Ein Jahr später — ein Zwischenfazit
Maya [21, Bachelor Szenische Künste]

In meinem ersten Semester auf der Domäne habe ich auf der Toilette einen Spruch entdeckt, der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat: „Am Ende bist du immer noch du und nicht Hildesheim.“ Was fällt dir dazu ein?
Mir fällt dazu ein, dass Hildesheim für mich auch ein Synonym ist für eine Art zu sprechen, eine Art sich zu bewegen, eine Art sich zu kleiden, fast schon eine Art zu denken in dem Sinne, dass Sprache noch mal andere Denkmuster aufmacht. Wenn ich diesen Spruch gelesen habe, kam ich immer auf den Gedanken, wie nah ich jetzt diesem Bild von Hildesheim bin. Manchmal hat mich dieser Satz beruhigt, weil ich mich diesem Bild näher gefühlt habe und dann aber da stand: „Am Ende bist du immer noch DU und NICHT Hildesheim.“ Manchmal habe ich es aber auch in einem Modus gelesen von „Okay, ist halt so. Ich kann damit leben.“ Ich sehe den Spruch als Erinnerung daran, dass das alles – dieses Bild von der Domäne und den Leuten hier – auch nur eine Selbstbehauptung ist, die ich aufrechterhalten kann oder auch nicht. Dass ich mich also auch auf ein „Ich find das vielleicht gar nicht so gut“ zurückbesinnen kann.
Empfindest du einen Druck, domänekonform zu sein?
Ja, aber ich glaube, dass sich dieser Druck weniger dadurch äußert, dass ich ermahnt werde, mich auf eine bestimmte Art zu verhalten, und mehr dadurch, dass ich das anderen andichte. Für mich ist eine Hildesheimer Haltung so ein sehr starkes Achten darauf, was man darf und was man nicht darf, wo Diskriminierung anfängt und wo sie aufhört. Im ersten Semester hab ich noch gar nicht gewusst, was da die Standards und die Kodierungen sind, und in einem Vortrag wurde auf jeden Fall auch kritisiert, dass ich diesen Standards nicht entsprochen habe.
Hat das am Anfang für dich dazu geführt, dass du Angst hattest, das Falsche zu sagen?
Ich hatte keine Angst, was Falsches zu sagen, weil ich das Gefühl hatte, was Neues zu lernen, und das total cool fand. Ein Stück weit mag ich es auch, mich an eine Gruppe anzupassen und zu merken, dass das funktioniert, wenn ich bestimmte Dinge beachte. In einem gegebenen Rahmen kann ich hier also gut funktionieren. Nur war ich zum Beispiel am Anfang dieses Semesters krass damit überfordert, mich hier wieder zurechtzufinden, weil ich das Gefühl hatte, ich habe diesen Code über die Semesterferien verlernt, dadurch dass ich in ganz andren Gruppenstrukturen unterwegs war. Da hab mich auf jeden Fall sehr out of gefühlt, weil ich dachte, jetzt hab ich hier schon zwei Semester studiert, ich kenn mich ja eigentlich aus, wie das hier läuft.
Vielleicht brauchst du die Zeit in den Semesterferien, um wieder mit einem frischeren Blick zurückzukommen. Es kann ja auch etwas Negatives sein, wenn man sich so an die Strukturen gewöhnt, dass am Ende eines Semesters alle Studierenden in dieselbe Richtung denken. Hast du das Gefühl, das passiert hier?
Ich habe schon das Gefühl, dass man sich nach zwei Semestern in einer Einigkeit darin wägt, dass alle ungefähr das Gleiche über alles denken. Man erkennt ja auch, dass wir hier in einer krassen Blase sind, die sich einerseits dadurch verfestigt, wie in der Uni Sachen beigebracht werden, und andrerseits dadurch, wie die Studierenden darin agieren. So passiert eben genau das: Man denkt, alle haben hier den gleichen Blick. Aber natürlich merkt man auch, dass man das überhaupt nicht überprüfen kann.
Noch mal zum Anfang hier: Kannst du dich noch an deinen ersten Eindruck von der Stadt und von der Domäne erinnern?
Meinen allerersten Eindruck habe ich schon im Januar gesammelt, bevor ich angefangen habe zu studieren. Es war Winter, das heißt, es war das sehr, sehr graue Hildesheim. Da habe ich einen Freund hier besucht und mir mit ihm zusammen die Uni angeschaut. Ich war in einem Seminar, in dem es um Afrofuturismus ging, wovon ich vorher noch nie gehört hatte. Ich war total inspiriert und hatte ein Gefühl von „Wow, voll cool, dass ich sowas hier lernen kann!“ Und dann fühlte ich mich in meiner Unterkunft, also in der Wohnung des Freundes, total wohl und deshalb auch in Hildesheim insgesamt, obwohl ich wusste, das ist auf jeden Fall keine schöne Stadt.
