Der Große, überparteiliche Zeitungsvergleich
Süddeutsche Zeitung vs. BILD-ZeitungGucci, Gestank und assoziative Safety-Suits
Was an der Spitze eines jeden Karriereplans von Kulturjournalismusstudierenden steht, ist klar: für das Feuilleton schreiben. Bleibt also nur noch die Frage: für wessen Feuilleton denn? Vielleicht für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung? Oder für das Feuilleton der BILD-Zeitung? Hat die BILD-Zeitung überhaupt ein Feuilleton?
Fragen über Fragen. Um die Entscheidung über die zukünftige Arbeitgeberin zu erleichtern, soll hier zwischen der Süddeutschen und der BILD-Zeitung ein Vergleich gezogen werden, der in seiner assoziativen und meinungsaufgeladenen Polemik Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
DER GROSSE, ÜBERPARTEILICHE ZEITUNGSVERGLEICH untersucht, wer die beiden Protagonistinnen SZ und BILD sind, wie man sie lesen soll und – wenn man sie denn liest – was da so steht.
1. WER UND WARUM? Eine kurze Vorstellung
Die Süddeutsche Zeitung
Für das Volk
Die Süddeutsche Zeitung wurde am 6. Oktober 1945 geboren. Sie hat eine verkaufte Auflage von etwas mehr als 300 000 Exemplaren.
Die Süddeutsche zeichnet sich durch ihr umfangreiches Feuilleton aus. Im SZ-Redaktionsstatus steht, dass "freiheitliche, demokratische Gesellschaftsformen nach liberalen und sozialen Grundsätzen" erstrebt werden. Im Sinne der Presse als die "Vierte Gewalt" scheint die Süddeutsche Zeitung also nur der griechischen Göttin Veritas und der lieben Demokratie Rechenschaft schuldig zu sein. Eigentlich.
Die Artikel der Süddeutschen Zeitung setzen, um sich vor Meinung und Polemik zu schützen, auf Safety-Suits aus Assoziationen.
Die Bild-Zeitung
Für die normalen Menschen
Am 24. Juni 1952 wurde die BILD-Zeitung geboren. Heute ist sie mit über einer Millionen verkaufter Auflage die auflagenstärkste Zeitung Deutschlands.
Sie gehört zu den Boulevardmedien, das heißt, sie setzt auf emotionale Themen und auf reißerische Ästhetik. In einer 2020 auf Amazon veröffentlichten Serie über die BILD erklärt ein Mitglied der Redaktion ihr Vorgehen als "nach dem Kern der Sache greifen und diesen dann möglichst groß aufblasen". Meinung und Fakten gehen hier Hand in Hand.
Die Artikel der BILD-Zeitung sind so konzipiert und formuliert, "dass auch normale Menschen es verstehen.", so Reporter*innen in Interviews der Serie BILD.Macht.Deutschland?.
2. WIE LIEST MAN EINE ZEITUNG?
(SZ) Möglichkeit 1: einmal schnell Durchblättern
Einmal schnell durchblättern, Überschriften überfliegen und der höchsten Pflicht aller Kultur-Studierenden nachkommen: sagen, dass man es interessant findet. Dann schnell zu den Kreuzworträtseln, sich freuen, dass man den Namen der griechischen Göttin für Gerechtigkeit kennt, ein paar Antworten googeln, feststellen, dass man den Namen der römischen Göttin eingetragen hat und die griechische Mythologie offenbar doch nicht so gut kennt, wie man meint.
(BILD) Möglichkeit 1: einmal schnell durchblättern
Durchblättern, wütend werden, Kreuzworträtsel lösen, und dann feststellen, dass man das, was es zu gewinnen gibt, im Leben nicht brauchen kann.
(SZ) 2: die Kolumnen
Das Streiflicht lesen, die Zusammenhänge von griechischer Mythologie, Capital Bra, Kanzlerkandidat*innen und Gockeln auf dem Misthaufen erfahren, dabei wissend schmunzeln.
