“Nach dem Auszug aus dem Elternhaus treten im jüngeren Erwachsenenalter Geschwisterbeziehungen zugunsten des Berufseinstiegs, des Eingehens einer Partnerschaft und der Familiengründung zunächst in den Hintergrund. Der Kontakt wird weniger intensiv”
Smolka/Passenheim, 2020, S. 48
Meine Schwester und ich haben momentan eine komplexe und schwierige Beziehung zueinander,
die mich tagtäglich beschäftigt. Deswegen wollte ich wissen, wie andere mit ihren
Geschwistern umgehen und vielleicht auch Tipps einholen, wie sie
in der Vergangenheit größere Konflikte gelöst haben. ~ Julie
Ich habe drei jüngere Schwestern. Durch den Beginn meines Studiums bin ich von ihnen weggezogen
und dadurch haben wir jetzt erheblich weniger Kontakt. Aufgrund der Entfernung und meines
neu entstehenden Lebens hier fällt es uns schwer, Kontakt zu halten. ~ Salomé
Daher haben wir uns und dann auch einige von euch gefragt:
Welches Verhältnis habt ihr mit euren Geschwistern? Was hat sich mit Beginn eures Studiums verändert und wie geht ihr damit um?
Wie kann und möchte man auch trotz großer Entfernungen und unterschiedlichen Lebensphasen in Kontakt bleiben und wertvolle Zeit miteinander verbringen?
Die Namen der Interviewpartner*innen haben wir dabei anonymisiert.
Es gibt unzählige verschiedene Formen von Geschwisterbeziehungen. Wir haben für diesen Beitrag einige individuelle Erfahrungen in Bezug auf die Gestaltung von Geschwisterbeziehungen, Herausforderungen und Umgangsweisen damit gesammelt und verschiedenen Themen zugeordnet:
Distanz
Die geografische Entfernung kann eine wesentliche Rolle spielen: Für manche Beziehungen ist die Distanz eine große Herausforderung, um guten Kontakt zu halten. Anderen Geschwistern wiederum hilft der größere Abstand, sich bewusst Zeit füreinander zu nehmen, wenn man zuvor zu nah beieinander war.
So war es beispielsweise zwischen Sara und ihrer jüngeren Schwester. In der Kindheit haben sie sich oft gestritten. Der Altersunterschied und die daraus resultierende Konkurrenz miteinander führten zu einem sehr angespannten Verhältnis. Mit dem Auszug wurde die jüngere Schwester zur Großen zu Hause, diese Konkurrenz trat also in den Hintergrund. Gleichzeitig sind beide jetzt mit der Schule fertig und befinden sich in der Ausbildungsphase, sodass die Lebensphasen jetzt näher aneinander sind.
Auch bei Milena ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Mit ihrem 2 Jahre jüngeren Bruder hat sie in der Kindheit wenig unternommen:
„Als ich ausgezogen bin, ist mir klar geworden,
MILENA
dass wir sonst die ganze Zeit nebeneinander hergelebt haben“
In der Jugend ist dann teilweise auch ein Konkurrenzgefühl zueinander entstanden. Mittlerweile arbeiten beide daran, sich wieder anzunähern und die Beziehung bewusster zu gestalten. Dabei (so Milena) hilft auch die Distanz von über 300 km, denn so nehmen sie sich bewusst Zeit füreinander, wenn sie sich sehen.
Auf der anderen Seite sagt sie aber, dass eine etwas geringere Distanz auch entspannter wäre, da so der Kontakt regelmäßiger und dementsprechend weniger geballt sein könnte. An dieser Stelle wirken sich also eher der Auszug, die daraus resultierende Distanz, und die jeweilige Entwicklung positiv auf die Beziehung aus und weniger die große Entfernung. Diese kann das Ganze auch verkomplizieren.
Durch die Distanz kann die Beziehung zu den Geschwistern auch kappen. Gründe können sein, dass die Mühe einseitig ist, dass Prioritäten sich verschieben, oder dass es schlicht Beiden schwerfällt, den Kontakt aufrechtzuerhalten.
