Kesslerstraße 57 in Hildesheim. Das schönste Fachwerkhaus der ganzen Stadt steht hier. Die ehemalige Freimaurerloge. Abseits der Straße in einem Hinterhof steht das sagenumwobene Gebäude. Wer einen Blick darauf erhaschen will, muss durch den großen Torbogen blicken. „Ob es die Freimaurer noch gibt?“, fragt sich der eine. „Ob sie sich wirklich in diesem Gebäude treffen?“, fragt sich eine andere.
Umso überraschender ist es, das Symbol eines schwarzen Uhus auf einer silbernen Tafel vorzufinden, die am steinernen Torbogen befestigt ist. Es ist nicht das Symboltier der Freimaurer. Doch gehört es zu einem anderen jahrhundertealten Bund aus Männern, die sich einer bestimmten Gemeinschaft und Lebensweise verschrieben haben. Der Schlaraffia.
Es ist 19:30 Uhr an einem gewöhnlichen Montagabend. Die Luft ist nasskalt und alte Laternen werfen schummriges Licht auf den Innenhof der ehemaligen Freimaurerloge. Helmut Siegel, in einen langen schwarzen Mantel gehüllt, erklimmt die Treppen, die zur Eingangstür des Gebäudes führen. In der linken Hand hält er einen schwarzen, unauffälligen Koffer.
„Seine Augen leuchten, wenn er von der Geschichte, den Traditionen und den Bräuchen der Schlaraffia erzählt.„
Schon seit mehr als 10 Jahren steigt Siegel diese Treppenstufen auf und ab. Meistens montags. Denn immer dann finden die Sippungsabende der Schlaraffia für gewöhnlich statt. Sie ist ein weltweiter, deutschsprachiger Männerbund zur Pflege von Kunst, Freundschaft und Humor. Die Schlaraffia wurde 1859 in Prag gegründet. Dort traf sich eine zunächst vorwiegend aus Künstlern, meist Schauspielern, bestehende Runde, die nicht nur den schönen Künsten huldigte, sondern auch mit satirischer Lust die Überheblichkeit des Adels und des tonangebenden Beamtentums aufs Korn nahm.
165 Jahre später betritt Ritter Schalk-Jahr vom Galgenberg – Helmut Siegel als Privatperson – den Vorraum des Rittersaals, um seine Unterschrift ins Schmierbuch – Fremdenbuch – zu setzen. Er grüßt die anwesenden Schlaraffen und nimmt ein kleines Mahl zu sich, bevor er seinen schwarzen Koffer öffnet. Seine Hände durchfahren weichen, blauen Stoff, der mit bunten Patches und Ansteckern bedeckt ist, die Rüstung. Daneben liegt eine bunte Mütze, die an einen Ritterhelm erinnert.
Ritterrüstung und Ritterhelm sind zentraler Bestandteil des Rollenspiels, das die Schlaraffen gemeinsam spielen. Als Ritter verkleidet treffen sie sich seit ihrer Gründung immer abends, um ein schrulliges und kreatives Rollenspiel in ihrem Festsaal zu spielen. Dabei haben die Sippungsabende sowohl eine räumlich, als auch zeitlich feste Struktur, die die Rahmung des Spiels ausmacht.
Und der Abend beginnt
Ritter Schalk-Jahr sitzt als Mitglied des Oberschlaraffenrats am Ende des langen Saals hinter einem massiven Tisch auf einem Podest, von dem aus er den ganzen Raum überblicken kann. Zusammen mit zwei weiteren Rittern leitet er die restlichen Schlaraffen durch den Abend. Für gewöhnlich sind zwischen 10 und 20 Mitglieder anwesend. Zu besonderen Anlässen bis zu 100. Heute sind es 13. Der Oberschlaraffenrat begrüßt die anwesenden Ritter mit einem herzlichen „Lulu“. Anschließend werden fehlende Schlaraffen entschuldigt, das Protokoll des letzten Sippungsabends verlesen und Botschaften aus den anderen schlaraffischen Reychen verlesen.
Der Dachverband, die Allschlaraffia, vereint mehr als 250 Reyche, die von Australien über Deutschland bis nach Thailand reichen. Zu den umliegenden Reychen der Schlaraffia Hildesia zählen die Reyche Peinense (Peine), Brunsviga (Braunschweig) und Hannovera (Hannover), die in regem Austausch miteinander stehen. Insgesamt zählt die Allschlaraffia knapp 10.000 Mitglieder weltweit.
Zurück am Sippungsabend: Feierlich erheben sich die Ritter und singen aus voller Kehle die schlaraffische Hymne. Doch wird es nicht die letzte musikalische Darbietung des Abends sein. Nachdem der formelle Teil des Abends zelebriert wurde, begeben sich die Schlaraffen in den Vorraum des Rittersaals, um sich an Atzung und Labung – Speis und Trank – zu erfreuen. Dafür legen sie ihre Rüstungen ab, schlüpfen für einen Moment aus ihrer Rolle und führen als Privatpersonen Gespräche.
