Hildesheimatgeschmack
Auf dem Weg zur Uni begegnen mir seit Studiumsbeginn Holundersträucher. Und wenn sie im Mai und Anfang Juni in voller Blüte stehen, denke ich an Zuhause. Und dieses Rezept.
Im Keller in der Wohnung meiner Eltern gibt es eine Regalwand. Diese Regalwand voll mit Gläsern in unterschiedlichen Größen. Mit weißen Klebeetiketten. Johannisbeere 2015, Quittengelee 2012. Marmelade, Gelees und süß-sauer eingemachte Kürbisstücke von meinem Vater stehen in diesem Regal und warten auf ihren Moment, geöffnet zu werden. Als ich klein war, war der Keller vor allem zwischen den frühen Sommermonaten und dem Herbst einen Abstecher wert. Denn ab Mai hatte meine Mama Hollunderblütensirup in kleinen Einmachgläschen im Regal stehen. Wir hatten diese Sprudelmaschine, mit der das Wasser immer wesentlich sprudeliger wurde, als in gekauften Flaschen. Und mit einem Schuss selbstgekochten Hollunderblütensirup wurde das Wasser zur besten Limo, die es für mich gibt.
Die Gläßchen mit dem Sirup waren meist die einzigen, die nicht über den Jahreswechsel hinweg stehen blieben. Im Garten meiner Eltern reihen sich Johannisbeerbüsche in mehreren Farben neben Quitte und Kirsche. Und jedes Jahr warten kiloweise Früchte auf ihre Verarbeitung zu Mus Gelee und Marmelade. Obwohl Mus und Gelee und Marmelade noch im Kellerregal vom Vorjahr stehen, kommt Nachschub. Nur beim Hollunderblütensirup teilte meine Mutter manchmal viel zu früh im Jahr mit: „Das ist das letzte Glas“ und öffnete mit einem Klacken den Schraubdeckel, um den Inhalt in ein Porzellankännchen umzufüllen. Damit es auf dem Tisch hübscher aussieht. Holunderblütensirup aus dem Regal im Keller schmeckte für mich nach Sommertage auf der Terasse, am großen blauen Holztisch, auf dem das Abendbrot immer so hübsch angerichtet aussieht.
Irgendwann hab ich festgestellt, dass Holunderblütensirup auch in Supermarktregalen steht. Und das daraus, gemischt mit Sekt Hugo wird. In meiner Abizeit wurden dann in meinem Freund*innenkreis überallhin vorgemischter Hugo gebracht. Zwar hatte das wenig mit dem zu tun, was ich von Zuhause kannte, lag aber sowohl preislich als auch vom Alkoholgehalt gerade in einem guten Rahmen für ein gemeinsames Fertigmachen vor der Party. Mit 17 Jahren war das zumindest so. Nach dem Abi bin ich von Zuhause ausgezogen. Irgendwie ist dabei für eine Zeit die Erinnerung an selbstgemachte Limo und wirklich lecker schmeckender Hugo in Vergessenheit geraten.
In meinem zweiten Semester in Hildesheim hat mir jemand eine Flasche hingehalten, als ich für ein Theaterprojekt ausgeholfen habe. Strahlender Sonnenschein, Kufabrücke, 25 Grad im Schatten. „Selbstgemacht, Hollersirup, probier mal!“ Obwohl ich mit Holunderblüte in Sprudel rechnete und einen großen Schluck purem Sirup im Mund hatte, war das ein Moment des Innehaltens und Nachspürens. Da war das vertraute, wohlige Gefühl von Zuhause an dem neuen Ort. Am nächsten Tag machte ich einen Spaziergang und sammelte zwei Jutebeutel voll mit duftenden weißen Blütendolden. Ich rief meine Mama an, ließ mir das Original-Rezept geben und lieh mir einen Topf von meiner Nachbarin. Einen riesengroßen Topf. Ich kochte Sirup aus sieben Liter Wasser und sieben Kilo Zucker. Ich sammelte Einmachgläser und Schraubverschlussflaschen von Freund*innen und ihre WGs freuten sich über den Altglasabtransport. Es muss nicht dazu gesagt werden, dass die Küche danach bis zum nächsten Umzug in irgend welchen Ecken klebte. Aber nach drei Tagen Warten, Aufkochen und Umschütten hatte ich unter der Spüle mein eigenes kleines Kellerregal voll mit bernsteinfarbend befüllten Flaschen und Gläsern.
