Desk­top­filme: Die Städte der Zukunft

von Bruno Brandes I 05.11.2020

In ihrem Kurz­film Image of the City (1969) skiz­zierten Charles und Ray Eames diverse Bild­ge­bungs­ver­fahren wie Radar­auf­nahmen, Ther­mo­gramme, compu­ter­ge­nerierte Grafiken, Foto­gra­fien und Satel­li­ten­bilder, um daraus Infor­ma­tionen über eine Stadt abzu­leiten. Was dem Film histo­risch bedingt fehlt, ist Kritik am „algo­rithmic ‚dataism‘“ (T.J. Demos), wie sie gegen­wärtig formu­liert wird. Wie lassen sich Städte heute darstellen und wie kommen „data settings“ (Yanni Alex­ander Loukissas) ins Bild? Wie verän­dern smarte Tech­no­lo­gien die Stadt? Welche Bilder sind emble­ma­tisch für die gegen­wär­tige Lage und welche Bilder macht eine Stadt von ihren Bewohner*innen?

Heute ist es ein Verbund aus Sensoren, Satel­liten, Algo­rithmen und Machine Lear­ning, die eine Stadt als Bild und Daten­quelle auswerten. Eine smarte Stadt besteht aus vielen kleinen Sensoren, die in lokalen Netz­werken arbeiten und städ­ti­sche Infra­struktur steuern. Dazu gehört der Platt­form-Urba­nismus (Sarah Barns), bestehend aus Platt­form­diensten und Apps, die das städ­ti­sche Konsum­ver­halten verän­dern (Mobi­lität, Wohnen, Liefer­ser­vices, Cowor­king). In welchem Verhältnis bei diesen Tech­no­lo­gien das Ermög­li­chungs­po­ten­tial zu Funk­tionen der Über­wa­chung und Kontrolle steht, wird disku­tiert. Häufig treten Stadt­vi­sionen wie die Smart City oder die Global City als zentra­li­sierte Top-down-Orga­ni­sa­ti­ons­formen auf. Wo gibt es Poten­tiale für städ­ti­sche Selbst­or­ga­ni­sa­tion von unten und alter­na­tive Konzepte wie die Sanc­tuary City oder die Open City? Wie werden diese Ideen in digi­talen Bild­kul­turen repräsentiert? 

In den Desktop-Videos (vgl. Kevin B. Lee, desktop docu­men­tary) wird der Computer-Desktop zur Bühne für selbst aufge­nom­menes und gesam­meltes Mate­rial (Texte, Zitate, Film­aus­schnitte, Audio- und Video­clips), das in mehreren ‚Fens­tern‘ (Windows) ange­ordnet und präsen­tiert werden kann. Das Desktop-Video ruft unter­schied­liche Konzep­tua­li­sie­rungen auf. Zum einen den Found Footage-Film, wobei nun auf der Produk­ti­ons­ebene des Inter­nets die Hete­ro­ge­nität des verfüg­baren Mate­rials entschei­dend ist. Das Desktop-Video ist low budget (oder sogar no budget, abge­sehen von den WiFi-Kosten). Zum anderen die von Lev Mano­vich vorge­schla­gene 'spatial montage', die immer schon auf der grafi­schen Benut­zer­ober­fläche des Compu­ters statt­findet (das Über­lappen der Windows) oder Anne Fried­bergs Analyse der Desktop-Metapher. 

 Diese Übung wurde von Vera Toll­mann am Institut für Medien der Univer­sität Hildes­heim in Koope­ra­tion mit Moritz Ahlert von der Habitat Unit am Institut für Archi­tektur an der TU Berlin entwickelt.

