Kleine Geschichte der Handschrift

Vor sehr langer Zeit, so unge­fähr vor 5 000 Jahren (viel­leicht ein paar mehr oder  weniger) fingen die Menschen an, etwas zu entwi­ckeln, das neben dem Rad als eine der wich­tigsten Erfin­dungen gelten sollte: die Schrift.

Sie entstand zu unter­schied­li­chen Zeiten an unter­schied­li­chen Orten, aber immer dort, wo das Zusam­men­leben der Menschen ein gewisses Maß an Orga­ni­sa­tion und Kommu­ni­ka­tion erfor­derte. Sie sah auch überall ein biss­chen anders aus. Die Inka machten Knoten in ein Seil, um sich Mittei­lungen zu senden, die Ägypter, Maya und Azteken entwi­ckelten jeweils ihre eigenen Hiero­gly­phen, die Chinesen ritzten Schrift­zei­chen in alte Knochen und Schildkrötenpanzer.

Die Schriften dieser Welt entstanden ursprüng­lich aus Bildern. In Ägypten meißelte man sie in den Stein. Die Händler der alten Sumerer drückten kleine Bild­chen von Weizen in Tonta­feln und schrieben eine Strich­liste daneben (ein Vorläufer der heutigen Exel­ta­belle). Diese soge­nannten Pikto­gramme, also die Abbilder des eigent­li­chen Gegen­standes, waren der Vorreiter der Schriften, wie wir sie heute kennen.

Die Art der Pikto­gramme und die künst­le­ri­schen Fähig­keiten der einzelnen Menschen waren natür­lich überall verschieden. Aber selbst die begna­detsten Künstler*innen unter den ersten Schrei­benden stießen irgend­wann an die Grenze dieser schrift­li­chen Kommu­ni­ka­ti­ons­form. Wie zeichnet man zum Beispiel gegen­stands­lose Wörter? Wie zeichnet man das Wort oder? Faszi­nie­ren­der­weise sah diese Lösung dieses Problems in allen Schriften gleich aus: Auf die ersten Pikto­gramme folgte überall das, was wir heute das Rebus-Prinzip nennen.

Das Rebus-Prinzip

Nur mit Bildern kam man in der Schrift nicht weiter. Deshalb kamen die Menschen nach und nach auf die Idee, die Bilder für etwas anderes stehen zu lassen, als für den Gegen­stand, den sie abbilden. In Ägypten versuchte man zum Beispiel, die Namen der Pharaonen zu verschrift­li­chen. Dafür über­legten sich die Schreiber*innen, welche Worte vom Klang dem Namen des Pharaos am ähnlichsten waren. Wenn der Name des Herr­schers zufäl­li­ger­weise so ähnlich klang wie die Wörter „Fußsohle“ und „Fluss­pferd“ hinter­ein­ander gespro­chen, dann wurde er in Zukunft mit den beiden Hiero­gly­phen für eben diese Wörter geschrieben. Schrift­zei­chen wurden also plötz­lich verwendet wie Laute. Das eröff­nete der Entwick­lung der Schrift ganz neue Tore.

Es entstanden soge­nannte Phono­gramme, also Bild­zei­chen, die für bestimmte Laute stehen. Diese Phono­gramme ersetzten oder ergänzten die bishe­rigen Bild­zei­chen der Sprache, zum Beispiel bei den Maya, aber auch in der chine­si­schen Schrift, in der man sie immer noch finden kann.

Das Alphabet, das wir von unserer latei­ni­schen Schrift kennen, war damit aber noch lange nicht erfunden. Wissen­schaftler gehen heute davon aus, dass unser Alphabet auf eine expe­ri­men­tier­freu­digen Gruppe Minen­ar­beiter in Ägypten zurück­geht. Dort lebten ägyp­ti­sche Bewohner zusammen mit kanaa­näi­schen Wander­ar­bei­tern, die in ihrer Frei­zeit scheinbar noch genü­gend Muße besaßen, um über Kommu­ni­ka­ti­ons­weisen zu philosophieren.

