Kulturpraxis Kulturpraxis
  • Veranstaltungen
  • Kulturcampus
    • Kuwicloud
    • FAQs
    • Campus
    • Über uns
  • Fächer
    • Kulturpolitik
    • Kunst
    • Literatur
    • Medien
    • Musik
    • Philosophie
    • Pop
    • Theater
  • Projektsemester

kulturcampus.hi

Komm an den Kulturcampus der Uni Hildesheim! 🫶🌈🏰

Folge uns auf Instagram
  • Veranstaltungen
  • Kulturcampus
    • Kuwicloud
    • FAQs
    • Campus
    • Über uns
  • Fächer
    • Kulturpolitik
    • Kunst
    • Literatur
    • Medien
    • Musik
    • Philosophie
    • Pop
    • Theater
  • Projektsemester
Wo wir sind:

Größere Karte anzeigen
Kulturpraxis Kulturpraxis
Veranstaltung eintragen
Kulturpraxis Kulturpraxis Kulturpraxis
  • Veranstaltungen
  • Kulturcampus
    • Kuwicloud
    • FAQs
    • Campus
    • Über uns
  • Fächer
    • Kulturpolitik
    • Kunst
    • Literatur
    • Medien
    • Musik
    • Philosophie
    • Pop
    • Theater
  • Projektsemester
  • Literatur

Erzähltheorie in der Praxis

  • 8. Juni 2021
  • Kaja Sturmfels

Ein Beitrag von Kaja Sturmfels

Vorwort

Du denkst, es wäre mal an der Zeit, dich ein wenig über Erzähltheorie zu informieren? Du hast dich schon immer gefragt, ob Erzähltheorie auch praktisch eingesetzt werden kann? Dein neuester Prosatext hat irgendein Problem, aber du weißt partout nicht welches?
Dann bist du hier genau richtig!
Wie mit der letzten Frage bereits angedeutet, kann Erzähltheorie dafür verwendet werden, die Schwachstellen eigener (oder fremder, falls du deine Testlese-Skills etwas erweitern willst) Texte zu finden. Das funktioniert wirklich, ich habe es ausprobiert.
Und das Ergebnis dieses Ausprobierens findest du hier. Enthalten sind: Das Zerpflücken der Bemühungen meines Vergangenheits-Ichs (der Text ist schon ein paar Jahre alt), ein Rettungsplan und jede Menge erzähltheoretische Fachbegriffe.
Ich würde empfehlen, die Geschichte zunächst komplett durchzulesen und dann die Slides zu benutzen, um meine Kommentare anzusehen.
Viel Spaß!

Grundlegend:
1. Durch die Geschichte zieht sich das Phänomen des Weglassens.
2. Die Geschichte ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die sich gestalterisch unterscheiden.
3. Ein Fokus liegt auf dem Verhältnis zwischen Bild und Ton.
4. Im Verlauf der Geschichte wird immer weniger weggelassen.

Der zweite Abschnitt besteht aus autonomer direkter Rede Charlottes, sie wird zur intradiegetischen Erzählerin.
D.h. hier haben wir überhaupt kein Bild. Handlungen (bis auf den Erzählakt) werden lediglich angedeutet, z.B. verlässt Charlotte zum Schluss wahrscheinlich den Raum.
Statt Bild gibt es natürlich Ton – und somit Zeit, nahezu zeitdeckend.

Ein paar mehr Informationen werden gegeben, zum einen über den Mord, zum anderen darüber, dass jemand dabei ist, den Fall wie Sherlock Holmes aufzuklären. Dadurch werden aber auch neue Fragen aufgeworfen.

Bei den drei Punkten wird das zeitdeckende Erzählen verlassen, das ist eine Ellipse, bei der die Aussagen der anderen am Tatort anwesenden Personen weggelassen werden. Somit liegt der Fokus vollkommen auf Charlottes Schlussfolgerungen.
Distanz: So klein wie möglich.
Auch das passt für mich soweit.

Die gelb markierten Abschnitte sind Prolepsen und bestehen wieder aus autonomer direkter Rede, diesmal allerdings der Joannas (intradiegetische Erzählerin, zeitdeckend, kleine Distanz, wie gehabt). Es sind Aussagen, die sie nach Charlottes und Alex Danshams Verhaftung auf dem Polizeirevier tätigt, was aber hier noch nicht klar werden soll.

 

Neben anderen Dingen wird hier also auch der Gesamtkontext weggelassen, was (hoffentlich) Spannung erzeugt. Im Nachhinein sollen die Stellen außerdem Joannas Verhalten etwas plausibler machen. (Also, sie ist fasziniert von Charlotte, weshalb sie sich den Polizist*innen am Tatort nicht als Opfer eines Verbrechens zu erkennen gibt.)

Es ist die Frage, ob das den Leser*innen am Ende der Geschichte auch klar wird, da müsste ich halt testlesen lassen und u. U. noch einen dritten Abschnitt ganz an den Schluss stellen, aber das Motiv des Weglassens ist erstmal noch wunderbar präsent.

In diesem Abschnitt kommen Bild und Handlung zusammen, dafür fehlt der Ton. Alles konsequent beim Motiv des Weglassens. Was überhaupt nicht konsequent ist, ist die Erzählinstanz. An der Fokalisierung liegt das nicht, die ist im gesamten Text fixiert extern. Das Problem ist die Distanz, die schlagartig größer wird.

Hier wird zum ersten Mal das Präteritum verwendet, es liegt also späteres Erzählen vor, irgendjemand erzählt die Geschichte im Nachhinein. Das macht die Distanz vielleicht einen Tucken größer, aber ich halte den Effekt für minimal. Momentan fällt er jedenfalls garantiert nicht auf, da die Erzählinstanz auch plötzlich anfängt, ihre Gedanken mitzuteilen.

Plötzlich ist da jemand, der sich einen Beobachter vorstellt und der mutmaßt, dass das Telefonat Charlotte erfreut.
Nun spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass sich die Distanz im Verlauf eines Texts ändert, das kommt oft vor. Nur: Ist es hier sinnvoll? Um das zu beantworten, hilft es, sich die Frage zu stellen, wer denn eigentlich erzählt.

Das ist bei einer heterodiegetischen Erzählinstanz oft nicht ersichtlich, so auch hier. Tatsächlich habe ich mir das aber (für eine Fortsetzung) tatsächlich ausgedacht. Der Erzähler ist Joannas Bruder Liam, der die Abenteuer seiner Schwester hochspannend findet. Der Erzähler würde sich dann also als homodiegetisch entpuppen, aber viel wichtiger:

Er will sich raushalten. Das ist nicht seine Geschichte, das ist die Geschichte von Charlotte und Joanna (und er traut sich eindeutig nicht zu, in den Kopf von einer der beiden zu schlüpfen). Liams Vorstellungen und Mutmaßungen müssen also weg. Zumal sie eh keine Funktion hatten, sondern nur ein weiteres neues Element hinzugefügt haben, das der Text nicht tragen kann.

Charlotte

Eine geräumige Küche mit Esstisch.
Auf dem Tisch eine gläserne Kanne, leer, daneben eine Wasserpfütze.
Fliesenboden.
Blank geputzte Anrichten.
Einbauschränke.
Geschirrspüler.
Herd.
Waschbecken mit Putzutensilien.
Familienfotos, mit Magneten am Kühlschrank befestigt.
Eine Schachtel mit Reservemagneten neben dem Gewürzregal.
Zugang zu einem schmalen, düsteren Flur, ebenfalls gefliest.
Schräg in der Türöffnung liegend, die Beine in der Küche, den Oberkörper im Flur, Gesicht nach unten, eine Frauenleiche, Anfang 30, schlank, blonde Haare, weißes, langärmliges Baumwollkleid, den Kopf in einer Blutlache.

„Sie wurde vergiftet, Täter und Opfer kannten sich, standen sich wahrscheinlich nah, er hing eigentlich an ihr, aber das Resultat sehen Sie ja.“
…
„Oh kommen Sie, ist das nicht offensichtlich?
Die Wasserkanne. Den Tropfen an der Innenseite zufolge ist sie circa bis zur Hälfte gefüllt gewesen, an Tülle und
unterer Kante ist etwas abgesprungen, auf dem Tisch findet sich Glasstaub, also ist sie heruntergefallen und hat diese Lache hinterlassen, die aber nicht groß genug ist, um zur Füllhöhe zu passen. Ergo wurde die Kanne rechtzeitig wieder aufgerichtet, um nicht alles zu verschütten und das restliche Wasser landete in einem Glas.
Nirgendwo ein benutztes Glas, es gibt einen Geschirrspüler, also warum sollte sie es von Hand wieder abspülen, zumal die Spülbürste und das Geschirrhandtuch da drüben trocken sind. Das heißt, der Täter hat es mitgenommen und welchen anderen Grund gäbe es dafür, als dass es Gift enthalten hat?
Bleibt die Frage, warum die Kanne runtergefallen ist. Ganz einfach: Weil die Frau sie mit rechts hochgehoben hat. Sie hat ein angebrochenes Handgelenk, damit könnte sie kaum eine Gabel halten, geschweige denn eine massive Glaskaraffe.
Sie hätte schon beim Anheben merken müssen, dass es ihr zu schwer wird, warum nimmt sie nicht die andere Hand? Es gibt nur eine Möglichkeit: Der Täter hat sie gezwungen. Da ihr Kleid langärmlig ist und der Ärmel, bevor ich es getan habe, nicht zurückgeschoben war, konnte der Täter die Schwellung nicht sehen, also muss er von der Verletzung gewusst haben. Wollte er sie quälen? Das geht einfacher, nein, er wollte sie nicht leiden sehen, sondern etwas beweisen.
Das sieht man auch daran, dass er gegangen ist, bevor sie starb, der Durchschnittsmörder vergewissert sich doch, dass sein Opfer wirklich tot ist, oder nicht? Aber nein, vom Gift wird sie ohnmächtig und fällt aufs Gesicht, das austretende Blut bildet eine Lache, fast so breit wie dieser großzügig bemessene Flur, nur zu überwinden, wenn man darüber springt, so wie wir, allerdings haben die Kollegen von der Spurensicherung auch diesen grandiosen Scheinwerfer mitgebracht. Ohne den und von der anderen Seite konnte man das Blut bei diesen Lichtverhältnissen unmöglich sehen, niemand macht aus bloßer Vorsicht einen Satz, er hätte reintreten müssen. Ist er nicht, also früherer Abgang.
Tat ihm ihr Tod leid? Gut möglich, schließlich hat er auch aus Sentimentalität eines der Fotos am Kühlschrank mitgenommen: Hier hängt ein einzelner Magnet, genau mit dem Platz für ein weiteres Bild darunter. Die Frau war ordentlich, alles ist aufgeräumt, sortiert und geputzt, sie trägt sogar ihre Ärmel wie sie gehören, obwohl es wehgetan haben muss, den rechten über dem verletzten Handgelenk zurechtzuziehen. Einen übrigen Magneten hätte sie in die Schachtel zu den anderen getan, aber da ist er, mitten in der fröhlichen Fotosammlung, also hat der Täter eines mitgenommen. Um seine Identität zu verschleiern? Da wäre es weniger auffällig, es hängen zu lassen, denn es wird sich um eine belanglose Aufnahme handeln, wie beim Rest, nein, sie lag ihm am Herzen und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss einen Anruf tätigen. Schönen Tag noch.“

Ja, ich weiß. Perfekte Gelegenheit. Aber noch war es wie ein Spiel für mich, verstehen Sie?