Das "Streiflicht" ist eine seit 1946 täglich auf der Titelseite erscheinende Glosse, die sich, nach ihrem "Gründer" Franz Josef Schöningh als „eine Art Leuchtturm im Sturmgebraus der täglichen Hiobsbotschaften“ verstehen lässt. Das "Streiflicht" hat einen Umfang von 72 bis 74 Zeilen.
(BILD) 2: Die Kolumnen
Post von Wagner lesen, zustimmen, sich verstanden und wütend fühlen.
Die "Post von Wagner" findet sich täglich auf der zweiten Seite der BILD-Zeitung und widmet sich in Briefform dem Thema des Tages. Franz Josef Wagner ist Chefkolumnist beim Axel-Springer-Verlag und erhielt für "Post von Wagner" 2002 den Journalistenpreis "Goldene Feder".
(SZ) 3: die werbung
Die schönen Werbefotos ansehen, von viel Geld, Bio Baumwolle und Gucci Handtaschen träumen. Kurz darüber nachdenken, sich die Gießkanne in ausgefallenem aber praktischem Design für 50 Euro zu kaufen. Was wohl die eigenen Freunde dazu sagen würden? Würden sie Augen machen, neidisch sein?
(BILD) 3: WERBUNG
Grelle Werbefotos ansehen, überlegen, ob man doch vielleicht mal bei Lotto mitspielen sollte, Preise bei Lidl, Netto, Aldi und Penny vergleichen, und finden, dass Fleisch und Plastikverpackungen einfach nicht sehr fotogen sind.
(SZ) 4: ganz lesen (wollen)
Ganz lesen wollen, in der Hälfte aufhören, denken, dass die meisten Artikel ja auch noch morgen spannend sind.
(BILD) 4: Ganz lesen (wollen)
Ganz lesen, den Kopf schütteln, eine emotionale Achterbahn hinter sich haben und den Rest vom Tag über Heino, seine Erbschaft, einen Mord irgendwo in Deutschland und das für 50 000 Euro versteigerte Fahrrad von Prinzessin Diana nachdenken.
3. HAFTI & HEINO: Auf wen welche Zeitungen ein Loblied singt und warum
Ach, es ist eine unübersichtliche und diffuse Zeit, unsere Zeit, einzig die Technik weiß, wo sie sich befindet: im unaufhaltsamen Fortschritt. Das wusste schon Günter Eich, der für seine Zeit (1932) das Telefonkabel und den Dynamo als bezeichnend empfand. Doch wusste Günter Eich auch, dass es schier unmöglich ist, „dem Gefühl, dem Wissen und dem Wollen aller“ zu entsprechen, wie es einst Flemings Kirchenlieder zu tun vermochten. Ach, Fleming, zwar werden deine Kirchenlieder noch hier und da gesungen, doch welche neuen Lieder werden noch bestehen? Es wimmelt ja nur so von Eintagsfliegenkünstlern, von Erfolg über Nacht, sprichwörtlich. Welchen Musikern schenkt man heute noch sein Ohr? Wer ist es wert, über die vielen Klicks auf YouTube hinaus beachtet zu werden?
Die BILD hat eine Entscheidung getroffen: ihre Beachtung gilt Heino. Wer ist Heino? Heino ist ein Schlagersänger mit Brille und blondem Haar. Heino regelte in den letzten Wochen sein Erbe und die BILD berichtete darüber in allen Facetten – laut und groß auf den Titelseiten. Auch sein Stammbaum wurde bei dieser Gelegenheit schön grafisch in Szene gesetzt.