Mir gegenüber sitzt nun wieder Helmut Siegel. Seine Augen leuchten, wenn er von der Geschichte, den Traditionen und den Bräuchen der Schlaraffia erzählt. Schlaraffe, beispielsweise, komme nicht von Schlaraffenland, sondern von Slur Affe, was im Mittelhochdeutschen sorgloser Genießer bedeute. Allgemein verwende die Schlaraffia viele Begriffe aus der Zeit seiner Gründung und habe eine eigene Sprache.
Brief | Sendbote |
Besuch, besuchen | Einritt, einreiten |
Essen | Labung, laben |
Feuerzeug | Brandfackel |
Fremdenbuch | Schmierbuch |
Geige | Seufzerholz |
Geld | Mammon |
Gitarre | Minneholz |
Klavier | Clavicimbel |
Mitglieder der Schlaraffia | Sassen |
Trinken | Labung, laben |
Bier | Quell |
Wein | Lethe |
Champagner | Schaumlethe |
Krankheit | Bresthaftigkeit |
Rauchen | schmauchen |
Sitzung in der Burg | Sippung |
Sitzungsraum | Burg |
Sitzungspause | Schmuspause |
Sitzungstag | Uhutag |
Sterben | in Alhalla einreiten |
Versammlung in der Burg | Sippung |
Wählen | erküren |
Zigarre, Zigarette | Lunte, Luntette |
Kalenderjahr (Jahreszahl) | a.U. (anno Uhui) |
Jahr | Jahrung |
Monat | Mond |
Januar | Eismond |
Februar | Hornung |
März | Lenzmond |
April | Ostermond |
Mai | Wonnemond |
Juni | Brachmond |
Juli | Heumond |
August | Erntemond |
September | Herbstmond |
Oktober | Lethemond |
November | Windmond |
Dezember | Christmond |
Der Uhu wacht über die Zeit – die Geschichte der Schlaraffia
Politische Positionen, Religion und Beruf haben in der Schlaraffia seit jeher keinen Platz. So wurde die Schlaraffia Hildesia, als sie sich vor Beginn des zweiten Weltkriegs weigerte, den Nationalsozialisten anzuschließen, 1937 zwangsaufgelöst. Die Sassen trafen sich von nun an unter dem Deckmantel eines Kegelclubs. Erst nach Ende des zweiten Weltkriegs konnten sie die Sippungsabende wiederaufnehmen. Die Zeit dazwischen bezeichnen sie selbst als uhufinstere Zeit.
„Umso überraschender ist es, das Symbol eines schwarzen Uhus auf einer silbernen Tafel vorzufinden, die am steinernen Torbogen befestigt ist.“
Der Uhu nimmt als Symboltier der Schlaraffia eine zentrale Rolle in den Bräuchen und Traditionen des Bundes ein. Umso weniger zu erwarten ist es, dass er durch puren Zufall zu seiner Bedeutung gelangte. 1859 irgendwo in Prag. Einige Männer, darunter hauptsächlich Schauspieler des Deutschen Theaters in Prag versammeln sich regelmäßig in einer Kneipe. Über der Eingangstür hängt ein Uhu. Die besagte Kneipe wird kurze Zeit später zum Gründungsort der Schlaraffia werden. Und seitdem wacht der Uhu, der für Weisheit, Humor und Tugend steht, über diesen Bund. Die Tradition besagt, dass sich ein jeder Schlaraffe beim Betreten der Burg vor dem Uhu verbeugen muss, um sich voll und ganz auf das schlaraffische Rollenspiel einzulassen.
: Die Schlaraffia – von Männerbünden und TheaterspielenGenug geschmust – der Abend geht weiter
Die Schmuspause ist vorbei und Helmut Siegel und die anderen schlüpfen wieder in ihre Kostüme und damit auch in ihre Rollen als Ritter. Der zweite Teil des Abends ist vor allem der Kunst gewidmet. Die Ritter tragen dabei sowohl fremde Texte, als auch Fechsungen – eigene Texte – vor. Die Vielfalt und Bandbreite der Texte ist groß und reicht von gereimten Gedichten und Erzählungen, über Texte im Versmaß bis hin zu Beobachtungen und philosophischen Betrachtungen verschiedenster Gegenstände. Meinungen zu Politik, Religion und Beruf sind jedoch nicht zugelassen.
An diesem Sippungsabend trägt Ritter Musitast einen eigenen Text vor, in welchem er über den digitalen Fortschritt nachdenkt.
Ich will den Fortschritt nicht beklagen,
ob virtuell, ob digital;
doch nach dem Sinn und Zweck zu fragen,
die Frage lohnt sich allemal!
Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten,
wenn das auch manchem nicht gefällt.
Er nimmt nicht Rücksicht auf die Alten
in ihrer analogen Welt.
Ob´s gut, ob´s schlecht,
sei´s wie es wolle,
ein jeder hat das gute Recht
auf Orientierung und Kontrolle!