Große Brüche, große Probleme bleiben unausgesprochen und es wird immer schwerer ins Gespräch zu kommen. Greta und ihre Schwester haben schon länger aufgrund eines großen Konflikts keinen guten Draht mehr zueinander. Greta würde sich gerne mit ihrer Schwester aussprechen, aber dazu hat sie nur alle paar Wochen die Möglichkeit, wenn sie in der Heimat ist. Diese großen zeitlichen Abstände hindern die Schwestern ihr Problem vernünftig auszuarbeiten und telefonisch ist es nicht möglich, weil Greta leider auch die Einzige in der Beziehung ist, die sich eine Veränderung wünscht.
Aber nicht immer sind es solche schlimmen Situationen. Oftmals ist die Verbindung einfach nicht so stark und viele sehen sich dann nur in der Heimat und haben sonst wenig Kontakt. Bei Lisa, die in ihrer Kindheit eine sehr enge Beziehung zu ihrer Schwester hat. Nun, da sie sich nicht mehr regelmäßig im Elternhaus sehen, fällt ihr auf, wie einseitig die Beziehung war. Sie nimmt sich eine Auszeit davon, immer diejenige zu sein, die ihre Schwester anschreibt und Treffen organisiert. Sie sehen sich ab und zu an Feiertagen in der Heimat, aber die Beziehung ist eher distanziert. Auf Nachfrage, ob Lisa sich wünscht, dass sich die Beziehung bessert, sagt sie:
“Es bricht mir jetzt nicht das Herz, dass wir uns nicht so viel sehen. Wir hassen uns ja nicht, wir sehen uns halt einfach nur nicht.”
LISA
Das hat uns nochmal gezeigt: Wer näher dran wohnt, kann sich häufiger sehen, eine größere Entfernung erfordert mehr Zeit und Planung. In gewisser Weise hilft die Distanz einigen, die Beziehung bewusster zu verstehen und zu gestalten. Am Ende kommt es auf die jeweilige Beziehung an, ob eine gewisse Distanz gut ist oder nicht.
Wie wird Kontakt gehalten?
300 Kilometer liegen zwischen dir und deinem Bruder, deiner Schwester. Wenn es mit der Uni, dem Nebenjob und deinen Freunden oder eigenen Projekten hinhaut, schaffst du es vielleicht einmal, alle zwei oder drei Monate deine Geschwister zu sehen. Was passiert in der Zwischenzeit? Telefonate, Textnachrichten, Videocalls. Das ein oder andere lustige Tiktok oder Meme.
In unserer Umfrage können wir sehen, dass die meisten vorwiegend kommunizieren, wenn sie sich tatsächlich sehen. Nichtsdestotrotz halten sich mehr als die Hälfte unserer Befragten per Chat oder mit Telefonieren auf dem Laufenden.
Aber nicht nur die Häufigkeit des Kontakts trifft eine Aussage über das Verhältnis: Auch das gegenseitige Interesse ist wichtig. Das ist besonders Milena aufgefallen, die mit ihrem Bruder jede Woche schreibt und ab und zu telefoniert. Es freut sie, dass sie sich für das Leben des anderen aufrichtig interessieren und ehrlich nachfragen. In letzter Zeit nähern sie sich wieder mehr einander an und dieses gegenseitige Interesse ist Teil dieser Entwicklung.
Sara wiederum kommuniziert mit ihren drei Schwestern eher selten, da zwei kein eigenes Handy haben und die Kommunikation so an die Handys der Eltern gebunden ist und die dritte (17 Jahre) kommuniziert über andere Apps, weshalb über WhatsApp einfach nicht so ein Austausch entsteht. Da ist dann die gemeinsame Zeit wichtig, die jedoch aufgrund der Entfernung begrenzt ist.
Lebensphasen und Altersunterschied
Ein großer Altersunterschied kann für ein distanziertes Verhältnis sorgen. Wenn die Geschwister 10 Jahre älter oder jünger sind, dann lebt man häufig in ganz unterschiedlichen Lebensrealitäten.
