Ein Jahr später — ein Zwischenfazit

"Am Ende bist du immer noch du und nicht Hildes­heim." — Ein Jahr ist es her, dass mich dieser Satz, in Rotstift auf die Heizung einer Domäne-Toilette gekrit­zelt, zum Grübeln brachte. Mitt­ler­weile bin ich lange kein Ersti mehr, genau wie meine Kommi­li­to­nInnen. Höchste Zeit für ein Zwischenfazit!

Maya [21]

Maya, 21, studiert seit einem Jahr den Bachelor Szeni­sche Künste an der Uni Hildes­heim. Im Gespräch reflek­tiert sie, warum Voka­beln lernen nicht ausreicht und Hildes­heim fast wie Urlaub ist …

Lars [22]

Lars, 22, studiert seit einem Jahr den Bachelor Szeni­sche Künste an der Uni Hildes­heim. Im Gespräch erzählt er von einem Campus mit Festi­val­f­lair und warum Szeni­sche Künste eben doch Slytherin ist …

Jan [29]

Jan, 29, studiert seit einem Jahr den Master Lite­ra­ri­sches Schreiben und Lekto­rieren an der Uni Hildes­heim. Im Gespräch erklärt er, was Semi­nare mit Zügen gemeinsam haben und warum die Domäne ein Neon­mär­chen ist …

Ein Jahr später — ein Zwischenfazit

Maya [21, Bachelor Szeni­sche Künste]

In meinem ersten Semester auf der Domäne habe ich auf der Toilette einen Spruch entdeckt, der mich seitdem nicht mehr losge­lassen hat: „Am Ende bist du immer noch du und nicht Hildes­heim.“ Was fällt dir dazu ein?

Mir fällt dazu ein, dass Hildes­heim für mich auch ein Synonym ist für eine Art zu spre­chen, eine Art sich zu bewegen, eine Art sich zu kleiden, fast schon eine Art zu denken in dem Sinne, dass Sprache noch mal andere Denk­muster aufmacht. Wenn ich diesen Spruch gelesen habe, kam ich immer auf den Gedanken, wie nah ich jetzt diesem Bild von Hildes­heim bin. Manchmal hat mich dieser Satz beru­higt, weil ich mich diesem Bild näher gefühlt habe und dann aber da stand: „Am Ende bist du immer noch DU und NICHT Hildes­heim.“ Manchmal habe ich es aber auch in einem Modus gelesen von „Okay, ist halt so. Ich kann damit leben.“ Ich sehe den Spruch als Erin­ne­rung daran, dass das alles – dieses Bild von der Domäne und den Leuten hier – auch nur eine Selbst­be­haup­tung ist, die ich aufrecht­erhalten kann oder auch nicht. Dass ich mich also auch auf ein „Ich find das viel­leicht gar nicht so gut“ zurück­be­sinnen kann.

Empfin­dest du einen Druck, domä­ne­kon­form zu sein?

Ja, aber ich glaube, dass sich dieser Druck weniger dadurch äußert, dass ich ermahnt werde, mich auf eine bestimmte Art zu verhalten, und mehr dadurch, dass ich das anderen andichte. Für mich ist eine Hildes­heimer Haltung so ein sehr starkes Achten darauf, was man darf und was man nicht darf, wo Diskri­mi­nie­rung anfängt und wo sie aufhört. Im ersten Semester hab ich noch gar nicht gewusst, was da die Stan­dards und die Kodie­rungen sind, und in einem Vortrag wurde auf jeden Fall auch kriti­siert, dass ich diesen Stan­dards nicht entspro­chen habe.

 

Hat das am Anfang für dich dazu geführt, dass du Angst hattest, das Falsche zu sagen?

Ich hatte keine Angst, was Falsches zu sagen, weil ich das Gefühl hatte, was Neues zu lernen, und das total cool fand. Ein Stück weit mag ich es auch, mich an eine Gruppe anzu­passen und zu merken, dass das funk­tio­niert, wenn ich bestimmte Dinge beachte. In einem gege­benen Rahmen kann ich hier also gut funk­tio­nieren. Nur war ich zum Beispiel am Anfang dieses Semes­ters krass damit über­for­dert, mich hier wieder zurecht­zu­finden, weil ich das Gefühl hatte, ich habe diesen Code über die Semes­ter­fe­rien verlernt, dadurch dass ich in ganz andren Grup­pen­struk­turen unter­wegs war. Da hab mich auf jeden Fall sehr out of gefühlt, weil ich dachte, jetzt hab ich hier schon zwei Semester studiert, ich kenn mich ja eigent­lich aus, wie das hier läuft.