Maja Pannes: Smart Villages

Die Desktop Docu­men­tary „Smart Villages“ stellt verschie­dene Ansätze vor, wie Smart City-Konzepte auf den länd­li­chen Raum über­tragen werden können und bereits über­tragen wurden. Die Ansätze stammen aus den Berei­chen Mobi­lität, Infra­struktur, Arbeits­markt und Land­wirt­schaft. Die Konzepte werden primär durch Video­clips über­mit­telt, welche in der linken Bild­schirm­hälfte abge­spielt werden. Die rechte Bild­schirm­hälfte dient zum einen der inhalt­li­chen Orien­tie­rung (die Konzepte werden dort in einer Liste fest­ge­halten) und zum anderen dem visu­ellen Kommentar, z.B. durch GIFs, Fotos, Anima­tionen oder kurze Video­aus­schnitte. „Smart Villages“ setzt sich kritisch damit ausein­ander, ob digi­tale Ansätze eigent­lich smart oder ob sie mögli­cher­weise nur digital sind. Diese Frage bleibt offen und regt den Betrachter oder die Betrach­terin dazu an, darüber nach­zu­denken und sich selbst ein Urteil zu bilden.

Antonia Lind: Para­si­ting the Smart City

Impuls­ge­bend für diese Desktop Docu­men­tary waren Beiträge aus dem Fibre­cul­ture Journal „Compu­ting the City“. Paula Bialskis Konzept der ‚para­sitic infra­struc­ture‘ etwa beein­flusst Ästhetik und Narrativ meines Videos. Ihr Konzept basiert auf dem Prinzip des ‚para­sitic compu­ting‘, bei dem ein bestehendes Compu­ter­system unbe­merkt vom Host von außen ange­zapft und gege­be­nen­falls verän­dert wird. Der Ansatz, Smart Cities aus Sicht der Bürger*innen und ihrer Probleme und Bedürf­nisse zu planen, findet sich in der Desktop Docu­men­tary im Code eines fiktiven Programms wieder, das zugleich Struktur und ‚Stimme‘ des Videos ist. Offen­sicht­lich taucht mehr­mals der Moskito sinn­bild­lich für den Para­siten auf und auch das Compu­ter­pro­gramm selbst nährt sich para­sitär an den Daten aus dem Internet und berechnet aufgrund dieser Daten passende smarte Konzepte. All die im Found Footage geäu­ßerten Vorsätze sind zukunfts­ge­richtet. Sie bauen darauf auf, dass in der Gegen­wart Geld inves­tiert wird, um ein funk­tio­nie­rendes System für die Bürger*innen der Zukunft zu entwi­ckeln. Dabei wird über die Köpfe der Bürger*innen hinweg entschieden. „Para­si­ting the Smart City“ setzt genau an diesem Punkt an.

Julius Kerstan: Smart Sand

Sensorik bildet die Schnitt­stelle zwischen physi­ka­li­schen, chemi­schen und biolo­gi­schen Mess­größen und digi­tal­tech­ni­schen Systemen. Mit der Inte­gra­tion von hoch­ent­wi­ckelten Micro­con­trol­lern in das Sensor­bau­teil ist es möglich geworden, Messung und Auswer­tung in ein einziges Bauteil zu bringen, das sich in den letzten Jahr­zehnten auf die Größe eines Steck­na­del­kopfs minia­tu­ri­siert hat. Sensoren werden dabei in ihrer infor­ma­tio­nellen Selb­stän­dig­keit zum Funda­ment einer smarten Welt. Dabei wird die soge­nannte Stra­tegie des edge-compu­tings stark gemacht, die auf dezen­trale Netz­werk­ar­chi­tek­turen setzt und damit im Gegen­satz zu einer cloud­ba­sierten Daten­ver­ar­bei­tungen steht. Die Auswer­tung im ungreif­baren Daten­himmel verla­gert sich zurück in die smarten Städte und Produk­ti­ons­hallen, in die Wohn­räume und Maschinen, auf die tech­ni­schen Bauteile, in den Mess­fühler, hin zur analogen Schwelle. Überall streut sich senso­ri­sche Rechenleistung.

