Auf der Suche nach Marie-Carme Gerber

Was machen Hildesheimer Ehemalige?
Eigentlich war mein Vorhaben ganz simpel: Herausfinden, was Hildesheimer Ehemalige so machen und mit ihnen Interviews für Instagram führen. Ich wollte mich auf die Suche nach Vorbildern machen – nach Leuten, bei denen man sagen würde „Ja, das will ich auch später machen“.
Was ich fand, war eine mysteriöse Person, die mich zwang, mein Verständnis vom Studium am Kulturcampus neu zudenken: Marie-Carme Gerber.
Was hat es mit Frau Gerber auf sich?
Als ich in meine Recherchen einstieg, um Alumni-Interviews für Instagram zu konzipieren, kannte ich kaum Ehemalige des Kulturcampus’. Höchstens die, die gerade erst ihren Abschluss hinter sich und noch keinen wirklichen Fuß im Arbeitsleben hatten. Ich begann also damit, zunächst das visuelle Format und Interviewfragen zu erarbeiten.
Schnell rückte auch schon die erste Feedbackrunde in der Redaktion näher. Ich erstellte meinen ersten Entwurf und präsentierte ihn:
Mit diesen Bildern holte ich mir an verschiedenen Stellen Feedback, bekam aber immer wieder die gleiche Frage am Ende: Wer ist diese Marie-Carme Gerber? Wie kann es sein, dass die Dozierenden noch nie von ihr gehört hatten? Man kennt sich doch am Kulturcampus einigermaßen gut und Marie war ja wohl erst seit kurzem nicht mehr hier. Manche glaubten sich sogar an sie zu erinnern, aber hatten kein klares Bild mehr von ihr vor Augen.
Die Sache ist: Marie-Carme Geber existiert nicht.
Sie war einfach nur ein ausgedachter Platzhalter, bis ich die eigentlichen Interviews führen konnte. Bei den Bildern handelt es sich von Stockfotos von einem Model. Die Leute – Kommiliton*innen wie Dozierende – waren geschockt, als ich ihnen das gestand. Viele sagten, sie hätten mir das abgekauft. Marie-Carme Gerber als Almuna? Kling realistisch.
Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Warum hat niemand den Entwurf hinterfragt? Natürlich kann es daran liegen, dass niemand in dieser Situation vermutet, getäuscht zu werden — aber steckt vielleicht nicht etwas mehr dahinter? Ich fing damit an, meinen eigenen Entwurf kritisch zu hinterfragen: Ist Marie-Carme Gerber der Archetyp für eine*n typische*n Hildesheimer Ehemalige*n?
Ist Marie so glaubwürdig, weil sie das gleiche macht wie alle anderen Hildesheimer Alumni vor ihr?
Warum denn auch nicht? Viele Ehemalige landen an Theatern. Und es gibt eine lange Liste von literarischen Werken, die von Hildesheimer Autor*innen stammen und nicht selten irgendwelche Preise bekommen. So macht es ja auch Sinn: Du studierst Theater? Du gehst ins Theater! Du studierst Literatur? Wird halt Autor*in! Du studierst Kulturwissenschaft? Verdien dein Geld als freier Journalist. Das sind eben die Wege, die uns das Studium vorzeigt. Oder?
Immer noch mit Marie-Carme Gerber im Kopf fing ich mit meiner Recherche zu Hildesheimer Alumni an. Wen könnte man da interviewen? Welche Arbeitsfelder gibt es da? Und auf was stieß ich: Jede Menge Theaterpädagog*innen, Lektor*innen, Journalist*innen, Musiker*innen und Künstlerische Leiter*innen von Kulturinstitutionen. Mitarbeitende in Marketing und PR, Leiter*innen von Galerien, aber auch Geschäftsführer*innen von Escape Rooms. Forscher*innen. Projektmanager*innen. Führungskräfte in Vereinen. Gymnasialehrer*innen. Schreibchoache. Entrepreneur*innen. Übersetzer*innen. Fotograf*innen. Game Designer. Narrative Designers für Videospiele. Business Coaching, Eventmanagerin, die Liste könnte ich noch eine ganze Weile weiter fortsetzen.
Die Arbeitsfelder waren viel diverser als man denken würde. Wenn man darüber nachdenkt, macht es jedoch Sinn: Warum sollten Theaterstudis, welche sich eh damit befassen, Immersion und fremde Welten zu erschaffen, keine Escape Rooms planen? Wer ist denn besser dafür geeignet, die Geschichten von Videospielen zu schreiben als die Schreibenden an der Domäne?

Natürlich waren auch die klassischen Berufsfelder bei den Hildesheimer Ehemaligen vertreten – sogar großteilig. Und ich will diese Berufe auch nicht kleinreden. Viele haben daraus sehr erfolgreiche Karrieren gemacht. Aber auch diese Karrieren sind vielfältiger, als ich es erwartet hätte. So erzählte mit Theresa Kawalek beispielsweise, wie sie am Theater Altenburg Gera als Leiterin der TheaterFABRIK und als Theaterpädogogin arbeitet. Dazu gehört aber nicht nur die klassische Theaterarbeit, sondern auch das Konzipieren von Podcasts und Magazinen. Auch hier steckt viel mehr dahinter, als das Label Theaterpädogin vermuten ließ. Und gewiss nicht der klassische Pfad, den jeder Theaterstudi einschlägt.
Wofür steht also Marie-Carme Gerber?
Ich denke, sie ist ein Sinnbild eines Klischees am Kulturcampus. Des Klischees der Konsekutivität, dass ein Kunststudi Kunstschaffender wird und ein Musikstudi im Beruf Musikmachender wird.
Wie alle Klischee beruht auch dieses teils auf der Wahrheit, doch es steckt noch Einiges mehr dahinter: Viele Berufspfade, die viele nicht auf dem Schirm haben. Klassische Wege, die mehr beinhalten als „nur Theater“, „nur Musik“ oder „nur Literatur“. Und einiges mehr an Chancen, die den Leuten nach dem Studium am Kulturcampus offenstehen.