Fünf Minuten zuvor, Hauseinfahrt:
„Entschuldigen Sie, wenn wir einen kurzen Blick auf den Tatort werfen dürften? Ich verspreche Ihnen, keine Spuren zu verwischen, im Gegenteil.
Unsere Namen sind übrigens Dr. Joanna Watson und Charlotte Holmes.“

Im nördlichen Teil der malerischen englischen Hauptstadt liegt eine Ansammlung zusammengewürfelter Mietshäuser. Eines davon verfügt über ein eigentümliches Klingelschild für eine Erdgeschosswohnung, denn anstatt eines Namens gibt es hier einen anderen Schriftzug: 221B Baker Street.
Dem Klingelschild den Rücken kehrend und aus genannter Wohnung kommend, traten am 4. Mai 2017 zwei Frauen nach draußen.
Ihre Erscheinung hätte unterschiedlicher nicht sein können: Die eine war groß, schlank und in einen eleganten schwarzen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen gekleidet. Sie hatte einen Dutt aus schokoladenfarbenen Haaren, eine gerade Haltung und einen federnden Gang, so als würde sie das Telefonat, welches sie über ein Smartphone in ihrer rechten Hand führte, höchst erfreuen.
Die andere war kleiner, ließ ihr kastanienbraunes Haar offen über die Schultern und somit über ihre Jeansjacke fallen und mühte sich ab, eine Position zu finden, in der ihr der dicke Wälzer, den sie hielt, nicht zu entgleiten drohte.
Einem Beobachter wäre es schwer gefallen, zu sagen, was der darauffolgenden Situation zugrunde lag: Als die größere Frau das Gespräch beendete, deutete ihr Gegenüber auf das Handy und vollführte eine ausladende Armbewegung.
Daraufhin klopfte die erste mit der flachen Hand auf das Buch, das die kleinere Frau umklammert hielt, zuckte jedoch im gleichen Moment mit den Schultern, zeigte in eine Richtung die Straße hinunter und marschierte davon. Die Zurückgebliebene verharrte einen Augenblick regungslos. Dann pfefferte sie das Buch in den Hauseingang und rannte der anderen nach.
Der Beobachter hätte sich nun, obgleich dieser Szene sicher neugierig geworden, dem Haus nähern und den Titel des Werkes lesen können, welches jetzt etwas zerknickt auf den Steinplatten lag.
Es war ein Telefonbuch.

[et_pb_divider divider_weight=“0px“ _builder_version=“4.9.4″ _module_preset=“default“ background_color=“#55B56
0″ height=“3px“ custom_margin=“||0px||false|false“ global_colors_info=“{}“]

Ja, natürlich. Total klar. Nur, eine gewisse Ähnlichkeit ist wirklich nicht abzustreiten, oder?

Als Charlotte und Joanna im zweiten Stock der Newton Street Nr. 8 ankamen, war Alex Dansham gerade dabei, sich umzubringen.
Ehe er sich versah, hatte Charlotte ihn von der Balkonbrüstung weggezerrt und mit Handschellen aus ihrer Manteltasche ans Heizungsrohr gekettet.
Joanna schüttelte energisch den Kopf, so als wolle sie damit ihre Denkblockaden zu den Ohren herausschleudern. „Was war das denn bitte?“, presste sie an die Detektivin gewandt hervor, „ist er der Mörder, oder wie?“
Charlotte, die gelangweilt an der Wand lehnte, verdrehte die Augen, „natürlich. Er ist der Bruder der Toten.“
Beim „Toten“ heulte der etwa 40-Jährige gequält auf. „Ich wollte sie doch nicht umbringen! Ich-“
„Jaja, pscht!“, Charlotte wedelte mit der Hand auf und ab, „versauen Sie mir nicht die Pointe! Also“, begann sie, indem sie sich von der Wand abstieß und in dem altmodisch eingerichteten Wohnzimmer auf und ab schritt, „nachdem ich die Nummer des Ehemanns ausfindig gemacht und angerufen habe-“
„Moment“, unterbrach Joanna mit zusammengekniffenen Augen, „Telefonbuch, okay, aber wie kamen Sie überhaupt auf den Ehemann?“
Charlotte seufzte wie ein Chemielehrer, der mitten in einem Vortrag über Elektronenpaarbindungen feststellt, dass er seinen Schülern nochmal erklären muss, was eigentlich Atome sind. „Das Haus ist zu groß für eine Person, außerdem hängen Hochzeitsfotos am Kühlschrank, zwar gibt es keinen Ehering, aber das ist auch nicht mehr unbedingt üblich. Natürlich ebenso wenig wie dass die Partner die gleichen Namen haben, doch ich schätzte die Frau so ein, dass sie den ihres Mannes annimmt und ich hatte recht.
Auf dem Klingelschild steht Lansbury und im Telefonbuch gab es die Handynummer von Juliette Lansbury – der Toten – und Michael Lansbury, ihrem Mann, ihr Bruder hingegen heißt Dansham. Dass die Handynummern drinstehen, hatte ich vermutet, weil ich im Haus keinen Festnetzanschluss gesehen habe –wer viel unterwegs ist, hat nicht mehr unbedingt einen. Aus der ungehaltenen Reaktion Michaels, als ich ihm sagte, dass es um seine Frau geht, schloss ich, dass die Ehe zumindest von seiner Seite aus nicht mehr gut läuft-“
Der am Boden sitzende Mann prustete los, „nicht mehr gut läuft?“, schnaubte er, „er hat-“
„Könnten Sie bitte die Klappe halten?“, fauchte Charlotte und funkelte ihn aus stahlgrauen Augen an, „ich bin noch nicht fertig.
Ich behauptete also, dass seine Frau glaubt, es wären einige ihrer Besitztümer aus dem Haus gestohlen worden und dass wir uns vorstellen könnten, eine Freundin würde dahinterstecken. Da er mich loswerden wollte und die meisten Männer in schlechten Beziehungen nicht gut auf die beste Freundin ihrer Frau zu sprechen sind, außer sie haben eine Affäre mit ihr, gab er mir ihre Nummer.“
Joanna runzelte die Stirn, „das heißt, Sie haben noch jemanden angerufen?“
„Ein Telefonbuch zu tragen, erfordert anscheinend höchste Aufmerksamkeit“, spöttelte Charlotte und überging die kleinere Frau, die nun in beleidigter Manier die Arme verschränkte, indem sie fortfuhr: „Ich habe mich wieder als Polizistin ausgegeben, es sei ein merkwürdiger Zwischenfall passiert, ob da jemand wäre, der Juliette gerne beschützen würde. So kamen wir zum großen Bruder, Alex. Sie sollten das Telefonbuch mitnehmen, falls sie nur den Namen sagt, aber sie hat mir auch die Adresse gegeben.“ Charlotte lächelte.
Joanna stemmte den Arm in die Seite, „das hätte man doch auch digital klären können!“
„Nein, hätte man nicht“, widersprach die Detektivin geistesabwesend, sie war vor einem Bücherregal aus dunklem Holz stehen geblieben und betrachtete ein Foto, welches lose auf einem der Bretter lag, „denn diesmal sollten Sie es nachschauen, wozu hat man schließlich eine Assistentin?“
Alex Dansham blickte verwirrt von einer zur anderen, Joanna kratzte sich am Kopf, „tja… Aber Moment, warum haben Sie nicht schon Michael nach dem Beschützer gefragt?“
„Weil er der ist, vor dem sie beschützt werden muss!“, riefen Charlotte und Alex Dansham wie aus einem Mund.
Letzterer konnte nun nicht mehr an sich halten und stieß mit hochrotem Gesicht hervor: „Er hat sie die ganze Zeit misshandelt, er ist ja auch ein Säufer, ihr gesamter Körper ist mit blauen Flecken übersäht. Ich wollte, dass sie mit ihm Schluss macht, aber nein, sie meint, sie liebt ihn und ich könne das nicht verstehen, was für ein blödes Geschwätz! Und letzte Woche, da kam ich abends noch auf einen Sprung vorbei und sah, wie er ihr das Handgelenk so umbog, dass es richtig geknackt hat! Also habe ich ihn beschimpft, was macht sie? Schmeißt mich aus der Wohnung raus!“ Der Mann atmete schwer und hatte die Hände zu Fäusten geballt, wie um seine Erinnerungen wegzuboxen.
„Also haben Sie Gift besorgt und ihr die Wahl gelassen: Entweder sie trennt sich von ihm oder sie trinkt“, schaltete sich Charlotte wieder ein, „vorher natürlich noch eine kleine Demonstration mit dem verletzten Handgelenk…“
„Ich hätte doch nicht gedacht, dass sie sich dafür entscheidet!“, schluchzte Alex Dansham und vergrub das Gesicht in den Händen. „Warum dann echtes Gift?“, wollte Joanna wissen.
„Ich weiß
es nicht“, flüsterte er, „ein Freund von mir ist Chemiker und ich war mit in seinem Labor – ich hab einfach was eingesteckt.“
„Gut“, Charlotte klatschte in die Hände, „dann hätten wir das geklärt“, sie schnappte sich die Schlüssel der Handschellen von der Kommode, auf der sie sie abgelegt hatte, „ich lasse Sie jetzt wieder frei.“
Joanna steckte sich einen Finger ins Ohr und drehte ihn herum, „sorry, was haben Sie gesagt, ich hab gerade verstanden, dass Sie den Mörder freilassen wollen.“
Charlotte blickte sie direkt an und deutete auf Alex Dansham: „Schauen Sie sich den Mann doch mal an, er wird nie wieder ein Verbrechen begehen und im Gefängnis geht er ein. Jetzt, wo wir ihn davor bewahrt haben, sich umzubringen, macht er vielleicht etwas aus seinem Leben. Und Juliette wäre sowieso gestorben, irgendwann hätte Michael sie versehentlich erschlagen“, sie kniete sich hin und nestelte an den Handschellen herum, „übrigens, wie fanden Sie meine Deduktionen?“
„Brillant“, antwortete ihre Ermittlungspartnerin ruhig und schlug die Detektivin mit dem Laptop nieder, den sie vom Couchtisch genommen hatte.
„Ich sagte ja“, murmelte Joanna, während sie sich Charlottes Kopfwunde besah, „digital ist besser.“
Alex Dansham gab ein ersticktes Quieken von sich, „Sie haben gerade meinen Laptop kaputt gemacht!“
„Wollten Sie nicht eben noch Suizid begehen? Was schert Sie da Ihr Laptop?“
„Ja, und“, stammelte der Mann, „sie haben diese Frau getötet!“
„Unsinn“, Joanna machte eine wegwerfende Handbewegung, „sie wird bald mit Kopfschmerzen wieder aufwachen, glauben Sie mir, ich bin Ärztin.“
Alex Dansham kauerte sich enger zusammen, „werden Sie mich jetzt auch niederschlagen?“
Joanna richtete sich auf und schüttelte den Kopf, „also Sie stehen ja mal wirklich unter Schock, oder? Sie sind mit Handschellen an die Heizung gefesselt, natürlich werde ich Sie nicht niederschlagen!“
Ihr Gegenüber schwieg. Joanna warf einen Blick zu den Schlüsseln in Charlottes Hand. Sie biss sich auf die Lippe, wandte sich jedoch schließlich ab und ging in den Flur, wo ein Festnetztelefon auf einem Beistelltischchen stand.
Joanna wählte.
„Hallo, Polizei? Ich bin Joanna Kober. Sie müssen sofort in die Newton Street Nr. 8 kommen und einen Mörder festnehmen, er heißt Alex Dansham. Und dann ist da noch eine Frau. Sie, na ja, sie hat eine Anzeige aufgegeben, sich eine Wohnung zu teilen und als ich zur Besichtigung kam, hat sie mich betäubt, mir Handy und Portmonee abgenommen und mich mit vorgehaltener Pistole gezwungen, ihr den Dr. Watson zu spielen. Ihren richtigen Namen weiß ich nicht, aber sie nennt sich Charlotte Holmes…“