Die SZ hat eine Entscheidung getroffen: Hafti, oder besser Haftbefehl, findet regelmäßig ein etwas schüchternes Loblied im Feuilleton auf sich und seine Rapkünste gesungen. Dort wird dann seine kreative, tausendartige Benennung von Kokain gelobt und sein reichhaltiges, frauenverachtendes Vokabular gerügt. Dort wird seine starke und präzise, höchst atmosphärische Lyrik gelobt, seine Brüllerei, die Beats, und und. In Haftbefehls neuem Schwarzen Album lassen sich Zeilen finden wie „Die Italienische Mode/ die Tiefkühlkost/schief ist die Sohle von mein’ Classic Reebocks aaah“ und „Trage die Jeans von Boss/ und rieche nach Gosse.“ Die Süddeutsche Zeitung müsste nicht in den verwirrenden Sphären der Frage danach wühlen, was gute Lyrik, was guter Rap ist. Sie könnte sich schlicht mit dem Kommentar zufrieden geben, dass sie sich durch den Inhalt der Texte, nämlich die Italienische Mode und die Jeans von Boss, durchaus angesprochen und verstanden fühlt, und, dass davon ausgegangen wird, den Leser*innen gehe es ähnlich. Warum sonst sollte die Werbung rund zur Hälfte aus Designermode bestehen? Auffallend in den Zeilen aus „Wieder am Block“ ist jedoch die krasse Kombination von Italienischer Mode und Tiefkühlkost, vom Geruch der Gosse mit den Jeans von Boss. Die Kombination zeigt Widersprüche, Gegensätze, und wie sie doch nebeneinander und miteinander stehen können. Oder es zumindest einfach tun.
Kann die Süddeutsche Zeitung das auch? Elitäre Vibes mit bodenständiger Billigkeit verbinden? Wenn sie es denn könnte: warum zeigt die Süddeutsche dann keine Tiefkühlkost? Möchte sie sich nicht mit ihr solidarisieren? Oder essen die Leser*innen der SZ etwa keine solche Kost? Ich esse sie durchaus, ich fühle mich ihr zutiefst verbunden. Von Boss und Gucci aber fühle ich mich weit entfernt.
Ich wünsche mir also von der lieben Süddeutschen Zeitung ein etwas tiefkühlköstlicheres Image. Warum darf ich denn nicht wissen, was es morgen bei Netto im Angebot gibt? Oder zumindest bei Denn’s? Ich bin mir sicher, dass auch einfache Lebensmittel höchst ästhetisch und werbetauglich in Szene gesetzt werden können. Und egal wie praktisch sie auch ist, die Designergießkanne kommt mir nicht ins Haus!
4. WIE WIRD BERICHTET?
Literaturwissenschaftler*innen zerbrachen sich Jahrhunderte lang den Kopf darüber: Was kann geschriebene Sprache? Kann sie die Welt abbilden? Die Antwort ist hauptsächlich Nein, und ein bisschen Ja. Sprache ist, da sie aus Buchstaben und Grammatik besteht, immer zeichenhaft. Mit diesen Zeichen wird dann das nachgebaut, was für wichtig gehalten wird. Und an diesem Punk wird Sprache immer selektiv bleiben und deshalb niemals wirklich neutral sein.
Da Zeitungen auch aus Buchstaben und Grammatik bestehen, gilt für sie das gleiche Prinzip: Wahre Neutralität bleibt unerreichbar. Aber wer sagt dann, dass Neutralität überhaupt erwünscht ist?
Wenn die Süddeutsche Zeitung mich eins gelehrt hat, dann ist es, dass an verbildlichenden, kontextualisierenden Assoziationen nicht gespart werden darf. Im Gegenteil: Guter SZ-Journalismus zieht aus solchen Assoziationen seine Stimme, seine Kraft, seine Gewitztheit, und auch die, für guten Journalismus unabdingbare Distanz zur Sache. Ein Netz aus Assoziationen, die skurrile Vergleiche ziehen und eine seltsam sinnstiftende Absurdität kreieren, sind der Schutzanzug aller Journalist*innen, die sich vor klarer Meinungskundgebung scheuen.
Der Fairness wegen ist hier anzumerken, dass die Assoziationsnetze nur dort auftauchen, wo es nicht in erster Linie um möglichst neutrale und sachliche Berichterstattung geht. Die assoziativen Safety-Suits sind wohl der Versuch, über die faktische Berichterstattung hinaus zu gehen, ohne sich klar für oder gegen positionieren zu müssen.