Die Kanaanäer*innen  waren von den ägyp­ti­schen Hiero­gly­phen angetan und versuchten, sie an ihre eigene Sprache anzu­passen. Dabei verän­derten sie das Rebus-Prinzip dahin­ge­hend, dass die jewei­ligen Bild­zei­chen plötz­lich nur noch für den jewei­ligen Anlaut der Laut­silbe standen. Das Zeichen der (in diesem Fall von mir erdachten) Silbe roin wäre also zu dem Zeichen für den Laut R geworden. Dass sich aus diesem Schritt letzt­end­lich unser Alphabet entwi­ckelt hat, kann man heute noch an unserem A erkennen:

 

 

A

Wenn ihr beim Lesen des As den Computer auf den Kopf stellt und eure ganze Fantasie heraus­kramt, dann erkennt ihr viel­leicht den Kopf eines Stiers mit zwei Hörnern – die ägyp­ti­sche Hiero­glyphe, aus der dieser Buch­stabe abge­leitet wurde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Als die kanaa­näi­schen Wander­ar­beiter wieder nach Hause wanderten, nahmen sie ihren neuen Schrift­schatz mit. Dort wurde die Erfin­dung begeis­tert aufge­nommen und etwas später von den reise­freu­digen Händ­lern der Phöni­zier überall im Mittel­raum verbreitet.

Aber nicht nur die (ehema­lige) ägyp­ti­sche Schrift erntete in Europa Begeis­te­rung, sondern auch das Schreib­ma­te­rial: Papyrus. In Rom sorgten diese beiden Erfin­dungen für einen unglaub­lich hohen Bildungs­stand. Die meisten Menschen in den aller­meisten gesell­schaft­li­chen Schichten konnten lesen und schreiben. Man schrieb per Hand mit einer Rohr­feder auf Papyrus. Das war erstens billig und zwei­tens ging es dank der glatten Ober­fläche der Schreib­un­ter­lage schnell. Die Schrift des Alltags unter­schied sich dabei stark von den in Stein gemei­ßelten, geome­tri­schen Buch­staben, die wir heute noch an römi­schen Ruinen lesen können.

Die Nach­frage nach Papyrus in Europa war dermaßen groß, dass die Produk­tion in Ägypten irgend­wann an ihre Grenzen stieß. Als das Römi­sche Reich in eine Ost- und eine West­hälfte zerfiel, wurde der Papy­rus­handel zusätz­lich schwie­riger und die Preise stiegen. Papyrus wurde teuer, noch teurer, noch ein biss­chen teurer und schließ­lich – quasi abgeschafft.

Das Mittel­alter brach an und plötz­lich schrieb man auf Perga­ment. Obwohl – man schrieb eigent­lich gar nicht mehr. Mönch schrieb auf Perga­ment. Im Gegen­satz zu Papyrus war Perga­ment aufwendig in der Herstel­lung, teuer und schwerer zu beschreiben (und vegan war es auch nicht). Ein gut trai­nierter Mönch schaffte nicht mehr als ein paar Seiten pro Tag.

Die Hand­schrift im Mittel­alter zeich­nete sich durch klare, gleich­mä­ßige Buch­staben aus. Die Seiten­ränder und Anfangs­buch­staben der Texte wurden aufwendig illus­triert. Ein gutes Buch kostete im Mittel­alter dadurch gut und gern so viel wie ein kleines Haus in der Stadt. Man kann sich leicht vorstellen, dass der Bildungs­stand und auch die Fähig­keit zu schreiben unter diesen Bedin­gungen rasant abnahmen.

Ganz anders sah das zur glei­chen Zeit in China aus. Hier galt die Schrift schon seit jeher als ganz beson­dere Kunst­form, die sich (anders als bei den Mönchen in den dunklen euro­päi­schen Klos­ter­kam­mern) nicht auf die Illus­tra­tionen, sondern auf die Schrift­zei­chen an sich bezieht.

