FACHFREMD

In dieser Reihe begeben wir uns in Diszi­plinen, die denen des Fach­be­reichs 2 fern sind. Man muss ja nicht immer über Theater reden.

geopo­litik

In Arzach wurde der Krieg einge­läutet. Falls du davon bisher nichts gehört hast, liegt das nicht an der Relevanz. 

Der Schau­platz ist eine kleine Region zwischen Arme­nien und Aser­bai­dschan, welche sich seit Jahren darüber streiten, wer ein Anrecht auf das Land hat. Aser­bai­dschan will, dass die arme­ni­schen Truppen aus den besetzten Gebieten verschwinden, Arme­nien will, dass Arzach, in dem vorwie­gend Armenier*innen leben, von Aser­bai­dschan losge­löst wird. Wäre wohl nicht rele­vant genug, wenn nicht die Türkei und Russ­land auch invol­viert wären.

Meine Perspek­tive möchte ich direkt trans­pa­rent machen. Durch Verwandte und Medien ist meine Posi­tion eine arme­ni­sche. Ich habe keinen Kontakt nach und keinen Zugang zu Aser­bai­dschan. Dies ist weder objek­tive Ausein­an­der­set­zung, noch poli­ti­sche Analyse, sondern privater Eindruck.

 

Warum schreibe ich darüber? 

Um in einer deut­schen Klein­stadt Aufmerk­sam­keit auf dieses Gebiet zu lenken, um andere Aufmerk­sam­keit darauf zu gene­rieren als in den Nach­richten, um eine im Ausland aus reinen Infor­ma­tionen bestehende Realität plas­ti­scher zu machen. 

Ich möchte keinen live­ti­cker der neuesten Ereig­nisse bieten, dafür wird das nicht zeitnah genug veröffentlicht. 

Dies ist der Blick der Diaspora, der sich manchmal selbst bloß aus medialen Infor­ma­tionen speisen kann. 

Dies ist auch die Möglich­keit einer Stim­mungs­auf­nahme. Eine Meinung kund­zutun, wer in diesem Streit Recht hat, möchte ich mit diesem Artikel so gut es geht vermeiden.

Seit meiner Kind­heit war Berg­ka­ra­bach ein Thema, wenn auch kein großes. 

Ich wusste, dass es diesen Ort gibt, dass ein Freund meines Vaters in den 90ern von diesem Ort aus nach Deutsch­land emigrierte, über die Halb­glatze gekämmte Haare hatte und schmerz­lich über die Region und einen unlös­baren Konflikt sprach- und zwar in einem ganz anderen Dialekt als mein Vater. Doch wenn man ins Ausland aufbricht, über­schatten andere Sorgen den Alltag, auch wenn der Ort nie loslässt durch stän­digen Kontakt zu den Verwandten oder die unter­schwel­lige Verhei­ßung der Rückkehr. 

 

Das Gebiet, von Beginn an in poly­eth­ni­scher Zusam­men­set­zung, hat stets einen Wandel erlebt. Sein „Besitz“ wurde ab dem 7.Jahrhundert zwischen arme­ni­schen, musli­mi­schen und russi­schen Erobe­rern und Rück­erobe­rern hin- und herjon­gliert.* Nachdem die Region von der sowje­ti­schen Groß­macht einver­leibt wurde, spuckte sie sie nach ihrem Zerfall auf aser­bai­dscha­ni­scher Seite wieder aus. Man bekriegte sich 1991–1994, was den geringen Anteil an Aserbaidschaner*innen in Arzach erklärt, da viele geflohen sind. Es ist seither unter arme­ni­scher Kontrolle + Armenier*innen machen nun 99,7 Prozent der Bevöl­ke­rung aus. Dass Arzach in den 1990ern seine Unab­hän­gig­keit verkün­dete, wurde von Arme­nien nicht aner­kannt, um den Konflikt nicht weiter zu verschärfen.