Es fällt auf, dass die Bildzeitung es keineswegs für notwendig hält, sich solcher Kunstgriffe zu bedienen. Die Bild weiß am besten von allen Bescheid und spart, wo die SZ ihre Artikel mit Assoziationen schmückt, nicht mit Meinung und Polemik.
„BILD ist keine zahme Zeitung. Weder in ihren Themen noch in ihrer Gestaltung. Weder in ihrer politischen Haltung noch in ihrer Gestaltung.“ So steht es in einer 1965 vom Springer Verlag herausgegebenen Analyse der BILD-Zeitung.
Aber was hat dann das Wort Überparteilich auf der Titelseite verloren? Es steht neben Unabhängig unter den großen weiß auf roten Lettern BILD als Beschreibung der Positionierung, die man zu erwarten hat. Dieses Überparteilich gab der 1972 veröffentlichten kritischen Analyse der BILD-Zeitung von Erich Küchenhoff (u. a.) die nötige Angriffsfläche zur Behauptung, die BILD missbrauche ihren Status, mehr zu sein, als ein simples Boulevard-Unterhaltungsblatt.
Was meint also dieses Überparteilich? Es bedeutet, über den Parteien zu stehen, von ihnen unabhängig zu sein. Mich erinnert der Begriff sehr an Übersicht. Darüber stehen heißt auch, darüber erhaben sein, was wiederum mit sich bringt, dass man genau weiß, worüber man denn erhaben ist. Man muss es erst einmal gehabt haben, überwunden haben, um dann darüber erhaben zu sein.
Nachdem ich eine Woche lang täglich die BILD-Zeitung gelesen habe, scheint mir die Sphäre der BILD-Nachrichten sich nicht in einem Zustand der Überwindung von parteilichen Ordnungen zu befinden. Es ist eher eine subversive Haltung, eine, die lieber zu Vereinfachung, Polemik, Unwissenheit und Nicht-Information neigt als zu einer neutralen vielseitigen und damit überparteilichen Berichterstattung.
Ich plädiere deshalb dafür, Überparteilich mit Unterparteilich auszutauschen. In den Texten und auch in den Themen klingt keine Übersicht durch, sondern eine Wut von unten. Die Politik, die Mächtigen, das sind die da oben, die das arme Volk mit Füßen treten, ohne es überhaupt zu bemerken. Keine Frage also: Unterparteilich ist das Wort.
Es gäbe bestimmt noch viel zu sagen über die beiden Protagonistinnen, über die BILD vielleicht ein wenig mehr als über ihre Münchner Verwandte. Denn, neben einer acht Folgen langen Serie auf Amazon, reihen sich die kritischen Berichte, Analysen und Enthüllungen über die wilde BILD. Die Süddeutsche dagegen scheint recht zahm, es lassen sich hauptsächlich Loblieder über sie finden, mit Ausnahme des einen: Birk Meinhardt veröffentlichte ein kritisches Buch über seine Zeitung, ähnlich dem Journalisten Günter Wallraff, welcher die BILD unter falschem Namen von innen kennenlernte und im Anschluss kritisch darüber berichtete. Nur gibt es da den einen und nicht gerade feinen Unterschied, dass Meinhardt lange, treu und stolz seiner Zeitung gedient hatte, bis ihm schließlich Zweifel kamen. Über die beiden Zeitungen wurde also schon von vielen Menschen viel gesagt, weswegen mir jetzt nur noch eines bleibt: der Versuch einer Empfehlung. Aber was ist das schon, eine Empfehlung? Bevormundung und Beeinflussung, und das Wissen darum, wem man denn was empfiehlt. Bevor ich mich also in assoziativen Netzen verfange oder den falschen Kern aufblase, setze ich hier lieber einen Punkt.
Text und Bilder von Rosa Schnidrig