Auf dem Tisch stehen Bröt­chen, Butter, Käse und selbst­ge­machtes Löwen­zahn-Gelée. Es ist Freitag, zehn Uhr und in Lindas Küche findet die wöchent­liche Redak­ti­ons­sit­zung statt. Vor mir liegt das Aufnah­me­gerät.
Alles fing an mit Lindas Aufruf, doch eine Gruppe zu bilden, die sich dieses Semester intensiv mit dem Thema Inklu­sion am Kultur­campus der Univer­sität Hildes­heim beschäf­tigt. Ich schloss mich ihr an, ohne lange nach­zu­denken – das Thema erschien mir inter­es­sant und wichtig. Zu dritt sammelten wir vier Monate lang Stimmen zur Inklu­sion im Allge­meinen, die Bedeu­tung der Barrie­re­frei­heit und ihrer Stel­lung an der Univer­sität. Und heute unsere State­ments. Was wir die letzten Wochen von anderen verlangt hatten, sollte ich jetzt also selbst wider­geben. Ist doch nicht schwer, dachte ich mir. Aber dann liegt vor mir dieses Aufnah­me­gerät und plötz­lich weiß ich nicht mehr, wie ich was sagen will – oder soll. Also gehe ich zuerst einmal auf die Toilette: Zeit schinden. Ich ärgere mich. Über mich, dass ich mir nicht mehr Gedanken dazu gemacht habe, dass ich mir nicht am Abend vorher noch wort­wört­lich aufge­schrieben habe, was ich sagen möchte. Über Linda und Lukas in der Küche, die anschei­nend gar keine Probleme haben, ihre Defi­ni­tion von Inklu­sion in knackigen Sätzen in dieses Gerät zu spre­chen. Über meine Lehrer*innen, die diese Thematik in der Schule nie disku­tiert haben. In diesem Moment in Lindas Küche habe ich Angst etwas Falsches zu sagen.
Diese Unsi­cher­heit begeg­nete uns auch bei unserer Recherche. Fragten wir die Leute nach ihrer Defi­ni­tion, ihrer Meinung, wurde zunächst ausge­wi­chen. So manch Eine*r wollte lieber gar nichts dazu sagen. Und dann begann der Satz oft mit einem lang­ge­zo­genen „Für mich…“ Pause. Es scheint uns gene­rell sehr schwer zu fallen, diesen schwam­migen Begriff zu greifen, zu begreifen.
Fragen wir den Duden, so bekommen wir die einfache Antwort: „Inklu­sion ist das Mitein­be­zogen sein; die gleich­be­rech­tigte Teil­habe an etwas“. Und doch steckt in diesem Begriff so viel mehr.
Während unserer Recherche mussten wir schnell fest­stellen, dass dieses Thema ein Fass nach dem anderen aufmacht, denen wir in einem Artikel nicht gerecht werden können. Deshalb haben wir uns auf einen Teil­be­reich fest­ge­legt: die Barrie­re­frei­heit. Genauer gesagt die bauliche Barrie­re­frei­heit auf dem Kultur­campus der Universität.

 

Inklu-what?

Über die bauliche Barrie­re­frei­heit an der Univer­sität Hildesheim

 

„Es geht nicht mehr darum, dass Teil­habe etwas ist, was die Gesell­schaft per Gnadenakt auf dieje­nigen zukommen lässt, die unter­schied­lichste Barrieren vorfinden, sondern dass die Gesell­schaft, Insti­tu­tionen, Schulen und Univer­si­täten so gestaltet und ausge­stattet sind, dass sie eben für Alle möglichst barrie­re­frei sind.“