In ein chine­si­sches Gelehr­ten­zimmer gehören tradi­tio­nell Pinsel, Tusche, Reib­stein und Papier. Das Papier war als Schreib­un­ter­lage nicht nur wesent­lich feiner und schneller zu beschreiben, es war auch wesent­lich güns­tiger. Während Schreib­un­ter­lagen in Europa einer echten Groß­fi­nan­zie­rung bedurften, konnte man in China schon lange leere Notiz­bü­cher kaufen (und manche von uns wissen viel­leicht, was leere Notiz­bü­cher für eine Anzie­hungs­kraft besitzen…man muss sie einfach kaufen!)

Über den arabi­schen Raum erreichte das Papier schließ­lich auch unsere Brei­ten­grade und konnte den Weg bereiten für eine Erfin­dung, die die (Hand-)Schrift völlig neu beleuchten sollte: den Buchdruck.

Ironi­scher­weise wollte Johannes Guten­berg mit seiner Erfin­dung Bücher produ­zieren, die der Hand­schrift der Mönche so nah wie möglich kamen. Ein quali­ta­tives Buch sollte so aussehen, als sei es mit der Hand geschrieben worden (eine Sicht­weise, die wir bei den meisten unserer Hand­schriften heute nicht unbe­dingt teilen würden). Das Design der latei­ni­schen Buch­staben kam Guten­berg dabei entgegen: Unsere Buch­staben sind klar vonein­ander getrennt und immer iden­tisch. Guten­bergs erstes gedrucktes Buch hielt man jahr­hun­der­te­lang für eine Hand­schrift und nicht für einen Druck. Die Erfin­dung wurde ein voller Erfolg und ist uns heute noch als ein wesent­li­cher Schritt auf dem Weg in unsere moderne Gesell­schaft bekannt.

In anderen Teilen der Welt kam das Konzept des Buch­drucks aller­dings nicht so gut an. Die arabi­sche Schrift ist zum Beispiel viel lebhafter und krea­tiver, die einzelnen Buch­staben sind eng mitein­ander verbunden und es werden beim Schreiben verschie­dene Ebenen statt klarer, gleich­großer Zeilen einge­halten. Die Anfänge des arabi­schen Buch­drucks waren deshalb nicht von Erfolg gekrönt. Stan­dar­di­sierte Druck­buch­staben konnten der künst­le­ri­schen Hand­schrift keines­falls das Wasser reichen und so mussten die meisten der ersten Buch­dru­cke­reien im arabi­schen Raum erst einmal wieder schließen.

Unter­schied­liche "Schreib­tech­niken"

Die arabi­sche Schrift lehnte sich damit gegen etwas auf, was man auch an anderen Stellen in der Schrift-Geschichte beob­achten kann und was sich viel­leicht als eine Art Schrift­ko­lo­nia­lismus bezeichnen lässt.

So wie das Prinzip des Buch­drucks anhand latei­ni­scher Buch­staben entwi­ckelt wurde, so verwen­deten auch die Tasta­turen der Schreib­ma­schine und später des Compu­ters erst einmal latei­ni­sche Buch­staben. In manchen anderen (Schrift-)Kulturen sorgte das für Anpas­sungs­ver­suche auf Kosten der eigenen Schrift. Manche Schrift­kul­turen fingen zum Beispiel an, ihre Wörter laut­ge­treu mit der latei­ni­schen Tastatur aufzu­schreiben. So war das zum Beispiel bei einigen arabisch schrei­benden Gamer*innen, die dadurch in ihren Kreisen ein alter­na­tives Schrift­system entwi­ckelten, das heute als Franko-Arabisch bezeichnet wird.

In China gibt es ein weit verbrei­tetes digi­tales Programm, das auf dem Smart­phone die rich­tigen chine­si­schen Zeichen vorschlägt, wenn man die Wörter laut­ge­treu auf der latei­ni­schen Tastatur schreibt. Noch mehr als bei uns zeichnet sich dadurch die von Handschrift-Verfechter*innen viel beklagte Entwick­lung ab, durch die Verwen­dung digi­taler Medien langsam die Fähig­keit des Schrei­bens zu verlernen.