Beim ersten Abschnitt handelt es sich um eine Pause, es vergeht also Erzählzeit, aber keine erzählte Zeit, es sind nicht einmal Verben vorhanden. Reine Bildbeschreibung, alles andere fehlt: Ton, Zeit und somit Handlung, Informationen.
Distanz: So klein wie möglich, Illusion von Unmittelbarkeit.
So weit, so gut.

 

In diesem Abschnitt redet wieder nur Charlotte, deshalb die orangene Markierung. Das ist das einzig neutrale, das ich über diesen Abschnitt sagen kann, denn hier ist so ziemlich alles falschgelaufen, was falschlaufen kann.

1. Es handelt sich um eine Analepse, die die Situation näher erklärt. Das läuft dem Weglassen-Motiv zuwider.
2. Der Abschnitt wirft noch etwas Neues rein (den Blick in die Vergangenheit) und ist zu allem Überfluss auch kurz, so viel Heterogenität auf so wenig Raum verträgt der Text nicht.

3. Der Abschnitt ist nicht nötig. Wie Joanna und Charlotte an den Tatort gelangt sind, lässt sich im letzten Abschnitt viel besser erklären, dort können auch die Nachnamen untergebracht werden, während gerade Joannas Vorname im zweiten Teil ohnehin besser aufgehoben ist, damit die Leser*innen früher von ihrer Existenz erfahren.

Im letzten Abschnitt kommt alles zusammen. Bild, Ton, Handlung, Auflösung. Vielleicht überwiegt bei den Leser*innen auch das Gefühl des Weglassens, schließlich wurde nicht geklärt, wie Charlotte so geworden ist, wie sie ist. Wäre auch okay. Was nicht okay ist, ist, dass die Erzählinstanz schon wieder derart präsent ist und das auch noch auf eine andere Art und Weise als beim vorherigen Abschnitt!

Jetzt mutmaßt sie nicht mehr, sie vergleicht. Vergleiche sind zwar sprachliche Mittel und gehören damit eher zur Rhetorik und Stilistik als zur Erzähltheorie, ich zähle sie aber gerne zur Stimme, weil sie die Erzählinstanz charakterisieren. Das wollen wir in diesem Fall genau nicht, die Vergleiche müssen also raus. (Zusammen mit einigen eigentümlichen Formulierungen…)

Spannend wird es bei den Namen. Plötzlich verwendet die Erzählinstanz welche, nicht nur die von Charlotte und Joanna, auch den von Alex Dansham, geht also über das, was ein*e Unbeteiligte*r wissen könnte, hinaus. Zuerst dachte ich, das geht nicht. Liam darf seine Gedanken nicht teilen, also auch nicht sein Wissen, oder?

Eigentlich passt das zum Weglassen-Motiv. Informationen waren die ganze Zeit Teil davon. Warum also nicht im letzten Abschnitt auch auf dieser Ebene subtil mehr Informationen teilen als bei den anderen Abschnitten? Es ist ja nicht so, als würde dadurch Charakter deutlich. Die Distanz wird etwas größer – aber es war ja auch nie das Ziel, die Distanz auf Null zu halten.

Charlotte

Grundlegend:
1. Durch die Geschichte zieht sich das Phänomen des Weglassens.
2. Die Geschichte ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die sich gestalterisch unterscheiden.
3. Ein Fokus liegt auf dem Verhältnis zwischen Bild und Ton.
4. Im Verlauf der Geschichte wird immer weniger weggelassen.

Eine geräumige Küche mit Esstisch.
Auf dem Tisch eine gläserne Kanne, leer, daneben eine Wasserpfütze.
Fliesenboden.
Blank geputzte Anrichten.
Einbauschränke.
Geschirrspüler.
Herd.
Waschbecken mit Putzutensilien.
Familienfotos, mit Magneten am Kühlschrank befestigt.
Eine Schachtel mit Reservemagneten neben dem Gewürzregal.
Zugang zu einem schmalen, düsteren Flur, ebenfalls gefliest.
Schräg in der Türöffnung liegend, die Beine in der Küche, den Oberkörper im Flur, Gesicht nach unten, eine Frauenleiche, Anfang 30, schlank, blonde Haare, weißes, langärmliges Baumwollkleid, den Kopf in einer Blutlache.

Beim ersten Abschnitt handelt es sich um eine Pause, es vergeht also Erzählzeit, aber keine erzählte Zeit, es sind nicht einmal Verben vorhanden. Reine Bildbeschreibung, alles andere fehlt: Ton, Zeit und somit Handlung, Informationen.
Distanz: So klein wie möglich, Illusion von Unmittelbarkeit.
So weit, so gut.

 

„Sie wurde vergiftet, Täter und Opfer kannten sich, standen sich wahrscheinlich nah, er hing eigentlich an ihr, aber das Resultat sehen Sie ja.“
…
„Oh kommen Sie, ist das nicht offensichtlich?
Die Wasserkanne. Den Tropfen an der Innenseite zufolge ist sie circa bis zur Hälfte gefüllt gewesen, an Tülle und unterer Kante ist etwas abgesprungen, auf dem Tisch findet sich Glasstaub, also ist sie heruntergefallen und hat diese Lache hinterlassen, die aber nicht groß genug ist, um zur Füllhöhe zu passen. Ergo wurde die Kanne rechtzeitig wieder aufgerichtet, um nicht alles zu verschütten und das restliche Wasser landete in einem Glas.
Nirgendwo ein benutztes Glas, es gibt einen Geschirrspüler, also warum sollte sie es von Hand wieder abspülen, zumal die Spülbürste und das Geschirrhandtuch da drüben trocken sind. Das heißt, der Täter hat es mitgenommen und welchen anderen Grund gäbe es dafür, als dass es Gift enthalten hat?
Bleibt die Frage, warum die Kanne runtergefallen ist. Ganz einfach: Weil die Frau sie mit rechts hochgehoben hat. Sie hat ein angebrochenes Handgelenk, damit könnte sie kaum eine Gabel halten, geschweige denn eine massive Glaskaraffe.
Sie hätte schon beim Anheben merken müssen, dass es ihr zu schwer wird, warum nimmt sie nicht die andere Hand? Es gibt nur eine Möglichkeit: Der Täter hat sie gezwungen. Da ihr Kleid langärmlig ist und der Ärmel, bevor ich es getan habe, nicht zurückgeschoben war, konnte der Täter die Schwellung nicht sehen, also muss er von der Verletzung gewusst haben. Wollte er sie quälen? Das geht einfacher, nein, er wollte sie nicht leiden sehen, sondern etwas beweisen.
Das sieht man auch daran, dass er gegangen ist, bevor sie starb, der Durchschnittsmörder vergewissert sich doch, dass sein Opfer wirklich tot ist, oder nicht? Aber nein, vom Gift wird sie ohnmächtig und fällt aufs Gesicht, das austretende Blut bildet eine Lache, fast so breit wie dieser großzügig bemessene Flur, nur zu überwinden, wenn man darüber springt, so wie wir, allerdings haben die Kollegen von der Spurensicherung auch diesen grandiosen Scheinwerfer mitgebracht. Ohne den und von der anderen Seite konnte man das Blut bei diesen Lichtverhältnissen unmöglich sehen, niemand macht aus bloßer Vorsicht einen Satz, er hätte reintreten müssen. Ist er nicht, also früherer Abgang.
Tat ihm ihr Tod leid? Gut möglich, schließlich hat er auch aus Sentimentalität eines der Fotos am Kühlschrank mitgenommen: Hier hängt ein einzelner Magnet, genau mit dem Platz für ein weiteres Bild darunter. Die Frau war ordentlich, alles ist aufgeräumt, sortiert und geputzt, sie trägt sogar ihre Ärmel wie sie gehören, obwohl es wehgetan haben muss, den rechten über dem verletzten Handgelenk zurechtzuziehen. Einen übrigen Magneten hätte sie in die Schachtel zu den anderen getan, aber da ist er, mitten in der fröhlichen Fotosammlung, also hat der Täter eines mitgenommen. Um seine Identität zu verschleiern? Da wäre es weniger auffällig, es hängen zu lassen, denn es wird sich um eine belanglose Aufnahme handeln, wie beim Rest, nein, sie lag ihm am Herzen und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss einen Anruf tätigen. Schönen Tag noch.“

Der zweite Abschnitt besteht aus autonomer direkter Rede Charlottes, sie wird zur intradiegetischen Erzählerin.
D.h. hier haben wir überhaupt kein Bild. Handlungen (bis auf den Erzählakt) werden lediglich angedeutet, z.B. verlässt Charlotte zum Schluss wahrscheinlich den Raum.
Statt Bild gibt es natürlich Ton – und somit Zeit, nahezu zeitdeckend.

 

Ein paar mehr Informationen werden gegeben, zum einen über den Mord, zum anderen darüber, dass jemand dabei ist, den Fall wie Sherlock Holmes aufzuklären. Dadurch werden aber auch neue Fragen aufgeworfen.

Bei den drei Punkten wird das zeitdeckende Erzählen verlassen, das ist eine Ellipse, bei der die Aussagen der anderen am Tatort anwesenden Personen weggelassen werden. Somit liegt der Fokus vollkommen auf Charlottes Schlussfolgerungen.
Distanz: So klein wie möglich.
Auch das passt für mich soweit.

Ja, ich weiß. Perfekte Gelegenheit. Aber noch war es wie ein Spiel für mich, verstehen Sie?