Dr. Musen­berg, Lehr­be­auf­tragter der Univer­sität Hildesheim

Mitt­wochs zwischen 14 und 16 Uhr steht die Tür des Raums 113 im Gebäude I des Haupt­campus offen. Es handelt sich um das Büro der Refe­rentin für Inklu­sion des AStA. Isabelle C. M. Lohrengel studiert seit 2016 an der Univer­sität Hildes­heim Lehramt für Kunst und Deutsch, seit zwei Jahren füllt ihr Ehrenamt ihren Tages­plan. Zu ihr können alle Studie­renden kommen, denen im Unialltag Barrieren auffallen, die sich diskri­mi­niert und ausge­schlossen fühlen, die auf unüber­wind­bare Hürden stoßen und sich jemandem anver­trauen wollen. Neben dem Austausch mit anderen Gremien und die Vertre­tung von Studi­en­in­ter­essen stehen die persön­liche Bera­tung der Student*innen und die Initi­ie­rung von Veran­stal­tungen, die zu diesem Thema aufklären und das Fördern des Mitein­an­ders zwischen allen Studie­renden auf ihrer Agenda.
Wir treffen sie an einem Frei­tag­morgen zu einem gemein­samen Früh­stück. Eigent­lich habe sie noch ein Seminar erzählt sie uns, doch die Dozie­renden wissen schon, dass es bei ihr manchmal später werden kann. Isabelle ist viel unter­wegs. Wöchent­lich finden Sitzungen, Treffen, Vernet­zungs­ar­beit statt. Die zwei Stunden Sprech­zeit pro Woche reichen nicht aus, um allen Belangen und Aufgaben, die sie sich selbst gesetzt hat, gerecht zu werden. Im Laufe der Jahre sind die Anfragen nach Unter­stüt­zung immer mehr geworden. Isabelle ist eine bekannte Adresse. Sie hilft Anträge für einen Nach­teils­aus­gleich zu stellen und unter­stützt mit ihren eigenen Erfah­rungen. Per Mail ist eine anonyme Bera­tung möglich. Auf Isabelles Handy sind die Nummern vieler Studie­render gespei­chert, mit denen sie schon in Kontakt stand. Auch Monate nach einem Treffen erkun­digt sich die junge Frau noch nach den Belangen der Hilfe­su­chenden. Für Isabelle steht fest: Inklu­sion ist ihre Zukunft. Sie möchte als Lehrerin Inklu­sion in den Schulen leben, sie nach­haltig lehren und neue Lehr­kräfte ausbilden, um somit letzt­end­lich das System zu verändern.

Nächste Woche habe sie ein Treffen mit den Vertre­tern des Baude­zer­nats, erzählt sie. Vor allem mit Herrn Eber­hard Gaus, der im Dezernat 4 für die Barrie­re­frei­heit zuständig ist, steht sie im engen Kontakt.

Dem Dezernat für Bau- und Liegen­schaften steht jedes Jahr eine sechs­stel­lige Summe vom wissen­schaft­li­chen Zentrum zur Verfü­gung, mit der alle Dinge, die bei älteren Gebäuden so anfallen, behan­delt werden können. Dabei handelt es sich beispiels­weise um Dach- oder Fens­t­er­sa­nie­rungen, oder um einen Aufzug, der plötz­lich nicht mehr funk­tio­niert. Dinge, die nicht warten können. „Das Problem, das wir haben ist, dass diese zuge­wie­senen Mittel nicht ausrei­chen. Man muss sich also entscheiden: Was machen wir zuerst? Brand­schutz oder Maßnahmen für Forschung und Lehre? Sollen wir zunächst die Technik in den Hörsälen auf den neusten Stand bringen, die Situa­tion in den Toiletten verbes­sern, die Gebäude optisch aufwerten, Arbeits­räume für Studie­rende herstellen, den Brand­schutz oder die Barrie­re­frei­heit ausbauen? Diese Aspekte konkur­rieren dann wech­sel­seitig.“, zeigt Thomas Hanold, Leiter des Baude­zer­nats, auf. Wir sitzen in seinem Büro: Gebäude V‑1/08. Auf dem Schreib­tisch steht das Modell eines Bauwerks, an den Wänden hängen Pläne der alten Mensa und des geplanten Neubaus. Um diesen wird es im Verlaufe unseres Gesprächs auch noch genauer gehen: Ist er doch einer der wenigen Neubauten der Univer­sität, die sonst einen Gebäu­de­be­stand aus den frühen 70ern, späten 80ern hat. Ganz zu schweigen vom Kultur­campus, dessen Häuser teil­weise schon aus dem 14. Jahr­hun­dert stammen.