Im ersten Semester dann war es für mich fast wie Urlaub, weil ich parallel in meiner Heimatstadt an einem super anstrengenden Projekt gearbeitet habe. Jedes Mal, wenn ich in Hildesheim war, gab es dann frischen Wind und total liebe Leute, die mich aufgefangen haben. Mein erster Eindruck von Hildesheim war also sehr stark dadurch geprägt, in welcher Lebenssituation ich war. Eine kleine Oase, wo ich mich viel freier und viel weniger verpflichtet gefühlt habe.
Also war es für dich kein Problem, hier Anschluss zu finden und Leute kennenzulernen. Gibt es etwas, was dir das besonders erleichtert hat?
Der Theater-Startingpoint hat es mir sehr leicht gemacht. Da macht man mit andren Erstis zwei Tage lang einen Workshop, bei dem man auf einer Bühne so ein bisschen rumprobiert und ein Ergebnis gestaltet, was am Ende aufgeführt wird. Das war ein ganz guter Anfang, um Leuten schon mal außerhalb eines Seminarkontextes näherzukommen. Besonders, weil die Bühne auch ein gewohnter Ort für mich war. Leider gab es den Startingpoint für die Erstis dieses Jahr nicht, weil es am Theaterinstitut nicht genügend Dozierende gibt.
Wie ist dein Gefühl für die Stadt und die Domäne jetzt? Würdest du Hildesheim als Zuhause bezeichnen?
Ja, schon. Ich glaube, dass ein ganz großer Anteil daran auch ist, wie ich mich hier aufgefangen und aufgehoben fühle. Gerade dadurch, dass ich in einer WG wohne, wo ich das Gefühl habe, dass es einer Ersatzfamilie nahekommt. Abgesehen davon geben mir auch die Menschen hier, die mir nahestehen, ein heimeliges Gefühl. Wenn ich zum Beispiel wegfahre und wieder in Hildesheim ankomme, werde ich meistens von jemandem am Bahnhof empfangen. Dann sitzen wir zusammen am Nordausgang und rauchen und später kochen wir noch was Leckeres. Dadurch fühle ich mich immer sehr willkommen.
Gibt es Tätigkeiten, die für dich Hildesheim-spezifisch sind, die du dir hier neu angeeignet hast?
Hildesheim-spezifisch ist vielleicht das Workspacen, also sich zu treffen, um gemeinsam Texte zu lesen oder an einer Hausarbeit zu schreiben, was diese Dinge für mich auf jeden Fall erleichtert. Ansonsten das Schwimmen in der Tonkuhle. Ich war einmal im Sommer so um 9 Uhr morgens da, als das Wasser schon wieder relativ kalt war. Das war ziemlich schön. Und Fahrradtouren sind für mich auch sehr Hildesheim-spezifisch. Das Fahrrad ist hier das erste Mittel, um überall hinzukommen.
Gibt es etwas, das der Stadt fehlt?
Mir fehlt, dass in der Stadt sichtbar ist, dass es überhaupt eine Uni gibt. Wenn ich nach Leipzig oder Dresden komme, dann habe ich das Gefühl, das ist eine Studierendenstadt, weil die Stadt irgendwie bunter ist, weil ich überall kleine Aktionskunstwerke erkennen kann und merke, dass die Leute hier etwas Künstlerisches studieren. Ich glaube, das liegt auch nicht an den Studierenden selbst. Die befinden sich überall in ihrer Blase. Aber ich würde mir wünschen, dass sie ihre Kunst in das Stadtbild hineintragen und dass z.B. von den Literaturleuten im öffentlichen Raum Texte zu finden sind oder von den Theaterleuten Performances. Diese Verbindung zwischen Uni und Stadt fehlt mir hier. Die meisten künstlerischen Veranstaltungen sind von und für Studierende.
Gibt es etwas, das die Domäne dir beigebracht hat oder auch Gewohnheiten – gute oder schlechte –, die sich hier erst geformt haben?
Was mir als erstes bei schlechten Gewohnheiten einfällt, ist, dass ich hier sehr dazu ermutigt werde zu rauchen. Rauchen und Alkohol trinken werden hier auf jeden Fall normalisiert. Abgesehen davon hat sich bei mir im letzten halben Jahr viel mehr ein Bewusstsein dafür gebildet, dass ich als weibliche Person sozialisiert bin und dass das für viele Verhaltensmuster sorgt. Zum Beispiel dafür, dass ich ganz viel Carearbeit leiste und immer die erste Person bin, die sich verantwortlich fühlt, wenn irgendwo etwas umkippt und es gilt, die Pfütze wegzuwischen.
Ich glaube, was diese Sozialisierung noch mal bestärkt hat, ist, dass ich irgendwann gelernt habe, dass Umsichtigkeit eine gute Eigenschaft ist. Insofern als dass Leute es sehr schätzen, wenn man Dinge sieht, die getan werden müssen, oder wenn man einfach aufmerksam für die Bedürfnisse anderer ist. Das äußert sich dann in Situationen wie „Ich schiebe dir einen Aschenbecher und ein Feuerzeug zu, weil ich sehe, dass du rauchen willst.“ Aber es geht natürlich noch viel weiter und prägt ganz stark mein Leben und welche Art von Beziehungen ich mit anderen Menschen pflege. Dafür wächst gerade ein Bewusstsein in mir heran und das tut auf jeden Fall gut, weil es für viele Dinge eine Erklärung liefert, die sich gar nicht so cool anfühlen.
