Auf den Spuren Der Glosse in der Hildes­heimer Allge­meinen Zeitung

von Rosa Schnidrig

Beim Lesen der Hildes­heimer Allge­meinen Zeitung (HAZ) fällt recht schnell ein immer wieder­keh­rendes Element auf – der Titel verrät schon welches — es ist die Glosse. Oben links auf der ersten oder dritten Seite von nahezu jedem Buch (Hildes­heim, Hildes­heimer Land, Sport, …) sind sie zu finden, meist mit einem Portrait­foto der Schrei­benden, und, so viel sei schon jetzt gesagt: sie machen Freude beim Lesen.

Was aber ist eine Glosse?

Eine Glosse ist meinungs­ori­en­tiert, poin­tiert, asso­ziativ und oft auch ironisch. „Ihr Ziel ist es, Willens­bil­dung oder tätige Stel­lung­nahme beim Leser dadurch zu errei­chen, dass eine Kommen­tie­rung über­spitzt wird[…]. Glossen, die lokale Ereig­nisse angehen, nennt man Lokal­spitzen.“, so Erich Straßner in Jour­na­lis­ti­sche Texte.

Glossen in der HiAZ sind das Oben Links im Buch Hildes­heim, im Sport­teil sind es Börde Paul und Auch das noch. Land in Sicht ist ein Edito­rial das, so teilte mir Chris­tian Wolters, Stell­ver­tre­tender Chef­re­dak­teur und Leiter der Lokal­re­dak­tion mit, oft zur Glosse gerate. Eben­falls glos­sie­rend geschrieben sei die Kolumne Typisch!.

Die Hildes­heimer Allge­meine Zeitung ist die älteste noch erschei­nende Tages­zei­tung Deutsch­lands. Sie erschien erst­mals 1705, damals trug sie noch dem Namen „Hildes­heimer Rela­tions Courier“. Könnte es bereits imRela­tions Courier“ des 18. Jahr­hun­derts Glossen gegeben haben? 

Der „Hildes­heimer Rela­tions Courier“ wurde unter der Leitung von Hein­rich Chris­tian Hermitz zweimal die Woche gedruckt. Im 18. Jahr­hun­dert gab es weder Pres­se­frei­heit noch den Beruf des Jour­na­listen. Was im Rela­tions Courier zu lesen war, unter­scheidet sich deshalb sehr von den Inhalten der heutigen Zeitung. Über Briefe, Eilboten und andere Zeitungen, wurden Berichte zusam­men­ge­tragen und, in der Reihen­folge wie sie bei Hein­rich Chris­tian Hermitz eintrafen, zusam­men­ge­stellt und abge­druckt. Die Über­schriften der einzelnen Berichte setzten sich immer aus dem Datum und dem Ort, aus dem der Bericht stammte, zusammen. Thema­ti­sche Über­schriften gab es keine.

Wegen all diesen Umständen ist sehr unwahr­schein­lich, wenn nicht sogar ganz unmög­lich, dass es bereits im „Hildes­heimer Rela­tions Courier“ Glossen gab. Zwar erschienen in England bereits im 18. Jahr­hun­dert verein­zelt Kolumnen in den Zeitungen, welche manchmal auch an Glossen erin­nern. Doch in England galt, im Unter­schied zu Deutsch­land, bereits seit 1695 die Pres­se­frei­heit. In Deutsch­land wurde die Pres­se­frei­heit erst 1848 erkämpft. Die Suche nach einer Glosse ergibt also erst ab diesem Zeit­punkt einen Sinn. 

In der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts, genauer ab 1848, kommt es zu vielen Entwick­lungen und Neue­rungen im Zeitungs­wesen. Beson­ders auffällig ist eine wach­sende inhalt­liche Ausdif­fe­ren­zie­rung. „Gelehrten Arti­keln“, die sich erklä­rend einem Thema widmen, befinden sich oft auf der Titel­seite. Den größten Teil machen noch immer die unter Angabe des jewei­ligen Ortes aufge­lis­teten Nach­richten aus. Wirt­schafts- und Handels­nach­richten erhalten einen eignen Abschnitt, Wetter­be­richte, Berichte aus den Gerichts­sälen und Romane halten Einzug in die Zeitung. Hin und wieder werden auch Leser­briefe abge­druckt, die, in ihrer meinungs­ori­en­tierten Poin­tie­rung oft noch die meisten Ähnlich­keiten mit einer Glosse aufweisen. 