Nach meiner anfänglichen euphorischen Sirup-Party mit viel zu vielen Zutaten habe ich aus dem Sirup auch Likör gerührt und vielen Freund*innen Geschenke über den Sommer machen können. Holunderblütensirup schmeckt für mich jetzt auch nach Hildesheim-Erinnerungen: Nach Grillabenden in der Steingrube oder im Schrebergarten. Nach nachts auf der Hofbank vor dem Haus sitzen und nach Pancakes in der Dachgeschosswohnung. Nach Sommersemester auf der Domäne und einem Sprung in die Innerste. Also eher ein vorsichtiges Hineinwaten als ein Sprung. Meiner Mama hab ich übrigens auch Holunderblütensirup aus Hildesheimer Produktion mitgebracht, als sie ein Jahr mal keinen gekocht hat. „Es sind ja fast alle Kinder aus dem Haus…“
Selber machen:
Pflücke 10–20 Dolden Hollunderblüten. Am besten geht das, wenn sie gerade voll in ihrer Blütenpracht stehen. Trag sie vorsichtig nach Hause. Du willst die Dolden nicht waschen, da sonst Blütenstaub und ‑blätter weggespült werden. Dabei steckt hier das süßliche Aroma drin. Und darum gehts ja.
Jetzt nimmst du ein Kilogramm Zucker auf einen Liter Wasser. Dazu kommen 25g Zitronensäure. Nimm nicht die flüssige, sondern die in Kristall- oder Pulverform. Die bekommst du in der Apotheke. Jetzt erhitzt du die Mischung in einem großen Topf. Wenn alle Zuckerkristalle gelöst sind, lass es ein wenig abkühlen.
Schneide eine BioZitrone und eine BioOrange in Scheiben. Es ist wirklich wichtig, dass die Früchte unbehandelt sind, weil die Scheiben mit Schale jetzt in ein großes Gefäß kommen. Dazu tust du die Holunderblüten und schüttest vorsichtig den Sirup drüber. Jetzt stellst du den Sirup abgedeckt mit einem Tuch für mindestens 48 Stunden an einen dunklen, kühlen Ort. Alles was du jetzt gerade tun musst ist warten, dass die Blüten das Zuckerwasser mit ihrem Aroma durchziehen.
Nach mindestens 48 Stunden kannst du den Sirup durch ein feines Sieb in einen großen Topf abgießen. Achte drauf, dass keine Blütenblätter, Gewittertierchen oder andere Schwebeteile im Topf schwimmen. Jetzt kochst du den Sirup noch einmal kurz auf. Im heißen Zustand verteilst du die Flüssigkeit auf Weckgläser und Flaschen. Die hast du vorher schon vorbereitet und sie sind ganz sauber und abgekocht. Achte drauf, dass die Gläser bis kurz unter den Rand gefüllt sind, dreh die Deckel drauf und stell die Gläser auf den Kopf. So entsteht ein Vakuum und der Inhalt ist lange haltbar.
Wenn du den Sirup eins zu eins mit Doppelkorn mischst, erhälst du wunderbar fruchtigen Likör. Der hält sich auch angebrochen sehr lang im Schrank. Der pure Sirup hält sich angebrochen besser im Kühlschrank. Aber lang hält er da wahrscheinlich eh nicht.
Text und Fotos von Leo Lunkenheimer