und es geht um den Wert, den diese in einem sozialen Feld einnimmt.“
Jacques Lacan, Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch XI, Helmsbach 1980, S. 116–118.
Sublimation ist ein Begriff von Freud, der das Umwandeln von triebgesteuerter Energie in andere Interessen, etwa künstlerische oder gesellschaftliche Interessen meint. In diesem Sinne ist Lacan ganz der Freud-Schüler: Kunst und die Auseinandersetzung mit ihr ist triebgesteuert. Ich will etwas sehen mit meinem Auge oder ich will mich schützen vor einem Blick. Aber daraus entstehen Prozesse, die Individuen, aber auch Gesellschaften und soziale Zusammenhänge an sich konstituieren. Kunst versetzt uns in die Lage über uns und über unsere Beziehung zu anderen neu nachzudenken. In diesem Sinne ist ein Blick auf Kunst mit einer Lacanschen Brille auch so lohnenswert: Vom Triebhaften ins Soziale, das ist ein Verlauf, der in der Kunst immer wieder durchgespielt, dargestellt oder in Frage gestellt wird. Das Zusammendenken der Psychoanalyse und Kunst lohnt sich also: „Wir können das alles hier nur machen, solange das Publikum das auch mitvollzieht.“ sagt eine Schauspielerin im Laufe des Stücks und konterkariert dadurch das ausgelöste Unverständnis bei den Rezipient*innen. Die Frage lautet: Kann ich irgendwann noch mitvollziehen, was ich selbst hier tue? Eine Frage, die wir uns alle vielleicht häufiger stellen sollten…

Ein Beitrag von Martin Berghane
Bildnachweise:
Schaubilder zur Lacans Theorie:
Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar. Buch XI, Wien 2017, S. 97 und S. 112.
Bilder aus dem Theaterstück:
Screenshots von Martin Berghane aus "Mein Ideal ist so schön, ich kann es mein Leben lang ansehen" von Bruno Brandes, abrufbar unter: https://www.spectyou.com/de/video/mein-ideal [abgerufen am 18.07.2021], mit freundlicher Genehmigung des Regisseurs.