Eine Text­sorte, die, wie die Leser­briefe, Raum für Ironie, Asso­zia­tionen und Über­spit­zung lässt, sind die „Berliner Briefe“. Der Titel ist wört­lich zu nehmen, denn die Texte sind Briefe aus der Haupt­stadt, in denen vom kultu­rellen und städ­ti­schen Leben berichtet wird. Eine Glosse sind sie, trotz stel­len­weiser Ähnlich­keit, dennoch nicht. 

In der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts entwi­ckelt sich der Heimat­teil in der Hildes­heimer Allge­meinen Zeitung. Während des Zweiten Welt­kriegs wird die HAZ mit dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen „Hildes­heimer Beob­achter“ zwangs­fu­sio­niert. In diese Zeit fällt die deutsch­land­weite Umstel­lung von der Schriftart Fraktur zu Antiqua. Nach Ende des Krieges darf die HAZ zunächst nicht wieder erscheinen. 1949 erscheint die HAZ schließ­lich mit einigen Verän­de­rungen wieder. Der gesamte über­re­gio­nale Teil wird von der Verlags­gruppe Madsack aus Hannover gestellt. Die Redak­tion in Hildes­heim ist von da an haupt­säch­lich für den Lokal­teil zuständig. Im Lokal­teil schließ­lich erscheint in den 70-er Jahren die erste Glosse. Sie taucht nicht aus dem Nichts auf, denn, in der linken Spalte auf der ersten Seite des Heimat­teils, erscheinen bereits seit den 60-er Jahren glos­sen­ähn­liche, kurze Texte. Ihre Zeilen­zahl kreist um die Dreißig, mahl mehr, mal weniger. Zu Beginn sind es meis­tens noch Texte mit mora­li­scher Note, stel­len­weise über­spitzt, poin­tiert, und manchmal auch ironisch. 

Der Text „Kinder­lied“ vom 12. Februar 1965 erzählt von der kleinen Ursi, sie ist gerade einmal vier­ein­halb Jahre alt. Ursi kann weder „Fuchs du hast die Gans gestohlen“ noch „Häns­chen­k­lein“ singen, statt­dessen gibt sie ein fehler­freies „Liebes­kummer lohnt sich nicht, my Darling!“ zum besten. Der Autor macht sich ange­sichts der schla­ger­sin­genden Ursi Sorgen um die Phan­tasie der Kinder, denn wie können Texte über „Liebes­kummer, my Darling“ die kind­liche Fantasie noch anregen?

Der Über­gang von diesen nach­denk­li­chen, mora­li­schen und aufhei­ternden Texten zur ersten Glosse ist flie­ßend. Sonn­abend, der 23. August 1975: versehen mit den Worten „Unsere Glosse“ bleibt am Gloss-Effekt des kurzen Textes kein Zweifel. Die Über­schrift lautet „Heile Welt“. „Heile Welt“ berichtet aus Sorsum, das für seine Brief­tauben bekannt sei. Nachdem ein Mann kalt­blütig einige der frie­den­brin­genden Vögel nieder­ge­schossen hatte, kam er vor das Gericht. „Dieser Prozeß sollte jedem Wild­schützen eine Warnung sein, auf wehr­lose Tiere, gleich welcher Art, zu schießen.“ So zitiert der Autor den Bericht aus Sorsum und schließt mit den Worten: „Sorsum, ohne Zweifel, ist ein liebens­werter Stadtteil.“

 Die Hildes­heimer Glossen, als Anek­doten aus der Region, lassen ein Mosaik von tausenden kleinen, scheinbar neben­säch­li­chen Bege­ben­heiten entstehen. Dieser leben­dige Anek­doten-Charakter zeigt sich auch in einigen anderen Formaten. Mit unzäh­ligen feinen Stri­chen gerahmten Texte, erzählen in den 60-er Jahren in kursiver Schrift von allerlei Bege­ben­heiten. Mal sind sie roman­ti­sche Natur­be­schrei­bung unter dem Titel „Früh­lings­boten“, mal ein lustiges Gedan­ken­spiel zu den Twist tanzenden Beatles.