Lara, deren Schwester 8 Jahre älter ist, erzählt, dass ihre Schwester sich wenig für sie interessiert hat, als sie jünger war. Mit 18 hatte sie keinen Kopf für eine 10 jährige. Aber nun, da sie beide erwachsen sind, stehen sie sich näher und haben eben auch eine ähnliche Lebensrealität, über die sie sich austauschen können.
Beziehungen mit einem großen Altersabstand können selbstverständlich auch sehr eng sein, wobei wir da häufig den Eindruck bekommen, dass es einer Eltern-Kind-Beziehung gleicht. [1] Ältere Geschwister müssen häufig auf ihre Geschwister aufpassen und übernehmen Verantwortung für sie. Einigen mag diese Aufgabe gefallen und sie lieben es, sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern.
Ein kleines Meme: Von uns als große Schwestern 😉
https://vm.tiktok.com/ZGeUc8Cta
Sara hat diese Erfahrung auch mit ihren zwei jüngsten Schwestern gemacht. In beiden Fällen hat sie oft auch auf sie aufgepasst, wenn die Eltern keine Zeit hatten. Das hat ihnen auch eine schöne und qualitative Zeit miteinander ermöglicht und eine Verbindung aufgebaut, die jetzt leider durch die Entfernung nicht mehr so aufrechterhalten werden kann. Damals war Sara in einem Alter, in dem sie sich eher auf das Spiel mit Kindern einlassen konnte.
Auch Marie hat diese Aufgaben eigentlich gerne für ihre Eltern übernommen. Wenn aber die kleinen Geschwister sich streiten und sie ärgern, kann diese Art der Beziehung auch anstrengend und belastend sein. Für sie stellt die Pubertät ihrer Geschwister eine Herausforderung dar:
“Ich will das nicht einseitig darstellen, aber sie provoziert jeden und ich bin extrem harmoniebedürftig.”
MARIE
Mit der Zeit kann sich das aber auch wieder ändern, wenn die jüngeren Geschwister älter werden und die Lebensphase wieder ähnlicher ist.
Welche Rolle spielen Gemeinsamkeiten?
Wenn meine Schwester oder mein Bruder das gleiche Hobby hat wie ich, dann ist das Risiko groß, dass es zu einem Konkurrenzkampf kommt. Sie möchten besser malen, reiten oder tanzen können. Das führt bei vielen zu Streitereien. Wenn sich dann schließlich die Wege durch einen Auszug trennen, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass diese Form des Streitens eher aufhört, weil man sich nicht mehr tagtäglich vergleichen kann.
Wenn jedoch das Glück besteht, dass solch ein Konkurrenzdenken nie vorhanden war, dann kann man froh sein, dass man eine Person hat, mit der man sich über seine Interessen austauschen kann.
Anna fand es toll, sich mit ihrer Schwester über Filme und Bücher unterhalten zu können, zusammen zu musizieren und ab und zu gemeinsam auf ein Konzert zu gehen. Einige von euch haben uns sogar berichtet, dass sie sich gegenseitig motivieren – zum Beispiel ihr Instrument zu üben. Gemeinsame Interessen geben also mehr Möglichkeiten für gemeinsame Aktivitäten. In den Umfragen haben viele berichtet, dass sie die Zeit mit ihren Geschwistern gerne mit Gesellschaftsspielen, Videospielen oder auch Spaziergängen verbringen. Es sind dementsprechend nicht immer spezielle Hobbys, die man teilt, sondern auch häufig Familienaktivitäten, die einen näher bringen.
Was Gemeinsamkeiten angeht, bieten nicht nur gleiche Interessen Gesprächsstoff, sondern auch ähnliche oder eben ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Anna ist eine harmoniebedürftige, eher introvertierte Person, wohingegen ihre Schwester allgemein sehr extrovertiert und streitfreudig ist. Nichtsdestotrotz haben sie eine sehr gute Beziehung, weil ihre Schwester sich ihr gegenüber auch eher harmoniebedürftig verhält. Dahinter stecken viele Jahre ihrer Kindheit und Jugend, in der sie aufgrund von familiären Problemen zusammengehalten haben.