Am Anfang unserer Recherche stellte sich uns sehr schnell die Frage, wieso die Univer­sität in Dingen der Barrie­re­frei­heit noch rück­ständig wirkt – gibt es doch schon einige Anlauf­stellen für Betrof­fene: Neben Isabelle exis­tiert noch der soge­nannte „Handi­campus“, geleitet von Dr. Petra Sand­hagen, die an der Univer­sität Psycho­logie doziert. Sie richtet sich an alle Student*innen mit „Behin­de­rung oder chro­ni­scher Erkran­kung“, wie es auf der Home­page steht. Bei ihr können beispiels­weise Nach­teils­aus­gleiche gestellt werden. Seit 2013 besteht zudem die Platt­form ZINK – Zukunft Inklu­sion, die unter der Leitung von Dr. Marc Ruhlandt und Kris­tina Schmidt steht. Beide sind als wissen­schaft­liche Mitarbeiter*innen der Univer­sität im Fach­be­reich Erzie­hungs- und Sozi­al­wis­sen­schaften, mit Forschungs­schwer­punkt Inklu­sion tätig. Sie und ihr Team haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Thema Inklu­sion noch stärker in der Lehre zu veran­kern und die Benach­tei­li­gungen im Unialltag abzu­bauen. Im Winter­se­mester 2018/19 boten sie hierfür einen Runden Tisch und eine Ring­vor­le­sung zu diesem Thema an.
Viele Anlauf­stellen also. Und dennoch ist die Barrie­re­frei­heit an der Univer­sität nicht gewähr­leistet. Woran liegt das?In dem Gespräch mit Thomas Hanold wird klar: Es liegt am Geld – aber nicht ausschließ­lich.
„Der Begriff der Inklu­sion hat sich in den letzten 10 Jahren stark verän­dert, er umfasst viel mehr als die Frage, ob ich mich mit dem Roll­stuhl oder Kinder­wagen in der Stadt, in meinem Umfeld bewegen kann.“ Ein Beispiel dafür ist die „barrie­re­freie Verti­ka­ler­schlie­ßung“, so Hanold. Die Maßnahmen, die für diese jedoch nötig wären schei­tern oft an anderen wich­tigen Belangen, auf die das Baude­zernat achten muss. Dies kann zum Beispiel der Brand­schutz sein: Es gibt gesetz­liche Rege­lungen, die hierbei beachtet werden müssen. Höhere Gebäude, wie es die Türme am Haupt- und Kultur­campus sind, müssen jeweils zwei Trep­pen­häuser besitzen. An der Univer­sität Hildes­heim? Fehl­an­zeige. Diese Mängel müssen ander­weitig ausge­gli­chen werden: Die Türen in den Trep­pen­häu­sern dürfen nicht offen stehen und es muss sich um zerti­fi­zierte Feuer­schutz­türen handeln, die in eine Brand­fall­steue­rungs­ma­trix einge­bunden sind. Zerti­fi­zierte Feuer­schutz­türen sind an der Univer­sität Hildes­heim daher nicht immer barrie­re­frei möglich. Sie besitzen in den meisten Fällen keinen Schalter, durch den man sie manuell öffnen kann und haben einen relativ harten Türschließer. Es wird Kraft gebraucht, um diese aufzu­ziehen. „Theo­re­tisch ist es natür­lich möglich, den Türdruck durch einen Schließer zu über­steuern. Man muss dann nur aufpassen, dass der Türöffner im Brand­fall in die Brand­steue­rung einge­schlossen ist. Da sind die Systeme häufig nicht offen. Eine zerti­fi­zierte Brand­schutztür mit Steue­rung kann man nicht baulich verän­dern, indem man einen Türschließer anbaut. Auch wenn es tech­nisch möglich wäre. Dann erlö­schen Gewähr­leis­tungen und entspre­chende Zulas­sungen sind im Hinter­grund beliebig kompli­ziert.“ Thomas Hanold und sein Dezernat arbeiten beständig daran, die Prozesse zu verein­fa­chen und Kompro­misse zu finden. Es wird aber klar: Es ist nicht so leicht lösbar, wie man es sich wünscht.