 

Viel­leicht brauchst du die Zeit in den Semes­ter­fe­rien, um wieder mit einem frischeren Blick zurück­zu­kommen. Es kann ja auch etwas Nega­tives sein, wenn man sich so an die Struk­turen gewöhnt, dass am Ende eines Semes­ters alle Studie­renden in dieselbe Rich­tung denken. Hast du das Gefühl, das passiert hier?

Ich habe schon das Gefühl, dass man sich nach zwei Semes­tern in einer Einig­keit darin wägt, dass alle unge­fähr das Gleiche über alles denken. Man erkennt ja auch, dass wir hier in einer krassen Blase sind, die sich einer­seits dadurch verfes­tigt, wie in der Uni Sachen beigebracht werden, und andrer­seits dadurch, wie die Studie­renden darin agieren. So passiert eben genau das: Man denkt, alle haben hier den glei­chen Blick. Aber natür­lich merkt man auch, dass man das über­haupt nicht über­prüfen kann.

 

Noch mal zum Anfang hier: Kannst du dich noch an deinen ersten Eindruck von der Stadt und von der Domäne erinnern?

Meinen aller­ersten Eindruck habe ich schon im Januar gesam­melt, bevor ich ange­fangen habe zu studieren. Es war Winter, das heißt, es war das sehr, sehr graue Hildes­heim. Da habe ich einen Freund hier besucht und mir mit ihm zusammen die Uni ange­schaut. Ich war in einem Seminar, in dem es um Afro­fu­tu­rismus ging, wovon ich vorher noch nie gehört hatte. Ich war total inspi­riert und hatte ein Gefühl von „Wow, voll cool, dass ich sowas hier lernen kann!“ Und dann fühlte ich mich in meiner Unter­kunft, also in der Wohnung des Freundes, total wohl und deshalb auch in Hildes­heim insge­samt, obwohl ich wusste, das ist auf jeden Fall keine schöne Stadt.

Im ersten Semester dann war es für mich fast wie Urlaub, weil ich parallel in meiner Heimat­stadt an einem super anstren­genden Projekt gear­beitet habe. Jedes Mal, wenn ich in Hildes­heim war, gab es dann frischen Wind und total liebe Leute, die mich aufge­fangen haben. Mein erster Eindruck von Hildes­heim war also sehr stark dadurch geprägt, in welcher Lebens­si­tua­tion ich war. Eine kleine Oase, wo ich mich viel freier und viel weniger verpflichtet gefühlt habe.

 

Also war es für dich kein Problem, hier Anschluss zu finden und Leute kennen­zu­lernen. Gibt es etwas, was dir das beson­ders erleich­tert hat?

Der Theater-Start­ing­point hat es mir sehr leicht gemacht. Da macht man mit andren Erstis zwei Tage lang einen Work­shop, bei dem man auf einer Bühne so ein biss­chen rumpro­biert und ein Ergebnis gestaltet, was am Ende aufge­führt wird. Das war ein ganz guter Anfang, um Leuten schon mal außer­halb eines Semi­nar­kon­textes näher­zu­kommen. Beson­ders, weil die Bühne auch ein gewohnter Ort für mich war. Leider gab es den Start­ing­point für die Erstis dieses Jahr nicht, weil es am Thea­ter­in­stitut nicht genü­gend Dozie­rende gibt.

 

Wie ist dein Gefühl für die Stadt und die Domäne jetzt? Würdest du Hildes­heim als Zuhause bezeichnen?

Ja, schon. Ich glaube, dass ein ganz großer Anteil daran auch ist, wie ich mich hier aufge­fangen und aufge­hoben fühle. Gerade dadurch, dass ich in einer WG wohne, wo ich das Gefühl habe, dass es einer Ersatz­fa­milie nahe­kommt. Abge­sehen davon geben mir auch die Menschen hier, die mir nahe­stehen, ein heime­liges Gefühl. Wenn ich zum Beispiel wegfahre und wieder in Hildes­heim ankomme, werde ich meis­tens von jemandem am Bahnhof empfangen. Dann sitzen wir zusammen am Nord­aus­gang und rauchen und später kochen wir noch was Leckeres. Dadurch fühle ich mich immer sehr willkommen.