Fehlt der Bezug zur Wirklichkeit,
weil virtuell sie wahrgenommen,
verliert man leicht die Übersicht
weiß bald nicht mehr, wie das gekommen.
Des Menschen Kreativität
lässt Hoffnung zu und Heiterkeit.
Sie kennt die Trauer, Pietät,
und auch die Oberflächlichkeit.
Doch auch die Kunst und den Humor
verdanken wir der Phantasie.
Als unverbesserlicher Tor
ruf ich zum Schluss:
„Hoch lebe sie!“
Wie andere selbstverfasste Texte der Ritter zeigen, gelingt der Versuch der Gratwanderung nicht immer…
…und gelegentlich geschieht es, dass politische Positionen und Meinungen in sie miteinfließen. Es ist unvermeidbar, dass das ambitionierte Ziel, sich jedweder Positionierung zu entziehen, nicht immer erreicht werden kann. Doch im Vordergrund der Schlaraffen steht ihre Haltung und Ausrichtung ihres Lebens nach gewissen Werten und Lebensweisen: Der Pflege von Kunst, Freundschaft und Humor. Ritter Schalk-Jahr erhebt noch ein letztes Mal seine Stimme und beschließt den Abend mit einem herzlichen „Lulu“. Die Sassen bilden nun einen Kreis und stehen Hand in Hand in der Mitte des Rittersaals. Sie stimmen ein letztes Lied zum Abschied an. Der Marshall schlägt noch einmal kräftig den Gong. Und dann ist der Abend offiziell beendet. Die Ritter verlassen den Saal. Und übrig bleiben einige Männer mit blauen Mänteln in schwarzen unauffälligen Koffern, die das Dunkel der Nacht nach und nach verschluckt.
Mitgliederschwund
Die meisten haben die ehemalige Freimaurerloge bereits verlassen. Es ist spät. Mit den Gebliebenen spreche ich über die Zukunft der Schlaraffia und ihre Herausforderungen. Nicht nur in Hildesheim hat die Schlaraffia mit einem Mitgliederschwund und einem Nachwuchsproblem zu kämpfen. Die Anzahl der Mitglieder schrumpft weltweit — der Altersdurchschnitt steigt.
Die Ursache des Mitgliederschwunds mag verschiedene Gründe haben: Überalterung, neue Arten der Freizeitgestaltung, ein in die Jahre gekommener Zeitgeist. Fest steht aber auch die Einzigartigkeit dieser Gemeinschaft.
Denn wo findet man heute, in einer Gesellschaft, die immer mehr an kollektiver Einsamkeit leidet, noch solidarische Gemeinschaft, die das Leben mit Hilfe eines schrulligen und kreativen Rollenspiels feiert, reflektiert und genießt?
Doch das Potential der Schlaraffia bleibt noch unausgeschöpft. Sie sollte sich in Zeiten, in denen die Forderung nach Inklusion in allen Lebensbereichen immer lauter wird, die Frage stellen: Wie exklusiv wollen wir sein? Die Mitglieder haben sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg aus ihrer Phantasie eine eigene Welt geschaffen. Aber nicht, weil sie sich zwingend abgrenzen wollen, sondern weil die Verbindung und der Austausch mit den jüngeren Generationen mit der Zeit immer schwächer geworden ist. Nun ist der Kontakt beinahe ganz abgebrochen.
Zukunftsperspektiven
Gerade jetzt könnte dieser Austausch über die Fragen und Themen unserer Zeit der Schlaraffia einen erfrischenden Perspektivwechsel bringen. Inklusion, Exklusivität sowie Fragen der Gendergerechtigkeit könnten in einem neuen Licht betrachtet werden.
„Wie exklusiv wollen wir sein?„
Es ist legitim, sich ausschließlich unter Männern zu treffen. Doch könnte die Schlaraffia sich zukünftig auch Frauen öffnen? Zu diesen Fragen finden sich in der Schlaraffia momentan verschiedene Positionen. Während sich einige klar gegen eine Öffnung aussprechen, können sich andere eine schrittweise Öffnung durchaus vorstellen.
Aufgrund des Mitgliederschwunds, der Überalterung sowie des Nachwuchsmangels dürfte diese Frage in den nächsten Jahren an Dringlichkeit gewinnen. Denn das Nachwuchsproblem ließe sich durch ein inklusiveres, moderneres Konzept möglicherweise lösen. In der Schlaraffia schlummert ein ungenutztes Potential und die Zukunft wird zeigen, ob sie es nutzen wird.
Kontakt
Die Schlaraffen freuen sich sehr über Neugierige und Interessierte, die Lust haben, ihre Vereinigung kennenzulernen. Tür und Tor stehen jeder und jedem jeder Zeit offen!
Bei Interesse kann Kontakt über ihre Website aufgenommen werden. Hildesias aktuelle Seite (schlaraffia-hildesia.de)
Ein Beitrag von: Moritz Waldthaler, veröffentlicht am 16.03.2024