Die gelb markierten Abschnitte sind Prolepsen und bestehen wieder aus autonomer direkter Rede, diesmal allerdings der Joannas (intradiegetische Erzählerin, zeitdeckend, kleine Distanz, wie gehabt). Es sind Aussagen, die sie nach Charlottes und Alex Danshams Verhaftung auf dem Polizeirevier tätigt, was aber hier noch nicht klar werden soll.

 

Neben anderen Dingen wird hier also auch der Gesamtkontext weggelassen, was (hoffentlich) Spannung erzeugt. Im Nachhinein sollen die Stellen außerdem Joannas Verhalten etwas plausibler machen. (Also, sie ist fasziniert von Charlotte, weshalb sie sich den Polizist*innen am Tatort nicht als Opfer eines Verbrechens zu erkennen gibt.)

Es ist die Frage, ob das den Leser*innen am Ende der Geschichte auch klar wird, da müsste ich halt testlesen lassen und u. U. noch einen dritten Abschnitt ganz an den Schluss stellen, aber das Motiv des Weglassens ist erstmal noch wunderbar präsent.

Fünf Minuten zuvor, Hauseinfahrt:
„Entschuldigen Sie, wenn wir einen kurzen Blick auf den Tatort werfen dürften? Ich verspreche Ihnen, keine Spuren zu verwischen, im Gegenteil.
Unsere Namen sind übrigens Dr. Joanna Watson und Charlotte Holmes.“

In diesem Abschnitt redet wieder nur Charlotte, deshalb die orangene Markierung. Das ist das einzig neutrale, das ich über diesen Abschnitt sagen kann, denn hier ist so ziemlich alles falschgelaufen, was falschlaufen kann.

 

1. Es handelt sich um eine Analepse, die die Situation näher erklärt. Das läuft dem Weglassen-Motiv zuwider.
2. Der Abschnitt wirft noch etwas Neues rein (den Blick in die Vergangenheit) und ist zu allem Überfluss auch kurz, so viel Heterogenität auf so wenig Raum verträgt der Text nicht.

3. Der Abschnitt ist nicht nötig. Wie Joanna und Charlotte an den Tatort gelangt sind, lässt sich im letzten Abschnitt viel besser erklären, dort können auch die Nachnamen untergebracht werden, während gerade Joannas Vorname im zweiten Teil ohnehin besser aufgehoben ist, damit die Leser*innen früher von ihrer Existenz erfahren.

Im nördlichen Teil der malerischen englischen Hauptstadt liegt eine Ansammlung zusammengewürfelter Mietshäuser. Eines davon verfügt über ein eigentümliches Klingelschild für eine Erdgeschosswohnung, denn anstatt eines Namens gibt es hier einen anderen Schriftzug: 221B Baker Street.
Dem Klingelschild den Rücken kehrend und aus genannter Wohnung kommend, traten am 4. Mai 2017 zwei Frauen nach draußen.
Ihre Erscheinung hätte unterschiedlicher nicht sein können: Die eine war groß, schlank und in einen eleganten schwarzen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen gekleidet. Sie hatte einen Dutt aus schokoladenfarbenen Haaren, eine gerade Haltung und einen federnden Gang, so als würde sie das Telefonat, welches sie über ein Smartphone in ihrer rechten Hand führte, höchst erfreuen.
Die andere war kleiner, ließ ihr kastanienbraunes Haar offen über die Schultern und somit über ihre Jeansjacke fallen und mühte sich ab, eine Position zu finden, in der ihr der dicke Wälzer, den sie hielt, nicht zu entgleiten drohte.
Einem Beobachter wäre es schwer gefallen, zu sagen, was der darauffolgenden Situation zugrunde lag: Als die größere Frau das Gespräch beendete, deutete ihr Gegenüber auf das Handy und vollführte eine ausladende Armbewegung.
Daraufhin klopfte die erste mit der flachen Hand auf das Buch, das die kleinere Frau umklammert hielt, zuckte jedoch im gleichen Moment mit den Schultern, zeigte in eine Richtung die Straße hinunter und marschierte davon. Die Zurückgebliebene verharrte einen Augenblick regungslos. Dann pfefferte sie das Buch in den Hauseingang und rannte der anderen nach.
Der Beobachter hätte sich nun, obgleich dieser Szene sicher neugierig geworden, dem Haus nähern und den Titel des Werkes lesen können, welches jetzt etwas zerknickt auf den Steinplatten lag.
Es war ein Telefonbuch.

In diesem Abschnitt kommen Bild und Handlung zusammen, dafür fehlt der Ton. Alles konsequent beim Motiv des Weglassens. Was überhaupt nicht konsequent ist, ist die Erzählinstanz. An der Fokalisierung liegt das nicht, die ist im gesamten Text fixiert extern. Das Problem ist die Distanz, die schlagartig größer wird.

 

Hier wird zum ersten Mal das Präteritum verwendet, es liegt also späteres Erzählen vor, irgendjemand erzählt die Geschichte im Nachhinein. Das macht die Distanz vielleicht einen Tucken größer, aber ich halte den Effekt für minimal. Momentan fällt er jedenfalls garantiert nicht auf, da die Erzählinstanz auch plötzlich anfängt, ihre Gedanken mitzuteilen.

Plötzlich ist da jemand, der sich einen Beobachter vorstellt und der mutmaßt, dass das Telefonat Charlotte erfreut.
Nun spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass sich die Distanz im Verlauf eines Texts ändert, das kommt oft vor. Nur: Ist es hier sinnvoll? Um das zu beantworten, hilft es, sich die Frage zu stellen, wer denn eigentlich erzählt.

Das ist bei einer heterodiegetischen Erzählinstanz oft nicht ersichtlich, so auch hier. Tatsächlich habe ich mir das aber (für eine Fortsetzung) tatsächlich ausgedacht. Der Erzähler ist Joannas Bruder Liam, der die Abenteuer seiner Schwester hochspannend findet. Der Erzähler würde sich dann also als homodiegetisch entpuppen, aber viel wichtiger:

Er will sich raushalten. Das ist nicht seine Geschichte, das ist die Geschichte von Charlotte und Joanna (und er traut sich eindeutig nicht zu, in den Kopf von einer der beiden zu schlüpfen). Liams Vorstellungen und Mutmaßungen müssen also weg. Zumal sie eh keine Funktion hatten, sondern nur ein weiteres neues Element hinzugefügt haben, das der Text nicht tragen kann.

Ja, natürlich. Total klar. Nur, eine gewisse Ähnlichkeit ist wirklich nicht abzustreiten, oder?