Gender und Sozialisierung ist ja auch ein präsentes Thema an der Domäne. Hat das Zusammensein mit Menschen, die dieses Interesse haben, diese Entwicklung noch mal befördert?
Ja, vor allem das Zusammensein mit Menschen, mit denen ich darüber reden kann und nicht beim Urschleim anfangen muss, sondern die auch schon Ideen und Gedanken dazu haben, sodass da sehr fruchtbare Gespräche entstehen können.
Würdest du, jetzt nach einem Jahr, sagen, dass es eine Domäne-Mentalität gibt?
Mein Eindruck von der Domäne ist, dass wir alle sehr politisch sind, aber dass das Politische sehr formal ist und sich vor allem in einer politischen Sprache wiederspiegelt. Dass es wie so eine Art Vokabellernen ist. Wenn ich diese Vokabeln kann, gehöre ich also zu den Leuten, von denen man denkt: „Ihr wisst genau, wovon ihr redet. Ihr habt euch mit Dingen beschäftigt.“ Aber es ist eigentlich nur Vokabular und kein sich-mit-den-Dingen-Auseinandersetzen. Das führt dazu, dass Gespräche sich eher um die Sprache drehen und weniger um das, worum es eigentlich inhaltlich ging.
Es fehlt mir auf der Domäne, dass man sich über Themen wirklich tiefgreifend unterhält, gerade weil wir an einem Ort sind, wo ich sehr viel Potential für Engagement sehe. Aber wenn ich so mitbekomme, wer sich eigentlich von den Leuten, die an der Domäne sind, engagiert, sind da ganz viele, die sich eher dafür interessieren, coole Projekte zu machen, um dann einen Fuß in der Kulturszene zu haben und als freischaffende Künstlerin zu arbeiten.
Was meinst du, wirst du in 5 oder 10 Jahren über deine Zeit hier denken?
Ich gehe auf jeden Fall davon aus, dass ich nicht denken werde, dass ich die Zeit verschwendet habe. Ich kann mir vorstellen, dass ich denken werde: Gut, dass ich das hier gemacht habe, aber auch cool, dass ich mich dann wieder davon gelöst habe und jetzt was ganz anderes mache. Dieses Studium bereitet mich ja auch nur so semi darauf vor, wie es vielleicht ist, wenn ich in 5 oder 10 Jahren arbeite. Hildesheim schafft es eher, dass ich ein breiteres Bild bekomme und mich weiterentwickle in der Frage, wie ich auf die Welt und auf Strukturen schaue. Trotzdem hab ich den Eindruck, dass die Veranstaltungen hier schon sehr stark davon ausgehen, dass ich irgendwann freischaffende Künstlerin bin. Aber ich glaube gerade nicht, dass ich diese Art von Leben will, wo ich die ganze Zeit hin- und herrenne, um meine zwei Workshops zu geben und nebenbei noch fünf andere Projekte mache.
Wie würdest du die Domäne und das, was du dort tust, deinen Eltern erklären?
Ich sitze in kleinen Räumen mit vielen anderen Menschen und wir lesen ganz viel in Vorbereitung auf den Moment, in dem wir endlich darüber reden, nur um dann festzustellen: „Oh, wir schaffen nur das erste Kapitel. Gut. Ehm … das zweite werden wir in der nächsten Sitzung auch nicht schaffen, weil da ist ja schon der nächste Text dran. Sitzung beendet.“ Und die Texte, die wir lesen, versuchen die ganze Zeit wissenschaftlich zu sein, bei Themen, die schwer zu verwissenschaftlichen sind, weil es, wenn es um Theater geht, niemandem leichtfällt, wertungsfrei zu bleiben. Deshalb wird die ganze Zeit nur darüber geredet, ob das jetzt gutes oder schlechtes Theater ist, ohne „gut“ oder „schlecht“ zu sagen. Und wir haben unendlich viele Wörter, die das beschreiben.
In welche Hogwarts-Häuser würdest du die Fachbereiche einordnen?
Ich weiß nur, dass die Kreativen Schreiber Slytherin sind. Wenn ich es aus einer arroganten Szenische-Künste-Perspektive betrachten würde, dann sind die Klugen auf jeden Fall die PKM-Leute, weil die ganz viel nachdenken. Die Gryffindors wären dann die SK-Leute, weil sie sich die ganze Zeit für was Besonderes halten, obwohl SK und Kuwi bis auf ein Modul haargenau das gleiche ist. Und die Kuwis sind Hufflepuff, weil da der ganze Rest ist.
Vielen Dank!
Ein Beitrag von Katharina Schröder