Hildes­heimer Stimmen

Ein Beitrag über den Roman "Erste Hilfe" von Mariana Leky. 

In dem ersten Lock­down habe ich wieder mehr ange­fangen zu lesen. Nun konnte ich endlich in all den Büchern schmö­kern, die auf meinem Nacht­tisch schon zu lange nach Aufmerk­sam­keit gebet­telt hatten. Ein Roman aus dem letzten Jahr ist im Nach­hinein zu meinem Lieb­lings­buch geworden. Beim Lesen wusste ich noch nicht, dass es sich zusätz­lich um eine bei uns auf der Domäne studierte Schrift­stel­lerin handelt. Nun möchte ich euch den Roman von ihr gerne vorstellen.

Wenn das Verrückt­sein in Dich hineinrennt

„Kann ich wohl die nächsten Jahre bei euch bleiben?“, fragt sie dann. „Natür­lich“, sage ich.“ „Warum eigent­lich?“, fragt Sylvester. „Bist du sicher, dass du nicht verfolgt wirst?“, frage ich, obwohl keiner von uns jemals verfolgt worden ist. Wir werden nicht verfolgt und nicht bedroht, bei uns sind keine Maler, und eigent­lich schickt auch nie jemand etwas, das schnell bei uns ankommen muss. „Ich würde einfach gerne bei euch bleiben“, sagt Matilda. „Aber du schläfst doch nie gerne woan­ders“, sagt Sylvester, und Matilda sagt: „Ich bin verrückt geworden.“ „Was?“, fragen wir, denn Matilda hat das ziem­lich laut gesagt. „Gestern um kurz nach fünf“, sagt Matilda. „Was ist denn passiert?“, fragt Sylvester. „Eigent­lich nicht viel“, sagt Matilda. S. 40–41, Erste Hilfe, Mariana Leky.

Mariana Leky beschreibt ein zaghaftes, erfin­de­ri­sches und helden­haftes Trio. Die Erzäh­lerin, deren Namen wir nie erfahren, und ihr ‚Viel­leicht-Freund‘ versu­chen so gut sie es können und eben wissen, gemeinsam ihrer Freundin Matilda zu helfen. Matilda glaubt, verrückt zu werden. Sylvester hingegen sagt, wenn man nur glaubt, verrückt zu werden, dann sei man noch nicht verrückt. Die Menschen, die wirk­lich ‚verrückt‘ sind, die wären es einfach und würden nicht glauben, dass sie es werden könnten. Aber so richtig beru­higt Sylves­ters Auffas­sung Matilda nicht. Denn Matilda kann auf einmal keine Straßen mehr über­queren. Es ist ihr unmög­lich, da viel­leicht mitten auf der Straße ein Verrückt­sein auf sie wartet und dann schließ­lich in Gänze ausbre­chen würde. Aber wie kommt man nach Hause, wenn auf den Straßen das Verrückt­sein wartet? Was machst du dann? Matildas Angst zeigt uns, wie präsent und einschrän­kend Furcht ist. Vor allem, wenn andere sie nicht sehen können und sie in deinem eigenen Kopf versteckt ist.

Wir erleben Matilda als eine kluge, ruhige Frau. Obwohl wir, wie über alle Figuren, gar nicht viel über sie erfahren, schließe ich Matilda sofort in mein Herz. Es ist, wie die Erzäh­lerin im Buch sagt: Wenn Matilda spricht, möchte man ihr zuhören, und wenn sie zu Besuch ist, hofft man, dass sie lange bleibt.

Mariana Leky schafft es, humor­volle und zugleich berüh­rende Gespräche entstehen zu lassen, die zum einen die Hilf­lo­sig­keit ihrer Freund*innen wider­spie­geln und zugleich Matildas Angst faszi­nie­rend greifbar für den/die Lesende*n werden lassen. Ihr Roman entta­bui­siert den Umgang mit psychi­schen Krank­heiten, insbe­son­dere in Matildas Fall mit Angst- sowie Panik­stö­rungen. Ihr Roman zeigt uns, wie real sich Ängste anfühlen können, und macht die Gedanken sichtbar, die die Betrof­fenen quälen und welche wir viel öfter mit anderen teilen sollten. Denn in einem kleinen Rahmen kennt schließ­lich jede*r Furcht, nur reden wir nicht über diese Gedanken, die wir selbst für etwas ‚verrückt‘ und  nicht ‚normal‘ halten.

Mariana Leky beschreibt in ihrem Roman eine wunder­volle und sehr eigene Freund­schaft zwischen den dreien. Auch wenn nicht alle Ratschläge und Ideen Matilda zu helfen glücken, werten die beiden nie. Sie sind für Matilda da, sagen ihr, dass sie nicht verrückter als andere ist, und hören einfach zu. Und vor allem helfen sie Matilda, sich ihrer Angst zu stellen. Denn die Angst verliert nur ihre enorme Kraft, wenn sie heraus­ge­for­dert wird.

Ich habe das Buch sehr genossen beim Lesen – und ich habe sehr viel geschmun­zelt und mitge­fühlt. Mariana Leky fängt die Eigen­heiten der Protagonist*innen hervor­ra­gend ein, die wir eigent­lich nur mitbe­kommen würden, wenn es ein Film wäre. Durch ihre Wort­wahl und ihre spie­le­ri­schen Anein­an­der­rei­hungen zeichnet sie uns die Szene­rien auf dem Papier und in unserer Fantasie.

„Wussten Sie, dass Menschen mit Angst­stö­rungen im Grunde poten­ti­elle Helden sind?“ „Nein“, sage ich. „Wenn es wo brennt“, sagt die Thera­peutin, „sind Menschen mit Angst­stö­rungen die Ersten, die die Kinder aus dem bren­nenden Haus retten.“ […] „Sie sind nämlich gut in Extrem­si­tua­tionen“, sagt die Thera­peutin, „weil ihr ganzes Leben eine Extrem­si­tua­tion ist.“ (S.168)

Erste Hilfe

von Mariana Leky, S .7–10 | gelesen von Hannes Kohlhoff

Mariana Leky studierte 1999 nach ihrer Buch­han­dels­lehre krea­tives Schreiben und Kultur­jour­na­lismus bei uns an der Univer­sität Hildes­heim. Bei DuMont erschienen der Erzähl­band „Liebesperlen“(2001), die Romane „Erste Hilfe“ (2004), „Die Herren­aus­stat­terin“ (2010) sowie „Bis der Arzt kommt“ (2013). 2017 veröf­fent­lichte sie den Spiegel-Best­sel­ler­roman „Was man von hier aus sehen kann“. Dieser wurde in über zwanzig Spra­chen über­setzt. Man munkelt, dass es davon bald zusätz­lich eine Verfil­mung geben wird.

 

 

Quellen:

Titel­bild: Lucia Hasen­burg
Portrait­foto Mariana Leky: Fran­ziska Hauser
Lite­ratur: Erste Hilfe (2004), Mariana Leky, DuMont Buch­verlag Köln, fünfte Auflage 2020.

Ein Beitrag von Lucia Hasenburg