Als Charlotte und Joanna im zweiten Stock der Newton Street Nr. 8 ankamen, war Alex Dansham gerade dabei, sich umzubringen.
Ehe er sich versah, hatte Charlotte ihn von der Balkonbrüstung weggezerrt und mit Handschellen aus ihrer Manteltasche ans Heizungsrohr gekettet.
Joanna schüttelte energisch den Kopf, so als wolle sie damit ihre Denkblockaden zu den Ohren herausschleudern. „Was war das denn bitte?“, presste sie an die Detektivin gewandt hervor, „ist er der Mörder, oder wie?“
Charlotte, die gelangweilt an der Wand lehnte, verdrehte die Augen, „natürlich. Er ist der Bruder der Toten.“
Beim „Toten“ heulte der etwa 40-Jährige gequält auf. „Ich wollte sie doch nicht umbringen! Ich-“
„Jaja, pscht!“, Charlotte wedelte mit der Hand auf und ab, „versauen Sie mir nicht die Pointe! Also“, begann sie, indem sie sich von der Wand abstieß und in dem altmodisch eingerichteten Wohnzimmer auf und ab schritt, „nachdem ich die Nummer des Ehemanns ausfindig gemacht und angerufen habe-“
„Moment“, unterbrach Joanna mit zusammengekniffenen Augen, „Telefonbuch, okay, aber wie kamen Sie überhaupt auf den Ehemann?“
Charlotte seufzte wie ein Chemielehrer, der mitten in einem Vortrag über Elektronenpaarbindungen feststellt, dass er seinen Schülern nochmal erklären muss, was eigentlich Atome sind. „Das Haus ist zu groß für eine Person, außerdem hängen Hochzeitsfotos am Kühlschrank, zwar gibt es keinen Ehering, aber das ist auch nicht mehr unbedingt üblich. Natürlich ebenso wenig wie dass die Partner die gleichen Namen haben, doch ich schätzte die Frau so ein, dass sie den ihres Mannes annimmt und ich hatte recht.
Auf dem Klingelschild steht Lansbury und im Telefonbuch gab es die Handynummer von Juliette Lansbury – der Toten – und Michael Lansbury, ihrem Mann, ihr Bruder hingegen heißt Dansham. Dass die Handynummern drinstehen, hatte ich vermutet, weil ich im Haus keinen Festnetzanschluss gesehen habe –wer viel unterwegs ist, hat nicht mehr unbedingt einen. Aus der ungehaltenen Reaktion Michaels, als ich ihm sagte, dass es um seine Frau geht, schloss ich, dass die Ehe zumindest von seiner Seite aus nicht mehr gut läuft-“
Der am Boden sitzende Mann prustete los, „nicht mehr gut läuft?“, schnaubte er, „er hat-“
„Könnten Sie bitte die Klappe halten?“, fauchte Charlotte und funkelte ihn aus stahlgrauen Augen an, „ich bin noch nicht fertig.
Ich behauptete also, dass seine Frau glaubt, es wären einige ihrer Besitztümer aus dem Haus gestohlen worden und dass wir uns vorstellen könnten, eine Freundin würde dahinterstecken. Da er mich loswerden wollte und die meisten Männer in schlechten Beziehungen nicht gut auf die beste Freundin ihrer Frau zu sprechen sind, außer sie haben eine Affäre mit ihr, gab er mir ihre Nummer.“
Joanna runzelte die Stirn, „das heißt, Sie haben noch jemanden angerufen?“
„Ein Telefonbuch zu tragen, erfordert anscheinend höchste Aufmerksamkeit“, spöttelte Charlotte und überging die kleinere Frau, die nun in beleidigter Manier die Arme verschränkte, indem sie fortfuhr: „Ich habe mich wieder als Polizistin ausgegeben, es sei ein merkwürdiger Zwischenfall passiert, ob da jemand wäre, der Juliette gerne beschützen würde. So kamen wir zum großen Bruder, Alex. Sie sollten das Telefonbuch mitnehmen, falls sie nur den Namen sagt,
aber sie hat mir auch die Adresse gegeben.“ Charlotte lächelte.
Joanna stemmte den Arm in die Seite, „das hätte man doch auch digital klären können!“
„Nein, hätte man nicht“, widersprach die Detektivin geistesabwesend, sie war vor einem Bücherregal aus dunklem Holz stehen geblieben und betrachtete ein Foto, welches lose auf einem der Bretter lag, „denn diesmal sollten Sie es nachschauen, wozu hat man schließlich eine Assistentin?“
Alex Dansham blickte verwirrt von einer zur anderen, Joanna kratzte sich am Kopf, „tja… Aber Moment, warum haben Sie nicht schon Michael nach dem Beschützer gefragt?“
„Weil er der ist, vor dem sie beschützt werden muss!“, riefen Charlotte und Alex Dansham wie aus einem Mund.
Letzterer konnte nun nicht mehr an sich halten und stieß mit hochrotem Gesicht hervor: „Er hat sie die ganze Zeit misshandelt, er ist ja auch ein Säufer, ihr gesamter Körper ist mit blauen Flecken übersäht. Ich wollte, dass sie mit ihm Schluss macht, aber nein, sie meint, sie liebt ihn und ich könne das nicht verstehen, was für ein blödes Geschwätz! Und letzte Woche, da kam ich abends noch auf einen Sprung vorbei und sah, wie er ihr das Handgelenk so umbog, dass es richtig geknackt hat! Also habe ich ihn beschimpft, was macht sie? Schmeißt mich aus der Wohnung raus!“ Der Mann atmete schwer und hatte die Hände zu Fäusten geballt, wie um seine Erinnerungen wegzuboxen.
„Also haben Sie Gift besorgt und ihr die Wahl gelassen: Entweder sie trennt sich von ihm oder sie trinkt“, schaltete sich Charlotte wieder ein, „vorher natürlich noch eine kleine Demonstration mit dem verletzten Handgelenk…“
„Ich hätte doch nicht gedacht, dass sie sich dafür entscheidet!“, schluchzte Alex Dansham und vergrub das Gesicht in den Händen. „Warum dann echtes Gift?“, wollte Joanna wissen.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte er, „ein Freund von mir ist Chemiker und ich war mit in seinem Labor – ich hab einfach was eingesteckt.“
„Gut“, Charlotte klatschte in die Hände, „dann hätten wir das geklärt“, sie schnappte sich die Schlüssel der Handschellen von der Kommode, auf der sie sie abgelegt hatte, „ich lasse Sie jetzt wieder frei.“
Joanna steckte sich einen Finger ins Ohr und drehte ihn herum, „sorry, was haben Sie gesagt, ich hab gerade verstanden, dass Sie den Mörder freilassen wollen.“
Charlotte blickte sie direkt an und deutete auf Alex Dansham: „Schauen Sie sich den Mann doch mal an, er wird nie wieder ein Verbrechen begehen und im Gefängnis geht er ein. Jetzt, wo wir ihn davor bewahrt haben, sich umzubringen, macht er vielleicht etwas aus seinem Leben. Und Juliette wäre sowieso gestorben, irgendwann hätte Michael sie versehentlich erschlagen“, sie kniete sich hin und nestelte an den Handschellen herum, „übrigens, wie fanden Sie meine Deduktionen?“
„Brillant“, antwortete ihre Ermittlungspartnerin ruhig und schlug die Detektivin mit dem Laptop nieder, den sie vom Couchtisch genommen hatte.
„Ich sagte ja“, murmelte Joanna, während sie sich Charlottes Kopfwunde besah, „digital ist besser.“
Alex Dansham gab ein ersticktes Quieken von sich, „Sie haben gerade meinen Laptop kaputt gemacht!“
„Wollten Sie nicht eben noch Suizid begehen? Was schert Sie da Ihr Laptop?“
„Ja, und“, stammelte der Mann, „sie haben diese Frau getötet!“
„Unsinn“, Joanna machte eine wegwerfende Handbewegung, „sie wird bald mit Kopfschmerzen wieder aufwachen, glauben Sie mir, ich bin Ärztin.“
Alex Dansham kauerte sich enger zusammen, „werden Sie mich jetzt auch niederschlagen?“
Joanna richtete sich auf und schüttelte den Kopf, „also Sie stehen ja mal wirklich unter Schock, oder? Sie sind mit Handschellen an die Heizung gefesselt, natürlich werde ich Sie nicht niederschlagen!“
Ihr Gegenüber schwieg. Joanna warf einen Blick zu den Schlüsseln in Charlottes Hand. Sie biss sich auf die Lippe, wandte sich jedoch schließlich ab und ging in den Flur, wo ein Festnetztelefon auf einem Beistelltischchen stand.
Joanna wählte.
„Hallo, Polizei? Ich bin Joanna Kober. Sie müssen sofort in die Newton Street Nr. 8 kommen und einen Mörder festnehmen, er heißt Alex Dansham. Und dann ist da noch eine Frau. Sie, na ja, sie hat eine Anzeige aufgegeben, sich eine Wohnung zu teilen und als ich zur Besichtigung kam, hat sie mich betäubt, mir Handy und Portmonee abgenommen und mich mit vorgehaltener Pistole gezwungen, ihr den Dr. Watson zu spielen. Ihren richtigen Namen weiß ich nicht, aber sie nennt sich Charlotte Holmes…“

Im letzten Abschnitt kommt alles zusammen. Bild, Ton, Handlung, Auflösung. Vielleicht überwiegt bei den Leser*innen auch das Gefühl des Weglassens, schließlich wurde nicht geklärt, wie Charlotte so geworden ist, wie sie ist. Wäre auch okay. Was nicht okay ist, ist, dass die Erzählinstanz schon wieder derart präsent ist und das auch noch auf eine andere Art und Weise als beim vorherigen Abschnitt!

 

Jetzt mutmaßt sie nicht mehr, sie vergleicht. Vergleiche sind zwar sprachliche Mittel und gehören damit eher zur Rhetorik und Stilistik als zur Erzähltheorie, ich zähle sie aber gerne zur Stimme, weil sie die Erzählinstanz charakterisieren. Das wollen wir in diesem Fall genau nicht, die Vergleiche müssen also raus. (Zusammen mit einigen eigentümlichen Formulierungen…)

Spannend wird es bei den Namen. Plötzlich verwendet die Erzählinstanz welche, nicht nur die von Charlotte und Joanna, auch den von Alex Dansham, geht also über das, was ein*e Unbeteiligte*r wissen könnte, hinaus. Zuerst dachte ich, das geht nicht. Liam darf seine Gedanken nicht teilen, also auch nicht sein Wissen, oder?

Eigentlich passt das zum Weglassen-Motiv. Informationen waren die ganze Zeit Teil davon. Warum also nicht im letzten Abschnitt auch auf dieser Ebene subtil mehr Informationen teilen als bei den anderen Abschnitten? Es ist ja nicht so, als würde dadurch Charakter deutlich. Die Distanz wird etwas größer – aber es war ja auch nie das Ziel, die Distanz auf Null zu halten.

Charlotte

Grundlegend:
1. Durch die Geschichte zieht sich das Phänomen des Weglassens.
2. Die Geschichte ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die sich gestalterisch unterscheiden.
3. Ein Fokus liegt auf dem Verhältnis zwischen Bild und Ton.
4. Im Verlauf der Geschichte wird immer weniger weggelassen.

Eine geräumige Küche mit Esstisch.
Auf dem Tisch eine gläserne Kanne, leer, daneben eine Wasserpfütze.
Fliesenboden.
Blank geputzte Anrichten.
Einbauschränke.
Geschirrspüler.
Herd.
Waschbecken mit Putzutensilien.
Familienfotos, mit Magneten am Kühlschrank befestigt.
Eine Schachtel mit Reservemagneten neben dem Gewürzregal.
Zugang zu einem schmalen, düsteren Flur, ebenfalls gefliest.
Schräg in der Türöffnung liegend, die Beine in der Küche, den Oberkörper im Flur, Gesicht nach unten, eine Frauenleiche, Anfang 30, schlank, blonde Haare, weißes, langärmliges Baumwollkleid, den Kopf in einer Blutlache.

Beim ersten Abschnitt handelt es sich um eine Pause, es vergeht also Erzählzeit, aber keine erzählte Zeit, es sind nicht einmal Verben vorhanden. Reine Bildbeschreibung, alles andere fehlt: Ton, Zeit und somit Handlung, Informationen.
Distanz: So klein wie möglich, Illusion von Unmittelbarkeit.
So weit, so gut.

 

„Sie wurde vergiftet, Täter und Opfer kannten sich, standen sich wahrscheinlich nah, er hing eigentlich an ihr, aber das Resultat sehen Sie ja.“
…
„Oh kommen Sie, ist das nicht offensichtlich?
Die Wasserkanne. Den Tropfen an der Innenseite zufolge ist sie circa bis zur Hälfte gefüllt gewesen, an Tülle und unterer Kante ist etwas abgesprungen, auf dem Tisch findet sich Glasstaub, also ist sie heruntergefallen und hat diese Lache hinterlassen, die aber nicht groß genug ist, um zur Füllhöhe zu passen. Ergo wurde die Kanne rechtzeitig wieder aufgerichtet, um nicht alles zu verschütten und das restliche Wasser landete in einem Glas.
Nirgendwo ein benutztes Glas, es gibt einen Geschirrspüler, also warum sollte sie es von Hand wieder abspülen, zumal die Spülbürste und das Geschirrhandtuch da drüben trocken sind. Das heißt, der Täter hat es mitgenommen und welchen anderen Grund gäbe es dafür, als dass es Gift enthalten hat?
Bleibt die Frage, warum die Kanne runtergefallen ist. Ganz einfach: Weil die Frau sie mit rechts hochgehoben hat. Sie hat ein angebrochenes Handgelenk, damit könnte sie kaum eine Gabel halten, geschweige denn eine massive Glaskaraffe.
Sie hätte schon beim Anheben merken müssen, dass es ihr zu schwer wird, warum nimmt sie nicht die andere Hand? Es gibt nur eine Möglichkeit: Der Täter hat sie gezwungen. Da ihr Kleid langärmlig ist und der Ärmel, bevor ich es getan habe, nicht zurückgeschoben war, konnte der Täter die Schwellung nicht sehen, also muss er von der Verletzung gewusst haben. Wollte er sie quälen? Das geht einfacher, nein, er wollte sie nicht leiden sehen, sondern etwas beweisen.
Das sieht man auch daran, dass er gegangen ist, bevor sie starb, der Durchschnittsmörder vergewissert sich doch, dass sein Opfer wirklich tot ist, oder nicht? Aber nein, vom Gift wird sie ohnmächtig und fällt aufs Gesicht, das austretende Blut bildet eine Lache, fast so breit wie dieser großzügig bemessene Flur, nur zu überwinden, wenn man darüber springt, so wie wir, allerdings haben die Kollegen von der Spurensicherung auch diesen grandiosen Scheinwerfer mitgebracht. Ohne den und von der anderen Seite konnte man das Blut bei diesen Lichtverhältnissen unmöglich sehen, niemand macht aus bloßer Vorsicht einen Satz, er hätte reintreten müssen. Ist er nicht, also früherer Abgang.
Tat ihm ihr Tod leid? Gut möglich, schließlich hat er auch aus Sentimentalität eines der Fotos am Kühlschrank mitgenommen: Hier hängt ein einzelner Magnet, genau mit dem Platz für ein weiteres Bild darunter. Die Frau war ordentlich, alles ist aufgeräumt, sortiert und geputzt, sie trägt sogar ihre Ärmel wie sie gehören, obwohl es wehgetan haben muss, den rechten über dem verletzten Handgelenk zurechtzuziehen. Einen übrigen Magneten hätte sie in die Schachtel zu den anderen getan, aber da ist er, mitten in der fröhlichen Fotosammlung, also hat der Täter eines mitgenommen. Um seine Identität zu verschleiern? Da wäre es weniger auffällig, es hängen zu lassen, denn es wird sich um eine belanglose Aufnahme handeln, wie beim Rest, nein, sie lag ihm am Herzen und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss einen Anruf tätigen. Schönen Tag noch.“

Der zweite Abschnitt besteht aus autonomer direkter Rede Charlottes, sie wird zur intradiegetischen Erzählerin.
D.h. hier haben wir überhaupt kein Bild. Handlungen (bis auf den Erzählakt) werden lediglich angedeutet, z.B. verlässt Charlotte zum Schluss wahrscheinlich den Raum.
Statt Bild gibt es natürlich Ton – und somit Zeit, nahezu zeitdeckend.