Fazit und Tipps
Die Beziehung zu den Geschwistern ist immer sehr unterschiedlich und hängt von verschiedenen Faktoren ab – sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenenalter.
Einige würden ihre Beziehung, wenn sie denn eine gute haben, als Freundschaft bezeichnen. Ein Ausdruck, den wir ganz besonders schön finden, ist der Begriff “Verbündete”. Als Geschwister durchsteht man häufig viele schwierige Lebensphasen und dann ist es gut, wenn man jemanden an seiner Seite hat.
Das Verhältnis kann aber auch ganz anders sein, wenn man nicht auf einer Seite steht, sondern durch Vergleich, Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Leistung, oder einen großen Altersabstand unterschiedliche Rollen innerhalb der Familie und miteinander einnimmt.
Manchmal ist tatsächlich der Punkt erreicht, wo man nichts mehr machen kann, keine Kraft mehr hat und abwarten muss, bis sich die andere Seite bemüht. Lea versucht in zeitlichen Abständen auf ihre Schwester zuzugehen und ein offenes Gespräch zu beginnen. Es ist ein langer Prozess und wie eine andere Kommilitonin mitteilte, kann dieser sich auszahlen.
Bei ihrer Schwester war die Situation die, dass obwohl sie beide Erwachsene sind, trotzdem alte Muster immer wieder hochgekommen sind. Muster, die eine Schwester sehr verletzt haben. Sie haben offen und über einen langen Zeitraum darüber geredet und es reflektiert und tatsächlich schafften sie es, diese Muster aufzulösen.
Von den Interviewpartner*innen wurden folgende Erkenntnisse formuliert, die wir an dieser Stelle gerne teilen möchten:
- Versucht, die gemeinsame Zeit wertzuschätzen. Denn mit dem Erwachsenwerden werden andere Beziehungen im Leben erstmal wichtiger und die Geschwister treten häufig in den Hintergrund.
- Falls es möglich ist, sollte man sich um eine ehrliche Kommunikation miteinander bemühen.
- Gleichzeitig sollte man sich nicht unter Druck setzen, nur wegen der Verwandtschaft besonders viel Kontakt zu haben. Wenn es gerade nicht dran ist, ist es nicht dran.
- Vielleicht kann man es auch ein bisschen wie mit der Gestaltung von Freundschaften sehen: man kann selbst wählen, welcher Kontakt und wie viel einem gut tut.
- Die Beziehung zu den Geschwistern ist ein besonderes Verhältnis: man hat sie sich nicht ausgesucht und gleichzeitig viel miteinander erlebt und durchgemacht.
- Durch die Position in der Familie nimmt man in der Kindheit bestimmte Rollen ein. Im Erwachsenenalter kann man diese vielleicht nochmal reflektieren und die eingenommenen Rollen aus der Kindheit auch ablegen und verändern.
Anmerkung:
Wir möchten aber auch anmerken, dass wir weder mit der Umfrage noch mit den Interviews eine repräsentative Datengrundlage haben. Beispielsweise sind die Aussagen in diesem Beitrag vorrangig von weiblichen Personen. Für männliche oder Personen diversen Geschlechts kann das auch nochmal anders sein. Daher würden wir uns sehr über weitere Erfahrungsberichte freuen. Schreibt doch gerne eure Erfahrungen in die Kommentare!
Vielen Dank an alle, die uns bei der Recherche unterstützt haben!
[1] vgl. auch: Altersunterschied bei Kindern: Große und kleine Geschwister | kizz (herder.de)Sonstige Quellen:
Smolka, A., & Passenheim, L. (2020). Geschwisterbeziehungen im Erwachsenenalter: ein
Überblick. (ifb-Materialien, 3-2020). Bamberg: Staatsinstitut für Familienforschung an der
Universität Bamberg (ifb). Link: ssoar-2020-smolka_et_al
Geschwisterbeziehungen_im_Erwachsenenalter_ein_Uberblick.pdf (zuletzt aufgerufen am
24.06.2024)
Ein Beitrag von Salomé Priebe und Julie Hofmeister,
veröffentlicht am 08.07.2024