*Seit 2017 heißt Berg­ka­ra­bach zwar offi­ziell Repu­blik Arzach, es aber im Sprach­ge­brauch so zu nennen, ist für mich gleich­zeitig auch State­ment, denn der arme­ni­sche Name ist zurück­zu­führen auf eine Zeit, in der das Gebiet zum arme­ni­schen Reich gehörte. Beide Lager bestehen darauf, zuerst dort gewesen zu sein, beide Lager haben aber auch unter­schied­liche Auffas­sungen von der Geschichte. Die Propa­ganda gegen die jeweils anderen ist groß, was eine Kriegs­be­reit­schaft in der Bevöl­ke­rung natür­lich anheizt.

Sollte die arme­ni­sche Seite die Kontrolle verlieren, werde Arzach das gleiche Schicksal* zuteil, so mein Vater, wie der Auto­nomen Repu­blik Nach­it­schewan. Auch diese Strei­tig­keit wurde von Stalin als Terri­to­ri­al­master und Groß­grund­be­sitzer zugunsten von Aser­bai­dschan (eigent­lich zugunsten von Atatürk, eigent­lich zugunsten von Stalin) entschieden. Im Laufe der Zeit gab es eine Abwan­de­rung beinahe aller Armenier*innen.

*Mein Vater meint in diesem Zusam­men­hang übri­gens auch eine ausmer­zende Verfol­gung der in Arzach lebenden Armenier*innen. Das klingt heftig, 

ist aber das Produkt latent mitschwin­gender arme­ni­scher Vergangenheit 

und wenn man den Umgang mit Kurd*innen und Jesid*innen als verfolgte Minder­heiten in Syrien oder der Türkei beob­achtet, nicht abwegig. Man muss nicht einmal so weit gehen: allein der akute Skandal um AfD-Spre­cher Chris­tian Lüth und sein Bedürfnis nach „Verga­sung“ zeigt, dass auch entspre­chende Macht­ha­bende in Deutsch­land ein solches Poten­zial bergen. Es geht in diesem Fall aber mitunter um die Angst vor mittel­barer Auslö­schung in Form arme­ni­scher Kulturgüter.

Das kollek­tive Gefühl: Arme­nien scheint umgeben von Feind­lich-Gesinnten. Als ich das erste Mal mit 11 Jahren dort war, fragte ich mit Blick auf den Ararat, Sehn­suchtsort und ewiges Bild­motiv arme­ni­scher Künstler*innen, ob wir dort hinauf­wan­dern könnten. Es wurde gelacht und erklärt, dass dieser Berg, der so greifbar nah scheint, und es einmal war, nicht ferner hätte sein können.


Buzz- und Trig­ger­wort Genozid; Teil eines Alpha­bets, dass arme­ni­sche Kinder als Trauma erben. 


Seit 1993 sind die Grenzen aufgrund des Kara­bach­kon­flikts und der türki­schen Soli­da­rität mit dem Aser­bai­dschan geschlossen. Voll­stän­dig­keits­halber sei erwähnt, dass der Berg so or so nur mit spezi­eller Erlaubnis zu besteigen ist. So baumelt er als ewiger Hohn vor der Nase so vieler, die ihn bei klarem Wetter und einer sonst sehr flachen Land­schaft gut im Blick haben und für die er oft aus reli­giöser Sicht eine große Bedeu­tung hat, da hier die Arche Noahs gestrandet sein soll. 

Soviel zur türki­schen Grenze, die Anfang des letzten Jahr­hun­derts inner­halb von 5 Jahren soviel näher gerückt ist. Die Grenze zu Aser­bai­dschan sitzt auf der akut bren­nenden Erde. Wobei die Türkei auch in dieser Geschichte wesent­lich ist und dem Aser­bai­dschan mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung zusi­chert, .. und bistro Taten folgen lässt.