Tilman Wald­hier: störungen.kunst.karten

Bei der Recherche für diesen Desktop-Film kam ich immer wieder auf meine Heimat­stadt zurück: München. Was mir als erstes im Vergleich zu Hildes­heim auffiel, waren die vielen Groß­bau­stellen, Nach­ver­dich­tungs- und Aufwer­tungs­pro­jekte und die damit einher­ge­hende, schlei­chende Gentri­fi­zie­rung. Auch in der unmit­tel­baren Umge­bung meiner ehema­ligen Wohnung finden seit drei Jahren große bauliche Verän­de­rungen statt, die ich mir auf den Webseiten von Geoda­ten­an­bie­tern mal genauer anschauen wollte. Während bei Google Street View noch die alte, hundert­jäh­rige Schrei­nerei in voller Pracht erstrahlte, stand an eben­dieser Stelle bei Google Earth schon eine Groß­bau­stelle, die in der Realität fast voll­endet war. Noch faszi­nierter war ich, als ich die Street-View-Figur bei Maps auf meine ehema­lige Anschrift zog und in der Straße das alte Auto meiner Mutter entdeckte, welches sie schon vor fast zehn Jahren abge­geben hatte. Ich wähnte mich auf einer virtu­ellen Zeit­reise. Ich recher­chierte, warum der Stand verschie­dener Programme ein und desselben Unter­neh­mens so unter­schied­lich sein kann. Dabei stieß ich auf eine Menge recht­li­cher, tech­ni­scher und sons­tiger Einschrän­kungen, die es Google aktuell noch unmög­lich machen, ihr Vorhaben der „Vermes­sung der Welt 2.0“ zu voll­enden. Künst­le­ri­schen Projekten von u.a. Clement Valla sowie meiner eigenen Recherche habe ich in dem Film Raum gegeben, um den ästhe­ti­schen Wert der Unvoll­kom­men­heit dieser Geoda­ten­pro­gramme zu zeigen. Gleich­zeitig ist der Film in seiner Anhäu­fung von ‚Störungen‘, eine Art ‚Google-Fail-Compi­la­tion‘, die das Monopol und seine Methoden und Ergeb­nisse infrage stellt.

Simon Vorgrimmler: broken windows, open frames

Ausgangs­punkt meines Videos waren meine persön­li­chen Stand­ort­daten, die von Google über den GPS-Empfänger meines Smart­phones perma­nent ausge­lesen werden. Die Arbeit am Video war durch ein inter­tex­tu­elles, asso­zia­tives und sprung­haftes Arran­gieren von Found Footage bestimmt; eine Vorge­hens­weise, die ich als "the beco­ming of form through action" (Chris­to­pher Dell) beschreiben würde. Wesent­liche Bezugs­punkte des Desk­top­films stellen der Topos Fenster/Windows und die visu­elle Darstell­bar­keit von (Geo-)Daten dar. Mein Versuch, die mediale Verfasst­heit des Desktop zu reflek­tieren, führte mich zu den Anfängen von GPS-System und grafi­scher Benut­zer­ober­fläche (GUI). In Anne Fried­bergs Worten wurde mit der grafi­schen Benut­zer­ober­fläche „an enti­rely new visual system“ einge­führt. Bei meiner Recherche zu GPS stol­perte ich über das Jahr 1995; das Jahr, in dem das NAVSTAR Global Posi­tio­ning System voll funk­ti­ons­fähig wurde. Die Geschichte des Graphical User Inter­face (GUI) führte mich eben­falls in das Jahr 1995 zurück, zu Micro­softs Windows 95, das am 24. August 1995 einge­führt wurde.
In meinem Desk­top­film wird die grafi­sche Benut­zer­ober­fläche ihrer eigenen Funk­ti­ons­logik enthoben: Zunächst lösen sich die Fenster/Windows von ihrer Funk­tion – der Bild­schirm­schoner wird zum Fern­seher, das Zeichen­pro­gramm zum Video­player. Die einzelnen Elemente offen­baren ihre „infra­struc­tures of media­tion“ (Armin Beverungen/Florian Sprenger). Die Rahmen der einzelnen Fenster beginnen sich zu über­lappen, zu flim­mern und verschwimmen. Das Betriebs­system ist nicht länger ein opera­bles Programm, sondern wird zum Bild.