Und dann ist da die Domäne. Die alten Gebäude machen den Flair des Kultur­campus aus, doch genau diese Schön­heit wird ihr in Sachen Barrie­re­frei­heit zum Verhängnis. Teil­weise führen steile Stufen in die Gebäude. Im Haus des Lite­ra­tur­in­sti­tuts gibt es keinen Aufzug. Beim Burg­theater führt eine Art Rampe auf die Tür zu, doch endet sie kurz davor. Die Lücke zwischen Tür und Rampe macht es Menschen im Roll­stuhl unmög­lich, das Haus an dieser Stelle zu betreten. Natür­lich gibt es auch schon einige Rampen – zum Beispiel bei Haus 2a – doch diese dürfen nicht zu auffällig sein. Eine gelb-schwarze Kenn­zeich­nung passt nicht in das Bild, das die Domäne nach außen bieten soll. Hier geht es um Ästhetik. Es geht darum, die Gebäude frei zu halten, von Elementen, die den histo­ri­schen Kontext stören könnten.
Dennoch: Beschwerden von Studie­renden der Domäne kommen selten an im Baude­zernat. Auf der Liste, die Isabelle Lohrengel erstellt hat und die die Barrieren an der Uni Hildes­heim sammelt, stehen kaum Baustellen des Kultur­campus. Fehlt hier also die Studie­ren­den­schaft, die den Abbau der Barrieren fordert und braucht? Ohne Frage handelt es sich hierbei um eine Minder­heit – und das sieht auch das Baude­zernat: „Die Gelder, die man dort inves­tiert fehlen dann an anderen Stellen, die von den Studie­renden stärker einge­for­dert werden. Da ist immer abzu­wägen: Was sind die Bedürf­nisse der Mehr­heit und wie kann man trotzdem in ange­mes­sener Weise die Bedürf­nisse von Minder­heiten berück­sich­tigen?“ Es werden Kompro­misse einge­gangen. Statt einer fest instal­lierten gibt es mobile Rampen oder es kommt zu orga­ni­sa­to­ri­schen Lösungen, wie Raum­ver­schie­bungen, wenn die vorge­se­henen Orte nicht von allen Studie­renden erreicht werden können.

Auf einem Rund­gang über den Kultur­campus mit Isabelle C. M. Lohrengel und Birgit Roeger erkunden wir die bauliche Barrie­re­frei­heit der Domäne.

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Inklu­sion ist zunächst abzu­grenzen von Inte­gra­tion, weil Inte­gra­tion immer bedeutet, dass der Wunsch besteht, etwas Fremdes in eine bestehende Gesell­schaft zu inte­grieren, wohin­gegen Inklu­sion meint, dass alle Menschen natür­li­cher­weise und auto­ma­tisch Teil der Gesell­schaft sind.

Nicole Woll­mann, Psycho­login im AZH (Autismus Zentrum Hannover)

In den letzten Monaten hat sich für mich etwas verän­dert. Ich gehe über den Campus und sehe an jeder Ecke Barrieren. Barrieren, die mir zuvor nicht aufge­fallen sind. Aufzüge fehlen, die Akustik in den Lehr­sälen ist gedämpft, der Unter­grund auf den Plätzen ist uneben. Ich entdecke aber auch, dass es nicht nur im Hohen Haus eine Behin­der­ten­toi­lette gibt, sondern auch im Burg­theater. Außerdem ist das Hinweis­schild für einen Behin­der­ten­park­platz vor der Domä­nen­ein­fahrt, das einen Park­platz auf unebenem Grund, mitten auf der Wiese ausschil­derte, verschwunden. Mein Blick auf die Univer­sität hat sich verän­dert. Und wenn ich jetzt gefragt werde, was Inklu­sion für mich bedeutet, habe ich zwar immer noch keine Ahnung, was ich sagen würde, aber ich habe keine Angst mehr, Antworten zu suchen.

Stand: Winter­se­mester 2018/19

 

Haupt­bei­trag

Video

Inklu-What — Erfahrungsberichte 

Schrift­liche Erfahrungsberichte 

Konzept: Lukas Fried­land, Fran­ziska Fron­höfer, Linda Ludwig

Text: Fran­ziska Fronhöfer

Video: Lukas Friedland

Audio: Linda Ludwig

Fotos: Isabelle C. M. Lohrengel, Leonora Marissal