 

Gibt es Tätig­keiten, die für dich Hildes­heim-spezi­fisch sind, die du dir hier neu ange­eignet hast?

Hildes­heim-spezi­fisch ist viel­leicht das Workspacen, also sich zu treffen, um gemeinsam Texte zu lesen oder an einer Haus­ar­beit zu schreiben, was diese Dinge für mich auf jeden Fall erleich­tert. Ansonsten das Schwimmen in der Tonkuhle. Ich war einmal im Sommer so um 9 Uhr morgens da, als das Wasser schon wieder relativ kalt war. Das war ziem­lich schön. Und Fahr­rad­touren sind für mich auch sehr Hildes­heim-spezi­fisch. Das Fahrrad ist hier das erste Mittel, um überall hinzukommen.

 

Gibt es etwas, das der Stadt fehlt?

Mir fehlt, dass in der Stadt sichtbar ist, dass es über­haupt eine Uni gibt. Wenn ich nach Leipzig oder Dresden komme, dann habe ich das Gefühl, das ist eine Studie­ren­den­stadt, weil die Stadt irgendwie bunter ist, weil ich überall kleine Akti­ons­kunst­werke erkennen kann und merke, dass die Leute hier etwas Künst­le­ri­sches studieren. Ich glaube, das liegt auch nicht an den Studie­renden selbst. Die befinden sich überall in ihrer Blase. Aber ich würde mir wünschen, dass sie ihre Kunst in das Stadt­bild hinein­tragen und dass z.B. von den Lite­ra­tur­leuten im öffent­li­chen Raum Texte zu finden sind oder von den Thea­ter­leuten Perfor­mances. Diese Verbin­dung zwischen Uni und Stadt fehlt mir hier. Die meisten künst­le­ri­schen Veran­stal­tungen sind von und für Studierende.

 

Gibt es etwas, das die Domäne dir beigebracht hat oder auch Gewohn­heiten – gute oder schlechte –, die sich hier erst geformt haben?

Was mir als erstes bei schlechten Gewohn­heiten einfällt, ist, dass ich hier sehr dazu ermu­tigt werde zu rauchen. Rauchen und Alkohol trinken werden hier auf jeden Fall norma­li­siert. Abge­sehen davon hat sich bei mir im letzten halben Jahr viel mehr ein Bewusst­sein dafür gebildet, dass ich als weib­liche Person sozia­li­siert bin und dass das für viele Verhal­tens­muster sorgt. Zum Beispiel dafür, dass ich ganz viel Care­ar­beit leiste und immer die erste Person bin, die sich verant­wort­lich fühlt, wenn irgendwo etwas umkippt und es gilt, die Pfütze wegzuwischen.

Ich glaube, was diese Sozia­li­sie­rung noch mal bestärkt hat, ist, dass ich irgend­wann gelernt habe, dass Umsich­tig­keit eine gute Eigen­schaft ist. Inso­fern als dass Leute es sehr schätzen, wenn man Dinge sieht, die getan werden müssen, oder wenn man einfach aufmerksam für die Bedürf­nisse anderer ist. Das äußert sich dann in Situa­tionen wie „Ich schiebe dir einen Aschen­be­cher und ein Feuer­zeug zu, weil ich sehe, dass du rauchen willst.“ Aber es geht natür­lich noch viel weiter und prägt ganz stark mein Leben und welche Art von Bezie­hungen ich mit anderen Menschen pflege. Dafür wächst gerade ein Bewusst­sein in mir heran und das tut auf jeden Fall gut, weil es für viele Dinge eine Erklä­rung liefert, die sich gar nicht so cool anfühlen.

 

Gender und Sozia­li­sie­rung ist ja auch ein präsentes Thema an der Domäne. Hat das Zusam­men­sein mit Menschen, die dieses Inter­esse haben, diese Entwick­lung noch mal befördert?

Ja, vor allem das Zusam­men­sein mit Menschen, mit denen ich darüber reden kann und nicht beim Ursch­leim anfangen muss, sondern die auch schon Ideen und Gedanken dazu haben, sodass da sehr frucht­bare Gespräche entstehen können.

 

Würdest du, jetzt nach einem Jahr, sagen, dass es eine Domäne-Menta­lität gibt?