Ein paar mehr Informationen werden gegeben, zum einen über den Mord, zum anderen darüber, dass jemand dabei ist, den Fall wie Sherlock Holmes aufzuklären. Dadurch werden aber auch neue Fragen aufgeworfen.

Bei den drei Punkten wird das zeitdeckende Erzählen verlassen, das ist eine Ellipse, bei der die Aussagen der anderen am Tatort anwesenden Personen weggelassen werden. Somit liegt der Fokus vollkommen auf Charlottes Schlussfolgerungen.
Distanz: So klein wie möglich.
Auch das passt für mich soweit.

Ja, ich weiß. Perfekte Gelegenheit. Aber noch war es wie ein Spiel für mich, verstehen Sie?

[et_pb_slider module_id=“gelb“ _builder_version=“4.9.4″ _module_preset=“default“ custom_margin=“20px|20px||20px|fal
se|false“ custom_padding=“15px|10px|35px||false|false“ locked=“off“ global_colors_info=“{}“]

Die gelb markierten Abschnitte sind Prolepsen und bestehen wieder aus autonomer direkter Rede, diesmal allerdings der Joannas (intradiegetische Erzählerin, zeitdeckend, kleine Distanz, wie gehabt). Es sind Aussagen, die sie nach Charlottes und Alex Danshams Verhaftung auf dem Polizeirevier tätigt, was aber hier noch nicht klar werden soll.

 

Neben anderen Dingen wird hier also auch der Gesamtkontext weggelassen, was (hoffentlich) Spannung erzeugt. Im Nachhinein sollen die Stellen außerdem Joannas Verhalten etwas plausibler machen. (Also, sie ist fasziniert von Charlotte, weshalb sie sich den Polizist*innen am Tatort nicht als Opfer eines Verbrechens zu erkennen gibt.)

Es ist die Frage, ob das den Leser*innen am Ende der Geschichte auch klar wird, da müsste ich halt testlesen lassen und u. U. noch einen dritten Abschnitt ganz an den Schluss stellen, aber das Motiv des Weglassens ist erstmal noch wunderbar präsent.

Fünf Minuten zuvor, Hauseinfahrt:
„Entschuldigen Sie, wenn wir einen kurzen Blick auf den Tatort werfen dürften? Ich verspreche Ihnen, keine Spuren zu verwischen, im Gegenteil.
Unsere Namen sind übrigens Dr. Joanna Watson und Charlotte Holmes.“

In diesem Abschnitt redet wieder nur Charlotte, deshalb die orangene Markierung. Das ist das einzig neutrale, das ich über diesen Abschnitt sagen kann, denn hier ist so ziemlich alles falschgelaufen, was falschlaufen kann.

1. Es handelt sich um eine Analepse, die die Situation näher erklärt. Das läuft dem Weglassen-Motiv zuwider.
2. Der Abschnitt wirft noch etwas Neues rein (den Blick in die Vergangenheit) und ist zu allem Überfluss auch kurz, so viel Heterogenität auf so wenig Raum verträgt der Text nicht.

3. Der Abschnitt ist nicht nötig. Wie Joanna und Charlotte an den Tatort gelangt sind, lässt sich im letzten Abschnitt viel besser erklären, dort können auch die Nachnamen untergebracht werden, während gerade Joannas Vorname im zweiten Teil ohnehin besser aufgehoben ist, damit die Leser*innen früher von ihrer Existenz erfahren.

Im nördlichen Teil der malerischen englischen Hauptstadt liegt eine Ansammlung zusammengewürfelter Mietshäuser. Eines davon verfügt über ein eigentümliches Klingelschild für eine Erdgeschosswohnung, denn anstatt eines Namens gibt es hier einen anderen Schriftzug: 221B Baker Street.
Dem Klingelschild den Rücken kehrend und aus genannter Wohnung kommend, traten am 4. Mai 2017 zwei Frauen nach draußen.
Ihre Erscheinung hätte unterschiedlicher nicht sein können: Die eine war groß, schlank und in einen eleganten schwarzen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen gekleidet. Sie hatte einen Dutt aus schokoladenfarbenen Haaren, eine gerade Haltung und einen federnden Gang, so als würde sie das Telefonat, welches sie über ein Smartphone in ihrer rechten Hand führte, höchst erfreuen.
Die andere war kleiner, ließ ihr kastanienbraunes Haar offen über die Schultern und somit über ihre Jeansjacke fallen und mühte sich ab, eine Position zu finden, in der ihr der dicke Wälzer, den sie hielt, nicht zu entgleiten drohte.
Einem Beobachter wäre es schwer gefallen, zu sagen, was der darauffolgenden Situation zugrunde lag: Als die größere Frau das Gespräch beendete, deutete ihr Gegenüber auf das Handy und vollführte eine ausladende Armbewegung.
Daraufhin klopfte die erste mit der flachen Hand auf das Buch, das die kleinere Frau umklammert hielt, zuckte jedoch im gleichen Moment mit den Schultern, zeigte in eine Richtung die Straße hinunter und marschierte davon. Die Zurückgebliebene verharrte einen Augenblick regungslos. Dann pfefferte sie das Buch in den Hauseingang und rannte der anderen nach.
Der Beobachter hätte sich nun, obgleich dieser Szene sicher neugierig geworden, dem Haus nähern und den Titel des Werkes lesen können, welches jetzt etwas zerknickt auf den Steinplatten lag.
Es war ein Telefonbuch.

[et_pb_slide _builder_version=“4.9.4″ _module_preset=“default“ background_image=“https://www.uni-hildesheim.de/kulturpraxis/wp-content/uploads/2021/05/Spiralblock
-gruen.png“ background_enable_image=“on“ locked=“off“ global_colors_info=“{}“ sticky_transition=“on“]

In diesem Abschnitt kommen Bild und Handlung zusammen, dafür fehlt der Ton. Alles konsequent beim Motiv des Weglassens. Was überhaupt nicht konsequent ist, ist die Erzählinstanz. An der Fokalisierung liegt das nicht, die ist im gesamten Text fixiert extern. Das Problem ist die Distanz, die schlagartig größer wird.

Hier wird zum ersten Mal das Präteritum verwendet, es liegt also späteres Erzählen vor, irgendjemand erzählt die Geschichte im Nachhinein. Das macht die Distanz vielleicht einen Tucken größer, aber ich halte den Effekt für minimal. Momentan fällt er jedenfalls garantiert nicht auf, da die Erzählinstanz auch plötzlich anfängt, ihre Gedanken mitzuteilen.

Plötzlich ist da jemand, der sich einen Beobachter vorstellt und der mutmaßt, dass das Telefonat Charlotte erfreut.
Nun spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass sich die Distanz im Verlauf eines Texts ändert, das kommt oft vor. Nur: Ist es hier sinnvoll? Um das zu beantworten, hilft es, sich die Frage zu stellen, wer denn eigentlich erzählt.

Das ist bei einer heterodiegetischen Erzählinstanz oft nicht ersichtlich, so auch hier. Tatsächlich habe ich mir das aber (für eine Fortsetzung) tatsächlich ausgedacht. Der Erzähler ist Joannas Bruder Liam, der die Abenteuer seiner Schwester hochspannend findet. Der Erzähler würde sich dann also als homodiegetisch entpuppen, aber viel wichtiger:

Er will sich raushalten. Das ist nicht seine Geschichte, das ist die Geschichte von Charlotte und Joanna (und er traut sich eindeutig nicht zu, in den Kopf von einer der beiden zu schlüpfen). Liams Vorstellungen und Mutmaßungen müssen also weg. Zumal sie eh keine Funktion hatten, sondern nur ein weiteres neues Element hinzugefügt haben, das der Text nicht tragen kann.

Ja, natürlich. Total klar. Nur, eine gewisse Ähnlichkeit ist wirklich nicht abzustreiten, oder?