Den teils unan­ge­nehm aufdring­li­chen Natio­na­lismus so mancher Armenier*innen erkläre ich mir mit Trauma, Trotz und Über­le­bens­willen des kleinen Knirps' zwischen Nach­barn, die keinen Bock auf ihn haben. Ihm wird echt keine Ruhe gelassen, was jetzt geschieht, wirkt drama­tisch ausge­drückt auch wie eine Kampf­an­sage an die Demo­kratie. Die Revo­lu­tion 2018 war für viele ein hoff­nungs­voller Umbruch — gerade eben des Auto­kraten entle­digt, um von den nächsten ange­griffen zu werden. Mit der Regie­rungs­über­nahme Paschin­jans, zuvor oppo­si­tio­neller Jour­na­list, und seiner Mitstreiter*innen hat sich langsam etwas getan, poli­ti­sche Gefan­gene wurden frei­ge­lassen, Macht­ha­bende enteignet, eine unab­hän­gige Justiz einge­führt, der Pres­se­frei­heit geht’s besser. Auf der anderen Seite das säku­lare Aser­bai­dschan, das als musli­misch geprägter Staat mit guten Verhält­nissen zu Israel selbst eine Sonder­stel­lung im Südkau­kasus einnimmt. 

Sie machen auch in Sachen Geschichts­schrei­bung beide ihr Ding. Wer soll zwischen den emotio­na­li­sierten und tenden­ziösen Meinungen zur histo­ri­schen Situa­tion des Ortes durch­bli­cken, wenn das Narrativ so sehr vari­iert? Im Chaos der Recherche bekomme ich auch eine neue Perspek­tive auf meine eigene Beeinflussung. 

Und vonseiten des Vaters der Vorwurf, mit dem Artikel nicht genug Stel­lung zu beziehen. 

Und gilt es das über­haupt zu vermeiden?

2017 sind Eltern und Schwester dann zum ersten Mal nach Berg­ka­ra­bach gefahren. Alle hätten ein "inof­fi­zi­elles" Visum bean­tragen müssen ‑ein loser Wisch- , außer meinem arme­nisch­päs­sigen Vater. Unbe­dacht sind sie losge­fahren. Die Grenz­kon­trolle: eine kleine Hütte, ein Zimmer­chen — der Zoll. Meine Mutter machte ein Foto von dem Berg dahinter, unten besagte Hütte. Sofort kamen arme­ni­sche Grenz­be­amte und sorgten dafür, dass sie das Foto umge­hend löschte.

Viel­leicht eine Spionin, die ukrai­ni­sche Mutter mit visa­losem Pass? In den 90ern kämpften unter anderem ukrai­ni­sche Söldner aufseiten von Aser­bai­dschan (das im Gegen­satz zu Arme­nien Kohlen hat, denn es verkauft Öl), viel­leicht kämpften sie nicht einmal nur aus ökono­mi­schen Gründen, ist doch ihr immer­wäh­render Oppressor Russ­land Arme­niens no1 Supporter. 

Dass dabei Russ­land an Arme­nien als auch an Aser­bai­dschan Waffen verkauft, ist kein Geheimnis. 

& dass Russ­land bisher nicht eingreift, könnte daran liegen, dass der vertrag­liche Schutz sich nur auf Arme­nien selbst bezieht, wovon das unab­hän­gige Arzach ausge­schlossen ist. 

[[Jedes Mal, wenn ein weiterer männ­li­cher Verwandter bald die Voll­jäh­rig­keit erreicht, ist die Sorge in der Familie groß, wenn davon berichtet wird, dass auch er im kommenden Jahr einge­zogen werden würde. Die Angst um den schwe­lenden Konflikt in Berg­ka­ra­bach, der jeder­zeit in groß ausbre­chen könnte – jetzt ist es soweit. Bei Menschen, die nach 2000 geboren wurden, asso­zi­iere ich unwill­kür­lich für kurze Zeit das Wort Baby, in den Nach­richten wird Name und Geburts­jahr der toten Soldaten vorge­lesen, viele 2001 geboren. Derweil in Deutsch­land können männ­liche Jugend­liche der arme­ni­schen Diaspora froh sein, wenn sie über­haupt keine Papiere haben, denn dieser prekäre Umstand bedeutet immerhin, dass sie nicht in den Krieg geschickt werden.]]

Ein Beitrag von Mariam Nazaryan

Um den medialen Bildern der Gegenwart//des Kriegs//der Zerstö­rung etwas entge­gen­zu­setzen, nicht aber um sie zu verdrängen, habe ich ein Video der ille­galen Tourist*innen von 2017, als Berg­ka­ra­bach zu Arzach wurde, beigefügt, zu sehen auf der nächsten Seite.