In den 80-er Jahren taucht ein neues Format auf: täglich erscheint zuun­terst in der bereits beschrie­benen linken Spalte ein kleiner, kursiver Kasten. Er beginnt mit den Worten „zu Guter Letzt“, die sich gleich­zeitig als Titel und als Satz­an­fang lesen lassen. Hier findet etwa ein Junge seine Würdi­gung, indem erzählt wird, wie dieser ein gemischtes Eis bestellt, auf Nach­frage der Verkäu­ferin sich dann drei Kugeln Zitro­neneis wünscht.

In den 70-er Jahren erscheint eine neue, glos­sen­ar­tige Text­sorte. Sie kommt mit einem dicken Achtung-Ausru­fe­zei­chen daher, ist gerahmt, und trägt den Titel Schlag­lö­cher. Der Text ist durch Stern­chen alle par Zeilen wie in Stro­phen unter­teilt. Beim Lesen entsteht das Gefühl, Szene für Szene durch eine Erzäh­lung geführt zu werden, beinahe rhyth­misch. Eies der Schlag­lö­cher handelt von Dorf­straßen im Winter, die der Jour­na­list und Autor auf ihre Rutsch­ge­fahr prüft. Darin steht: „Sie hatte gesehen, dass ich foto­gra­fierte, und klagte mir sogleich ihr Leid über den Stra­ßen­zu­stand. Die Frau stützte sich auf eine Milch­kanne, die sie langsam vor sich herschob, wenn sie diese Stütze nicht hat, kriecht sie auf allen Vieren…“

 

In den frühen 90-er Jahren taucht der „Einwurf“ auf. Dieser ist im Sport­teil zu finden. Der über­re­gio­nale Sport­teil wird von der Verlags­gruppe Madsack gestellt. Die Vermu­tung, dass Glossen im über­re­gio­nalen Sport­teil nicht aus der Hildes­heimer Redak­tion stammen, liegt also nahe. In der Antwort auf eine Frage von mir nannte Chris­tian Wolters, Stell­ver­tre­tender Chef­re­dak­teur und Leiter der Lokal­re­dak­tion, auch eine Glosse aus dem Sport­teil als Hildes­heimer Glosse. Viel­leicht sind also auch die Einwürfe der neun­ziger Jahre nicht von Über­re­gio­naler- sondern von Hildes­heimer-Hand geschrieben. Zunächst sind die „Einwürfe“ noch eher als meinungs­starke Kommen­tare zu lesen, die Tendenz geht aber eindeutig zur Glosse. 

Neben den Einwürfen taucht um die Jahr­tau­send­wende noch eine ganze Reihe neuer Formate auf:

Am Rande“ heißt ein sehr unre­gel­mäßig erschei­nendes Format, das sich in wenigen Sätzen kuriosen Bege­ben­heiten widmet.

Eine Glosse taucht im Kultur­teil, unter dem Titel „Initial“ auf.

Am 31.12.2003 erscheint erst­mals das „Oben Links“. Es steht an glei­cher Stelle wie die „Unsere Glosse“ von 1975. Das erste „Oben Links“ erzählt von einem Poli­zei­ein­satz, der ein demo­liertes, quakendes Kinder­spiel­zeug aus einem Malteser Altklei­der­con­tainer rettet.

In den 2010-er Jahren ziehen nach und nach apri­ko­sen­gelb hinter­legte Texte in den Regio­nal­teil ein. Es sind Kolumnen, die bis heute unter zahl­rei­chen, sich abwech­selnden Titeln und Autor*innen den Regio­nal­teil bereichern.

Ab dem 13.1.2016 beginnt sich der Text "Initial" im Kultur­teil mit dem "O‑Ton" abzu­wech­seln.

Am 21.11.2016 erscheint erst­mals „Land in Sicht“.

In all die Glossen sind unzäh­lige kleine Geschichten über und aus Hildes­heim einge­woben. unzäh­lige scheinbar unbe­deu­tende Momente, die liebe­voll und gekonnt in Glos­sen­form auf den Punkt gebracht wurden. Und sind nicht die kleinen Momente die eigent­lich Wich­tigen? W.O. schreibt dazu in einer Glosse am am 14. Januar 1970 in der HAZ: „Geht es Ihnen, werter Leser, manchmal auch so, daß ein ganz gewöhn­li­cher Alltag durch Klei­nig­keiten eine rosa Färbung erhält?“

ein Beitrag von Rosa Schnidrig

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