Als Charlotte und Joanna im zweiten Stock der Newton Street Nr. 8 ankamen, war Alex Dansham gerade dabei, sich umzubringen.
Ehe er sich versah, hatte Charlotte ihn von der Balkonbrüstung weggezerrt und mit Handschellen aus ihrer Manteltasche ans Heizungsrohr gekettet.
Joanna schüttelte energisch den Kopf, so als wolle sie damit ihre Denkblockaden zu den Ohren herausschleudern. „Was war das denn bitte?“, presste sie an die Detektivin gewandt hervor, „ist er der Mörder, oder wie?“
Charlotte, die gelangweilt an der Wand lehnte, verdrehte die Augen, „natürlich. Er ist der Bruder der Toten.“
Beim „Toten“ heulte der etwa 40-Jährige gequält auf. „Ich wollte sie doch nicht umbringen! Ich-“
„Jaja, pscht!“, Charlotte wedelte mit der Hand auf und ab, „versauen Sie mir nicht die Pointe! Also“, begann sie, indem sie sich von der Wand abstieß und in dem altmodisch eingerichteten Wohnzimmer auf und ab schritt, „nachdem ich die Nummer des Ehemanns ausfindig gemacht und angerufen habe-“
„Moment“, unterbrach Joanna mit zusammengekniffenen Augen, „Telefonbuch, okay, aber wie kamen Sie überhaupt auf den Ehemann?“
Charlotte seufzte wie ein Chemielehrer, der mitten in einem Vortrag über Elektronenpaarbindungen feststellt, dass er seinen Schülern nochmal erklären muss, was eigentlich Atome sind. „Das Haus ist zu groß für eine Person, außerdem hängen Hochzeitsfotos am Kühlschrank, zwar gibt es keinen Ehering, aber das ist auch nicht mehr unbedingt üblich. Natürlich ebenso wenig wie dass die Partner die gleichen Namen haben, doch ich schätzte die Frau so ein, dass sie den ihres Mannes annimmt und ich hatte recht.
Auf dem Klingelschild steht Lansbury und im Telefonbuch gab es die Handynummer von Juliette Lansbury – der Toten – und Michael Lansbury, ihrem Mann, ihr Bruder hingegen heißt Dansham. Dass die Handynummern drinstehen, hatte ich vermutet, weil ich im Haus keinen Festnetzanschluss gesehen habe –wer viel unterwegs ist, hat nicht mehr unbedingt einen. Aus der ungehaltenen Reaktion Michaels, als ich ihm sagte, dass es um seine Frau geht, schloss ich, dass die Ehe zumindest von seiner Seite aus nicht mehr gut läuft-“
Der am Boden sitzende Mann prustete los, „nicht mehr gut läuft?“, schnaubte er, „er hat-“
„Könnten Sie bitte die Klappe halten?“, fauchte Charlotte und funkelte ihn aus stahlgrauen Augen an, „ich bin noch nicht fertig.
Ich behauptete also, dass seine Frau glaubt, es wären einige ihrer Besitztümer aus dem Haus gestohlen worden und dass wir uns vorstellen könnten, eine Freundin würde dahinterstecken. Da er mich loswerden wollte und die meisten Männer in schlechten Beziehungen nicht gut auf die beste Freundin ihrer Frau zu sprechen sind, außer sie haben eine Affäre mit ihr, gab er mir ihre Nummer.“
Joanna runzelte die Stirn, „das heißt, Sie haben noch jemanden angerufen?“
„Ein Telefonbuch zu tragen, erfordert anscheinend höchste Aufmerksamkeit“, spöttelte Charlotte und überging die kleinere Frau, die nun in beleidigter Manier die Arme verschränkte, indem sie fortfuhr: „Ich habe mich wieder als Polizistin ausgegeben, es sei ein merkwürdiger Zwischenfall passiert, ob da jemand wäre, der Juliette gerne beschützen würde. So kamen wir zum großen Bruder, Alex. Sie sollten das Telefonbuch mitnehmen, falls sie nur den Namen sagt, aber sie hat mir auch die Adresse gegeben.“ Charlotte lächelte.
Joanna stemmte den Arm in die Seite, „das hätte man doch auch digital klären können!“
„Nein, hätte man nicht“, widersprach die Detektivin geistesabwesend, sie war vor einem Bücherregal aus dunklem Holz stehen geblieben und betrachtete ein Foto, welches lose auf einem der Bretter lag, „denn diesmal sollten Sie es nachschauen, wozu hat man schließlich eine Assistentin?“
Alex Dansham blickte verwirrt von einer zur anderen, Joanna kratzte sich am Kopf, „tja… Aber Moment, warum haben Sie nicht schon Michael nach dem Beschützer gefragt?“
„Weil er der ist, vor dem sie beschützt werden muss!“, riefen Charlotte und Alex Dansham wie aus einem Mund.
Letzterer konnte nun nicht mehr an sich halten und stieß mit hochrotem Gesicht hervor: „Er hat sie die ganze Zeit misshandelt, er ist ja auch ein Säufer, ihr gesamter Körper ist mit blauen Flecken übersäht. Ich wollte, dass sie mit ihm Schluss macht, aber nein, sie meint, sie liebt ihn und ich könne das nicht verstehen, was für ein blödes Geschwätz! Und letzte Woche, da kam ich abends noch auf einen Sprung vorbei und sah, wie er ihr das Handgelenk so umbog, dass es richtig geknackt hat! Also habe ich ihn beschimpft, was macht sie? Schmeißt mich aus der Wohnung raus!“ Der Mann atmete schwer und hatte die Hände zu Fäusten geballt, wie um seine Erinnerungen wegzuboxen.
„Also haben Sie Gift besorgt und ihr die Wahl gelassen: Entweder sie trennt sich von ihm oder sie trinkt“, schaltete sich Charlotte wieder ein, „vorher natürlich noch eine kleine Demonstration mit dem verletzten Handgelenk…“
„Ich hätte doch nicht gedacht, dass sie sich dafür entscheidet!“, schluchzte Alex Dansham und vergrub das Gesicht in den Händen. „Warum dann echtes Gift?“, wollte Joanna wissen.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte er, „ein Freund von mir ist Chemiker und ich war mit in seinem Labor – ich hab einfach was eingesteckt.“
„Gut“, Charlotte klatschte in die Hände, „dann hätten wir das geklärt“, sie schnappte sich die Schlüssel der Handschellen von der Kommode, auf der sie sie abgelegt hatte, „ich lasse Sie jetzt wieder frei.“
Joanna steckte sich einen Finger ins Ohr und drehte ihn herum, „sorry, was haben Sie gesagt, ich hab gerade verstanden, dass Sie den Mörder freilassen wollen.“
Charlotte blickte sie direkt an und deutete auf Alex Dansham: „Schauen Sie sich den Mann doch mal an, er wird nie wieder ein Verbrechen begehen und im Gefängnis geht er ein. Jetzt, wo wir ihn davor bewahrt haben, sich umzubringen, macht er vielleicht etwas aus seinem Leben. Und Juliette wäre sowieso gestorben, irgendwann hätte Michael sie versehentlich erschlagen“, sie kniete sich hin und nestelte an den Handschellen herum, „übrigens, wie fanden Sie meine Deduktionen?“
„Brillant“, antwortete ihre Ermittlungspartnerin ruhig und schlug die Detektivin mit dem Laptop nieder, den sie vom Couchtisch genommen hatte.
„Ich sagte ja“, murmelte Joanna, während sie sich Charlottes Kopfwunde besah, „digital ist besser.“
Alex Dansham gab ein ersticktes Quieken von sich, „Sie haben gerade meinen Laptop kaputt gemacht!“
„Wollten Sie nicht eben noch Suizid begehen? Was schert Sie da Ihr Laptop?“
„Ja, und“, stammelte der Mann, „sie haben diese Frau getötet!“
„Unsinn“, Joanna machte eine wegwerfende Handbewegung, „sie wird bald mit Kopfschmerzen wieder aufwachen, glauben Sie mir, ich bin Ärztin.“
Alex Dansham kauerte sich enger zusammen, „werden Sie mich jetzt auch niederschlagen?“
Joanna richtete sich auf und schüttelte den Kopf, „also Sie stehen ja mal wirklich unter Schock, oder? Sie sind mit Handschellen an die Heizung gefesselt, natürlich werde ich Sie nicht niederschlagen!“
Ihr Gegenüber schwieg. Joanna warf einen Blick zu den Schlüsseln in Charlottes Hand. Sie biss sich auf die Lippe, wandte sich jedoch schließlich ab und ging in den Flur, wo ein Festnetztelefon auf einem Beistelltischchen stand.
Joanna wählte.
„Hallo, Polizei? Ich bin Joanna Kober. Sie müssen sofort in die Newton Street Nr. 8 kommen und einen Mörder festnehmen, er heißt Alex Dansham. Und dann ist da noch eine Frau. Sie, na ja, sie hat eine Anzeige aufgegeben, sich eine Wohnung zu teilen und als ich zur Besichtigung kam, hat sie mich betäubt, mir Handy und Portmonee abgenommen und mich mit vorgehaltener Pistole gezwungen, ihr den Dr. Watson zu spielen. Ihren richtigen Namen weiß ich nicht, aber sie nennt sich Charlotte Holmes…“

Im letzten Abschnitt kommt alles zusammen. Bild, Ton, Handlung, Auflösung. Vielleicht überwiegt bei den Leser*innen auch das Gefühl des Weglassens, schließlich wurde nicht geklärt, wie Charlotte so geworden ist, wie sie ist. Wäre auch okay. Was nicht okay ist, ist, dass die Erzählinstanz schon wieder derart präsent ist und das auch noch auf eine andere Art und Weise als beim vorherigen Abschnitt!

Jetzt mutmaßt sie nicht mehr, sie vergleicht. Vergleiche sind zwar sprachliche Mittel und gehören damit eher zur Rhetorik und Stilistik als zur Erzähltheorie, ich zähle sie aber gerne zur Stimme, weil sie die Erzählinstanz charakterisieren. Das wollen wir in diesem Fall genau nicht, die Vergleiche müssen also raus. (Zusammen mit einigen eigentümlichen Formulierungen…)

[et_pb_slide _builder_version=“4.9.4″ _module_preset=“default“ background_image=“https://www.uni-hildesheim.de/kulturpraxis/wp-content/uploads/2021/05/Spiralblock-Seite-fertig.jpg“ background_enable_image=“
on“ text_orientation=“left“ background_layout=“light“ locked=“off“ global_colors_info=“{}“ sticky_transition=“on“]

Spannend wird es bei den Namen. Plötzlich verwendet die Erzählinstanz welche, nicht nur die von Charlotte und Joanna, auch den von Alex Dansham, geht also über das, was ein*e Unbeteiligte*r wissen könnte, hinaus. Zuerst dachte ich, das geht nicht. Liam darf seine Gedanken nicht teilen, also auch nicht sein Wissen, oder?

Eigentlich passt das zum Weglassen-Motiv. Informationen waren die ganze Zeit Teil davon. Warum also nicht im letzten Abschnitt auch auf dieser Ebene subtil mehr Informationen teilen als bei den anderen Abschnitten? Es ist ja nicht so, als würde dadurch Charakter deutlich. Die Distanz wird etwas größer – aber es war ja auch nie das Ziel, die Distanz auf Null zu halten.

Nachwort

Erzähltheorie kann also tatsächlich ganz schön praktisch sein – sie ist allerdings auch umfangreich. Ich bin in meinen Erklärungen nicht sonderlich tief ins Detail gegangen, da gibt es dann noch bestimmte und unbestimmte, explizite und implizite Ellipsen, externe und interne, komplette und partielle Analepsen und Prolepsen, konsonante und dissonante autodiegetische Erzählinstanzen…
Die größte Eingrenzung, die ich vorgenommen habe, war aber die Beschränkung auf den Diskurs (oder englisch discourse). Das ist der Oberbegriff für Zeit, Modus und Stimme und es geht hier um das Wie des Textes, also wie wird erzählt. Das Gegenstück dazu ist das Was, also die Geschichte (oder englisch Story). Zur Geschichte gehören dann solche Bereiche wie Handlung und Figur. Also die Punkte, an die wir beim Schreiben von Geschichten ohnehin ständig denken und die uns beim Überarbeiten und Testlesen auch eher auffallen. Die Erzähltheorie finde ich da größtenteils nicht sonderlich hilfreich. Um zu merken, dass eine Stelle unlogisch ist, musst du nicht wissen, dass die Ereignisse in diesem Text grundsätzlich kausal motiviert sind. Andererseits kann es durchaus von Vorteil sein, zu wissen, dass Ereignisse nicht grundsätzlich kausal motiviert sein müssen…
In jedem Fall behandelt die Erzähltheorie jede Menge weitere spannende Themen, zum Beispiel das Erzählen in der zweiten Person, Realitätseffekte, unzuverlässiges Erzählen oder die Frage, was es eigentlich bedeutet, wenn Geschichten im Präsens erzählt werden.
Also ich finde, Erzähltheorie lohnt sich – deshalb hab ich unten noch ein paar Buchtipps für euch.
Ansonsten freue ich mich, wenn ihr einen Kommentar dalasst und klaue mir zum Schluss einfach den Abschiedsgruß der Schreibdilettanten: Schreibt schön!