Viola Gerber: Panoptic

In einem perfor­ma­tiven Akt eigne ich mir zu Anfang Yaga­nachis Werk „eGovernment.or.kr“ (2003/2019) an. Für den korea­ni­schen Medi­en­künstler finden sich viele neue Über­wa­chungs­formen in der digi­talen „world of panop­ti­cons“ wieder. Der Panop­tismus (vom griech. pano­ptes „das alles Sehende“) ist ein Konzept, das häufig zur Erklä­rung digi­taler Über­wa­chungs­formen heran­ge­zogen wird. Michel Foucault führte den Begriff anläss­lich seiner Analyse von Jeremy Bent­hams Gefäng­nis­ar­chi­tektur ein. In Über­wa­chen und Strafen (1975) schreibt Foucault von der inter­na­li­sierten Über­wa­chungs­si­tua­tion der Insassen, da sie die ganze Zeit davon ausgehen mussten, gesehen zu werden. Für Foucault werden sie auf diese Weise zu einem „Objekt einer Infor­ma­tion, niemals Subjekt in einer Kommu­ni­ka­tion“.
In verschie­denen tech­no­lo­gisch vermit­telten Situa­tionen im digi­talen Zeit­alter wird hingegen meiner Meinung nach die Meta­pher des Panop­ti­cons unter­laufen. Spie­le­risch auf Kommu­ni­ka­tion und Konsum ange­legte Platt­formen werden nicht als Szenario der Über­wa­chung erlebt, sondern als Orte der Selbst­ent­fal­tung. Der auto­ma­ti­sierte ‚gaze‘, welcher zuvor nicht mehr auszu­ma­chen schien, meldet sich jetzt durch unzäh­lige Webcams, zum Beispiel auf Live­strea­ming-Platt­formen, zurück. Was würde es bedeuten, Foucaults ‚Panop­tismus‘ auf die Live­strea­ming-Kultur zu beziehen? Können sich Livestreamer*innen, die sich durch das Anschalten ihrer Webcam frei­willig in diese Über­wa­chungs­si­tua­tion begeben, von der bloßen Infor­ma­ti­ons­lie­fe­rung und dem Objekt­cha­rakter frei­ma­chen und zu „Subjekt[en] einer Kommu­ni­ka­tion“ werden?

Leonora Marissal: Konsum und Städte

In meiner Desktop Docu­men­tary setze ich mich mit dem Wandel vom statio­nären Handel zum Online-Handel ausein­ander und versuche, diesen unsicht­baren Vorgang durch seine Auswir­kungen auf urbane Kontexte sichtbar zu machen. In mehreren Episoden nähere ich mich dem Themen­kom­plex Konsum und Städte filmisch an. Während der Recherche und bei der Auswahl des Mate­rials stellte ich schnell fest, dass die zitierten Phäno­mene eher neben­ein­ander stehen als konse­kutiv aufein­ander folgen. Aus diesem Grund suchte ich eine andere Form, um die Inhalte in Bezug zuein­ander zu setzen. Kevin B. Lee greift in seiner Desktop Docu­men­tary Trans­for­mers: The Premake auf eine topo­gra­phi­sche Ordnung zurück, indem er sein Mate­rial, eigene Videos und Fan-Aufnahmen, mit einer inter­ak­tiven Welt­karte verknüpft. Inspi­riert durch Kevin B Lee nutze ich Google Earth, um meine audio­vi­su­ellen Quellen zu sortieren. Google Earth über­nimmt hierbei eine mode­rie­rende Funk­tion. Um die finale Episode einzu­leiten, tippe ich ,,City of the future“ in die Such­maske des Programms ein. Ein Ort in Russ­land wird auto­ma­tisch ange­flogen, doch auf dem Bild­schirm wird, bevor etwas zu erkennen ist, von neuen Videos besetzt: Sie geben einen Ausblick in eine fiktive Zukunft.