Mein Eindruck von der Domäne ist, dass wir alle sehr poli­tisch sind, aber dass das Poli­ti­sche sehr formal ist und sich vor allem in einer poli­ti­schen Sprache wieder­spie­gelt. Dass es wie so eine Art Voka­bel­lernen ist. Wenn ich diese Voka­beln kann, gehöre ich also zu den Leuten, von denen man denkt: „Ihr wisst genau, wovon ihr redet. Ihr habt euch mit Dingen beschäf­tigt.“ Aber es ist eigent­lich nur Voka­bular und kein sich-mit-den-Dingen-Ausein­an­der­setzen. Das führt dazu, dass Gespräche sich eher um die Sprache drehen und weniger um das, worum es eigent­lich inhalt­lich ging.

Es fehlt mir auf der Domäne, dass man sich über Themen wirk­lich tief­grei­fend unter­hält, gerade weil wir an einem Ort sind, wo ich sehr viel Poten­tial für Enga­ge­ment sehe. Aber wenn ich so mitbe­komme, wer sich eigent­lich von den Leuten, die an der Domäne sind, enga­giert, sind da ganz viele, die sich eher dafür inter­es­sieren, coole Projekte zu machen, um dann einen Fuß in der Kultur­szene zu haben und als frei­schaf­fende Künst­lerin zu arbeiten.

 

Was meinst du, wirst du in 5 oder 10 Jahren über deine Zeit hier denken?

Ich gehe auf jeden Fall davon aus, dass ich nicht denken werde, dass ich die Zeit verschwendet habe. Ich kann mir vorstellen, dass ich denken werde: Gut, dass ich das hier gemacht habe, aber auch cool, dass ich mich dann wieder davon gelöst habe und jetzt was ganz anderes mache. Dieses Studium bereitet mich ja auch nur so semi darauf vor, wie es viel­leicht ist, wenn ich in 5 oder 10 Jahren arbeite. Hildes­heim schafft es eher, dass ich ein brei­teres Bild bekomme und mich weiter­ent­wickle in der Frage, wie ich auf die Welt und auf Struk­turen schaue. Trotzdem hab ich den Eindruck, dass die Veran­stal­tungen hier schon sehr stark davon ausgehen, dass ich irgend­wann frei­schaf­fende Künst­lerin bin. Aber ich glaube gerade nicht, dass ich diese Art von Leben will, wo ich die ganze Zeit hin- und herrenne, um meine zwei Work­shops zu geben und nebenbei noch fünf andere Projekte mache.

 

Wie würdest du die Domäne und das, was du dort tust, deinen Eltern erklären?

Ich sitze in kleinen Räumen mit vielen anderen Menschen und wir lesen ganz viel in Vorbe­rei­tung auf den Moment, in dem wir endlich darüber reden, nur um dann fest­zu­stellen: „Oh, wir schaffen nur das erste Kapitel. Gut. Ehm … das zweite werden wir in der nächsten Sitzung auch nicht schaffen, weil da ist ja schon der nächste Text dran. Sitzung beendet.“ Und die Texte, die wir lesen, versu­chen die ganze Zeit wissen­schaft­lich zu sein, bei Themen, die schwer zu verwis­sen­schaft­li­chen sind, weil es, wenn es um Theater geht, niemandem leicht­fällt, wertungs­frei zu bleiben. Deshalb wird die ganze Zeit nur darüber geredet, ob das jetzt gutes oder schlechtes Theater ist, ohne „gut“ oder „schlecht“ zu sagen. Und wir haben unend­lich viele Wörter, die das beschreiben.

 

In welche Hogwarts-Häuser würdest du die Fach­be­reiche einordnen?

Ich weiß nur, dass die Krea­tiven Schreiber Slytherin sind. Wenn ich es aus einer arro­ganten Szeni­sche-Künste-Perspek­tive betrachten würde, dann sind die Klugen auf jeden Fall die PKM-Leute, weil die ganz viel nach­denken. Die Gryffin­dors wären dann die SK-Leute, weil sie sich die ganze Zeit für was Beson­deres halten, obwohl SK und Kuwi bis auf ein Modul haar­genau das gleiche ist. Und die Kuwis sind Huffle­puff, weil da der ganze Rest ist.

 

Vielen Dank!

Ein Beitrag von Katha­rina Schröder