Einführung und Überblick
— Matías Martínez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie
— Silke Lahn, Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse
— Monika Fludernik: Erzähltheorie – Eine Einführung

Eigene Erzähltheorien
— Gérard Genette: Die Erzählung
— Seymour Chatman: Story and Discourse – Narrative Structure in Fiction and Film
— Mieke Bal: Narratology – Introduction to the Theory of Narrative
— Wolf Schmid: Elemente der Narratologie
— Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens

Weiterführend und interdisziplinär
— Tabea Becker, Juliane Stude: Erzählen
— Vera Nünning, Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies
— Sigrid Nieberle, Elisabeth Strowick (Hrsg.): Narration und Geschlecht – Texte – Medien – Episteme
— Armen Avanessian, Anke Hennig: Präsens. Poetik eines Tempus
— Joachim Friedmann: Transmediales Erzählen – Narrative Gestaltung in Literatur, Film, Graphic Novels und Game
— Markus Kuhn: Filmnarratologie – Ein erzähltheoretisches Analysemodell.

Zurück zum Notizbuch:
Rot
Orange 1
Gelb
Orange 2
Grün
— Ordnung: Die wenigsten Texte sind rein chronologisch erzählt, bei den meisten herrscht eine Anachronie vor. Die Texte enthalten dann Prolepsen (Vorausdeutungen) und/ oder Analepsen (Rückblenden). Wenn die richtige Reihenfolge der Ereignisse aus dem Text überhaupt nicht mehr bestimmt werden kann, wird von einer Achronie gesprochen.
— Dauer: Für das Problem, wie die Erzählzeit, also die Zeit, die es dauert, die Geschichte zu erzählen, gemessen werden soll, hat noch niemand die perfekte Lösung gefunden – aber ob sie kürzer, länger oder genauso lang ist als/ wie die erzählte Zeit, also die Zeit, die in der Geschichte verstreicht, kann meist doch recht gut bestimmt werden. Wenn sie kürzer ist, wird zeitraffend erzählt, wenn sie länger ist, zeitdehnend und wenn sie gleich lang ist, zeitdeckend.
Außerdem gibt es die Ellipse (Aussparung) und die Pause. Bei ersterer steht die Erzählzeit still, es werden also Dinge nicht erzählt, die in der Geschichte passieren, das Beispiel schlechthin sind Toilettengänge. Bei letzterer steht die erzählte Zeit still, es vergeht in der Geschichte also keine Zeit, z. B. bei Beschreibungen.
— Frequenz: Spielte für die Analyse von Charlotte keine Rolle, aber grundsätzlich kann singulativ, repetitiv und iterativ erzählt werden. Beim singulativen Erzählen wird einmal erzählt, was sich einmal ereignet hat (Normalfall) und wiederholt, was sich wiederholt ereignet hat (eher ungewöhnlich). Beim repetitiven Erzählen wird wiederholt erzählt, was sich einmal ereignet hat und beim iterativen einmal, was sich wiederholt ereignet hat.

Zurück zum Notizbuch:
Rot
Orange 1
Grün
— Distanz: Es heißt immer, dazu gehöre die Frage, wie mittelbar das Erzählte präsentiert wird, ich finde es aber viel intuitiver, wenn die Frage gestellt wird, wie unmittelbar das Erzählte präsentiert wird. Je unmittelbarer, desto kleiner die Distanz – und desto weniger präsent die Erzählinstanz. Das fand ich am Anfang ziemlich verwirrend, gerade für Ich-Erzähler*innen. Je mehr Gedanken die uns mitteilen, desto präsenter sind sie schließlich und desto näher fühlen wir uns ihnen. Aber es geht hier nicht um emotionale Nähe und auch nicht um Nähe zur Erzählinstanz, sondern um Nähe zum Geschehen. Und das wird nunmal nicht sonderlich unmittelbar präsentiert, wenn ständig eine Erzählinstanz dazwischenreflektiert. Ein Bild für die Distanz ist, dass die Erzählinstanz zwischen Ereignis und Erzählung steht. Je mehr Raum sie einnimmt, desto größer die Distanz.
Bei der Wiedergabe von wörtlicher Rede und Gedanken ist die Distanz relativ einfach zu bestimmen. Autonome direkte Rede (die Figurenrede wird zitiert und steht für sich allein) ist am unmittelbarsten, die Erwähnung von Rede (so etwas wie „sie unterhielten sich) am mittelbarsten, dazwischen steht z.B. die indirekte Rede.
Bei Ereignissen gibt es nur eine Illusion von Unmittelbarkeit, da Ereignisse, die ja nicht-sprachlich sind, zunächst in Sprache übersetzt werden müssen, um in Texten wiedergegeben werden zu können, sie können dort also nicht wie in Filmen tatsächlich unmittelbar dargestellt werden.
— Fokalisierung: Hier gibt es drei Typen. Bei der externen Fokalisierung (Außensicht, neutral) präsentiert die Erzählinstanz weniger, als die Figuren wissen.
Bei der Nullfokalisierung (Übersicht) präsentiert die Erzählinstanz mehr als einzelne oder auch alle Figuren wissen. Sie wird oft auch als auktorial oder allwissend bezeichnet, auktorial ist aber eigentlich ein Begriff von Stanzel, der zwischen auktorialen, personalen und Ich-Erzähler*innen unterscheidet und wird von ihm nochmal spezifischer definiert, und allwissend ist ziemlich irreführend – nur, weil die Erzählinstanz mehr weiß als die Figuren, heißt das ja nicht, dass sie alles weiß.
Bei der internen Fokalisierung (Mitsicht, aktorial) wird nur präsentiert, was eine bestimmte Figur weiß.
Wenn die Fokalisierung innerhalb eines Textes gleichbleibt, heißt das fixiert, wenn sie sich verändert variabel, bzw. geht bei interner Fokalisierung auch multipel, da ist die Fokalisierung zwar immer intern, aber abwechselnd aus der Sicht verschiedener Figuren.
Der Begriff Perspektive bezieht sich übrigens auf die Fokalisierung in Kombination mit einigen Bereichen der Stimme.

Zurück zum Notizbuch:
Orange 1
Grün
Blau
— Zeitpunkt des Erzählens: Es gibt späteres (Normalfall), früheres (z.B. bei Prophezeiungen) und gleichzeitiges (z.B. wenn in einem Publikum jemandem einem Kind, das nichts sehen kann, erzählt, was gerade auf der Bühne passiert) Erzählen.
– Ort des Erzählens: Ich finde, das sollte Ebene des Erzählens heißen, denn es geht nicht darum, ob die Ich-Erzählerin eines Tagebuch-Romans gerade zu Hause oder im Wattenmeer schreibt, sondern darum, ob außerhalb oder innerhalb der Geschichte erzählt wird. Die Erzählinstanz, die die gesamte Geschichte erzählt, ist extradiegetisch (das bedeutet nicht, dass sie in der Geschichte nicht vorkommt, dazu kommen wir gleich). Wenn jemand innerhalb der Geschichte etwas erzählt, ist er*sie intradiegetische*r Erzähler*in. Erzählt jemand etwas innerhalb dieser Geschichte in der Geschichte, heißt das metadiegetisch, die nächste Ebene wäre metametadiegetisch, usw. Deutlich einfacher und nachvollziehbarer ist die Benennung von Lahn und Meister, die sprechen von primären, sekundären, tertiären, usw. Erzähler*innen.
— Stellung der Erzählinstanz zum Geschehen: Ist die Erzählinstanz keine Figur in der Geschichte, die sie erzählt, ist sie heterodiegetisch, ist sie eine, homodiegetisch. Wenn sie außerdem die Hauptperson ist, wird das autodiegetisch genannt.
– Subjekt und Adressat*in des Erzählens: Wer erzählt wem? Warum ist da auch ne spannende Frage. Also, wer ist die Erzählinstanz eigentlich, wem erzählt sie diese Geschichte, warum erzählt sie sie überhaupt, warum diesem Menschen (oder diesen Menschen – oder Nicht-Menschen) und warum erzählt sie sie so, wie sie erzählt? Das wird bei intradiegetischen Erzähler*innen in der Regel im Text beantwortet, bei extradiegetisch-heterodiegetischen in der Regel nicht. Ist in der Regel auch nicht nötig, kann aber für uns Autor*innen trotzdem sehr hilfreich sein, sich selbst diese Fragen zu beantworten.

Kaja Sturmfels

Related Topics
  • Erzähltheorie
  • Praxis
  • Textarbeit
Voriger Artikel
  • Kulturcampus

Klasse gemacht

  • 4. Juni 2021
  • Kulturpraxis
Weiterlesen
Nächster Artikel
  • Kulturcampus

Work-Life-Balance im Online-Semester

  • 11. Juni 2021
  • Kulturpraxis
Weiterlesen
Dir könnte auch gefallen
Ein Buch liegt aufgeschlagen auf einem lila Untergrung aus Holz
Weiterlesen
  • Kulturcampus
  • Literatur

Im Gespräch über Bücher – Was und wie liest der Kulturcampus?

  • Anna Hohage and Julia Oepen
  • 16. Juli 2024
Ein Laptop mit dem Logo einer KI und Buchstaben, im Hintergrund schwebende Bücher
Weiterlesen
  • Literatur

„Hallo, wie kann ich helfen?“ – Das eigene literarische Schaffen mit KI voranbringen

  • Lena Hawemann
  • 28. Juli 2023
Weiterlesen
  • Literatur

Wie ein Buch entsteht: Willkommen im »Blauen Salon«

  • Swarje Boekhoff
  • 20. April 2022
Weiterlesen
  • Literatur

Hildesheims hässlichste Orte

  • Jacques Götzmann
  • 7. September 2021
Weiterlesen
  • Literatur

Schreibspiele

  • Kaja Sturmfels
  • 13. August 2021
Weiterlesen
  • Literatur

Die Glosse in der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung

  • Kulturpraxis
  • 30. Juli 2021
Weiterlesen
  • Literatur

Die letzten Stunden Wertschätzen – Ein Gespräch mit Prof. Dr. Friedemann Nauck

  • Phabio Freiboth
  • 9. Juli 2021
Weiterlesen
  • Literatur

Ein historischer Rundgang durch die Hildesheimer Steingrube

  • Kulturpraxis
  • 6. Juli 2021

Schreibe einen Kommentar Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Alle Fächer
Kulturpolitik
View Posts
Kunst
View Posts
Literatur
View Posts
Medien
View Posts
Musik
View Posts
Philosophie
View Posts
populäre kultur
Pop
View Posts
(c) Monika Schuster
Theater
View Posts
Kulturpraxis
  • Datenschutzerklärung
  • Impressum
  • Kulturcampus
  • Instagram
  • YouTube
transeuropa
litradio

Gib dein Suchwort ein und drücke Enter.