Hildes­heims häss­lichste Orte

Sogar Hildes­heim hat häss­liche Orte. Dieser Beitrag zeigt, wie man sie kreativ nutzbar macht.

Viele Studie­rende kommen mit großen Visionen nach Hildes­heim, nur um dann vor Ort die Inspi­ra­tion zu verlieren. Doch keine Panik! Bei krea­tiven Blockaden bieten Spazier­gänge durch Hildes­heim und Umge­bung viele Schlüs­sel­reize. Mit einer kriti­schen Grund­hal­tung und ein biss­chen Grau­sam­keit können gerade diese Orte kreativ prozes­siert werden. Ich habe im Rahmen dieses Formats eine kleine Auswahl örtli­cher Beispiele zusam­men­ge­stellt, um auf das große Poten­zial des Pöbelns und Schimp­fens aufmerksam zu machen.

Da ist sie ja, das gute Stück

Wenn Studie­rende von ihren Eltern in Hildes­heim besucht werden, führt der obli­ga­to­ri­sche Stadt­spa­zier­gang zwangs­läufig in die Keßler­straße. Hier zeigt sich Hildes­heim von seiner Scho­ko­la­den­seite. Die Gasse, die parallel zum Kehr­wie­der­wall verläuft, ist eine der letzten histo­ri­schen Straßen der Region und soll wohl an eine Zeit vor den Kata­stro­phen des 20. Jahr­hun­derts erinnern.

„So sah einst ganz Hildes­heim aus.“ Ein rühr­se­liges Seufzen und das Fach­werk tut sein Übriges. Doch die Silver Surfer und Best Ager, die im Märchen­kitsch der Keßler­straße den Duft von Goethes Deutsch­land zu erschnup­pern glauben, leben einen leeren Traum. Sie sollten ästhe­tisch und narrativ den Weg frei­ma­chen. Statt­dessen kompen­sieren sie ihre begrün­dete Angst vor der Über­flüs­sig­keit durch den Denk­mal­schutz von Bruch­buden, was häufig sogar noch huma­nis­tisch begründet wird. Ein Schat­ten­theater. Dabei sollte die Keßler­straße in erster Linie mit dem Logen­haus der „Schla­raffia Hildesia“ asso­zi­iert werden. Die Schla­raffen, ein irrer Männer­bund, sind die Kari­katur dieses naiven Histo­rismus. Wie die frau­en­feind­li­chen Brems­klötze der Gesell­schaft, sitzen sie in der ehema­ligen Dompropstei, spielen Ritter und saufen Bier. Und unten, in der Keßler­straße, erfreuen sich die elter­li­chen Finan­ciers der Erst­se­mester-KuWis am konser­vierten Fach­werk. Fach­werk, oder wie ich es nenne: krumm und schief gebaut. Die High-Main­ten­ance Bezie­hung der Mittel­städte. Der Schlager unter den Architekturformen.

Die gute, alte Zeit

Doch es gibt bei weitem noch "histo­ri­schere" Ecken in Hildes­heim. Wen man die warmen Juni­tage nutzt, um von der Hildes­heimer Innen­stadt Rich­tung Galgen­berg zu schlen­dern, tritt man früher oder später einem strengen Mann unter die Augen. Er ist ca. fünf Meter groß und bewaffnet. Seine Gesichts­züge sind aus grau­braunem Dolomit geschlagen. Zu seinen Stie­feln, zwei Park­bänke, damit die Spaziergänger*innen, die den Galgen­berg zum Lust­wan­deln nutzen, eine Verschnauf­pause halten können. Über ihnen prangt dann der Schriftzug: „Die Ihr das Leben gabt in Schick­sals­zeit – gewannt dem Volk und Euch Unsterb­lich­keit.“ Wir schreiben das Jahr 2021. Wer hier eine Horror­show diagnos­ti­ziert, findet in der Hildes­heimer Bevöl­ke­rung kein Verständnis. Es gehe doch NUR um den ersten Welt­krieg. Dass die Statue 1936 einge­weiht wurde: geschenkt. Und außerdem sei das doch Teil der wich­tigen und rich­tigen Erin­ne­rungs­kultur. So lügt sich Hildes­heim das Leben schön. Doch Nazi­folk­lore ist keine Erin­ne­rungs­kultur. Und dass diese Statue noch steht, ist kein Zeichen von Refle­xion, sondern das satte State­ment einer Gesell­schaft, die mit sich offenbar wieder „im Reinen ist“. Oder schon immer war? Ein Ort der ewigen Verschnaufpause.