In gewisser Weise sind wir so, wie wir schreiben. Eine charak­te­ris­ti­sche Hand­schrift sagt immer auch etwas über die schrei­bende Person dahinter aus. Sie trans­por­tiert nicht nur Inhalte, sondern hält gleich­zeitig auch Gefühle inner­halb der Zeilen fest. Manche sagen: Hand­schrift ist Hirn­schrift. Wer flüssig mit der Hand schreibt, denkt meis­tens auch flüssig.

Aber es muss ja nicht immer nur Schön­schrift sein. Eine rich­tige Sauklaue ist genauso charak­te­ris­tisch und kann für das Umfeld zum sozialen Code werden: Entzif­fern können die Botschaft plötz­lich nur Einge­weihte — dieje­nigen, die die schrei­bende Person gut genug kennen.

Recher­chiert man im Internet zum Thema Hand­schrift, stößt man zwangs­läufig auf einen Appell nach dem anderen. Alle lauten mehr oder weniger Rettet die Hand­schrift! Um diesen Aufruf herum hat sich ein großer Markt gebildet: Hand­let­te­ring ist seit ein paar Jahren wieder voll im Trend, man findet zahl­reiche Artikel und Anlei­tungen zur Verbes­se­rung der eigenen Hand­schrift. Es haben sich sogar Unter­nehmen gebildet, die Schönschreiber*innen beschäf­tigen, von denen man sich seinen Text abschreiben lassen kann.

Alle diese Ansätze sind darauf ausge­legt, das Schreiben wieder selbst in die Hand zu nehmen und ein wich­tiges Kulturgut damit vor dem Aussterben zu bewahren. Ob man in diesem Wort­ge­fecht nun Video­bot­schaften sendet oder Plakate kalli­gra­fiert, sei an dieser Stelle jedem selbst über­lassen. Die Schrift begleitet uns schon eine ganze Weile. Wie sie in der Zukunft aussehen wird, ist eine andere Geschichte…

von Lisbeth Leupold

Quellen

Vom Schreiben und Denken. Die Saga der Schrift (1) Der Anfang (2020). [Fern­seh­sen­dung] ARTE F, 52 min., Regie: David Sington, abge­rufen am 11.01.21 um 17.05 Uhr, in: https://www.arte.tv/de/videos/083905–001‑A/vom-schreiben-und-denken-die-saga-der-schrift‑1–3/

Vom Schreiben und Denken. Die Saga der Schrift (2) Impri­matur. Buch und Zivi­li­sa­tion (2020). [Fern­seh­sen­dung] ARTE F, 52 min., Regie: Davis Sington, abge­rufen am 11.01.21 um 17.07 Uhr, in: https://www.arte.tv/de/videos/083905–002‑A/vom-schreiben-und-denken-die-saga-der-schrift‑2–3/

Vom Schreiben und Denken. Die Saga der Schrift (3) Eine neue Ära (2020). [Fern­seh­sen­dung] ARTE F, 53 min., Regie: David Sington, abge­rufen am 11.01.21 um 17.10 Uhr, in: https://www.arte.tv/de/videos/083905–003‑A/vom-schreiben-und-denken-die-saga-der-schrift‑3–3/

https://kalligraphie.de

https://www1.wdr.de/wissen/mensch/handschrift-104.html

Hilde­brandt, A. (2016, Juli 4). Wenn Erwach­sene wie Viert­klässler schreiben. WELT. in: https://www.welt.de/vermischtes/article156780313/Wenn-Erwachsene-wie-Viertklaessler-schreiben.html abge­rufen am 19.01.21

Stürmer, M. (2019, April 9). Rettet die Hand­schrift!. WELT. in: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article191616083/Handschrift-Ein-Plaedoyer-fuer-das-Handgeschriebene.html abge­rufen am 19.01.21

Fotos

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pixabay, Lady Escabia, Gabriela Palai, Roman Odintsov, Cheryl Wee, mali maeder, Sathesh D, Ann H