Itzum, meine Perle

Eine gute Verschnauf­pause vom städ­ti­schen Treiben findet man auch auf dem Kultur­campus Domäne. Doch wer mit dem Stadtbus zu der spät­mit­tel­al­ter­li­chen Wasser­burg fährt, erhält meis­tens und unge­fragter Weise eine Gratis­tour durch den südlichsten Stadt­teil von Hildes­heim. Itzum: dieser Flecken Erde wurde vom lieben Gott geküsst und zwar mit Zunge. Doch was sich in der Privat­heit seiner verbux­baumten Vorgärten ereignet, wissen nur die Wild­gänse, die zwei Mal im Jahr oben drüber hinweg ziehen. Itzum, oder viel­mehr: it's over. Die Idylle Nieder­sach­sens wird hier gebro­chen von geklonten Reihen­häu­sern und düsteren Wohn­an­lagen. Einige mit Panora­ma­blick, doch statt an Santa Barbara erfreut sich das itzumer Auge am Erixx der alle halbe Stunde durch das Inners­tental nach Goslar gondelt. Das stört die Bewohner*innen nicht. Satt sitzen sie in ihren wohl­stands­ver­wahr­losten Vorgärten. Zwischen Schie­fer­platten, Gabionen oder ins Spalier gezwun­gene Obst­bäum­chen. Die einzige Lebens­freude verbreitet der robo­ti­sche Rasen­mehr. Sonst wirkt ganz Itzum wie eine Mischung aus Senio­ren­re­si­denz und Fassa­denstatt für Atom­bom­ben­tests. Die Frage bleibt, wie viele Doppelverdiener*innen ein Schei­dungs­an­walt aus ihrem Elend erlöst haben muss, nur um seine ganz persön­liche Hölle in einer Itzumer Stadt­rand­villa zu finden?
Wenn ich zu Fuß durch Itzum gehe, weil wieder eine Bushal­te­stelle dicht gemacht wurde, empfinde ich mich als Fremd­körper. Doch wie muss sich hier erst jemandem fühlen, der nicht dem Archetyp des gutbür­ger­li­chen Schwie­ger­sohns entspricht. An einem Ort, wo Lavendel im Garten bereits als „exotisch“ gilt, ist nicht viel Platz für Verän­de­rung. Und auch nicht vorge­sehen. In Itzum ist die Welt noch in Ordnung. Donners­tags gibt es Kartof­fel­puffer satt an der Scharfen Ecke. Im Früh­ling wird das Tram­polin aufge­stellt und wer sich Foto­vol­taik aufs Dach packt, erhält dazu ein Ticket direkt ins Para­dies. God's Own Country. Meine Gebete gehen raus an die Broiler, die ihre Pirou­etten an Witwe Boltes Brat­spieß drehen. Und nicht zuletzt an die armen Studis, die es für eine gute Idee hielten ihren gesamten Bachelor in Itzum zu verwohn­heimen. 

Hildes­heims verbor­gene Schätze

Wenn du frisch in ein Hildes­heimer Wohn­heim oder eine schöne WG gezogen bist, soll­test du dich auf jeden Fall ummelden. Das ist nicht nur ein wich­tiger Schritt, um in der Kommu­nal­po­litik ein Wört­chen mitzu­reden, sondern sorgt auch für eine tiefere Verbin­dung zu deiner neuen Heimat an der Innersten. Und es kommt noch besser: wer den Gang in die Amts­stube wagt, bekommt als Will­kom­mens­ge­schenk nicht nur Coupons für das wunder­bare Wasser­pa­ra­dies, sondern auch Frei­karten für das Römer- und Pelizaeus Museum. Dem, so kann man sagen, kultu­rellen Hot Spot der Stadt. Der moderne Bau mit Glas­fas­sade erin­nert an euro­päi­sche Groß­städte. Hier ist nichts mehr zu spüren, vom west­deut­schen Nach­kriegs­muff der Fußgän­ger­zone. Aber das ist noch nicht alles. Denn wer hätte erwartet, dass sich in der dunkelsten Provinz Schätze aus aller Welt verste­cken? Ich spreche von feinem Porzellan aus China, von altpe­rua­ni­schen Arte­fakten und Kunst­ge­ständen und von einer welt­weit renom­mierten Altägypten Samm­lung, deren Expo­nate auch an inter­na­tio­nale, große Museen verliehen werden. Wowsen! Da kann man als frisch­ge­ba­ckene Hildesheimer*in doch mächtig stolz sein. Die großen Geld­summen, die Anfang der Nuller­jahre in dem Projekt versenkt wurden, scheinen sich zu lohnen. Und mit ein biss­chen Glück kann sich Hildes­heim unter den deko­lo­nialen Rück­ga­be­for­de­rungen geschickt hinweg­du­cken, die euro­pa­weit immer lauter werden. Keine Sorge, es ist schließ­lich unsere Kern­kom­pe­tenz, Trends zu verpassen. Und es wäre doch zu schade, wenn irgend­wann auffällt, wie falsch und abge­fuckt es ist, dass im kleinen Hildes­heim ägyp­ti­sche Mumien in Glas­kästen liegen. 

Ein Beitrag von Jacques Götzmann