Bemerkt habe ich es erst nach der Schulzeit. Wenn Menschen in meiner Umgebung begannen Erwartungen mir gegenüber zu haben von denen ich wusste, dass ich sie nicht leisten konnte. Mir war klar, dass ich vieles nicht geschafft habe, weil mir meine mentale Gesundheit – vor allem meine Depressionen und Ängste im Weg standen. Ich konnte trotz dem Versuch einer strukturierten Routine im Studium nicht wirklich mitkommen. Ich war verärgert, wenn ich einen Text nicht ohne Ablenkungen lesen konnte, es nicht hinbekam mich auf künstlerische Projekte zu konzentrieren, weil die mir doch eigentlich Spaß machten. Es wurde alles zu viel. Ich konnte meine eigenen Motive nicht mehr so ganz nachvollziehen.
Also suchte ich eine neue Therapeutin auf. Ich wollte eine Lösung finden. Wissen, wieso es mir besonders schwerfällt, dabei zu bleiben. Dies brachte mich dazu einen Psychiater aufzusuchen, um ihren Verdacht nochmal diagnostiziert zu bekommen.
Die Diagnose: ADS. Aufmerksamkeits-Defizit-Störung. Das verhalf mir vieles nochmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Meine Therapeutin gab mir eine Liste mit 25 Symptomen mit. Die Worte „Ich bin mir sehr sicher Sie werden sich hier wiederfinden“ dazu. Sie hatte recht. Auf der Liste standen Sachen wie: „Aufschieberitis“, fehlende Tagesplanung, Antriebslosigkeit, Depressive Stimmungs-Einbrüche, Sammelwut, Schlechte Wahrnehmung der eigenen Stimmung oder die Unfähigkeit Prioritäten zu setzen. Ich hatte schon länger den Verdacht gehabt, mir war allerdings nicht klar, dass so viele meiner Schwierigkeiten mit ADS zusammenhängen.
Natürlich ist es nicht notwendig eine Diagnose zu bekommen, um sich im Alltag wieder wohlzufühlen. Ich persönlich habe mich aber gefreut herauszufinden, wieso ich Dinge tue wie ich sie tue und warum ich bestimmte Handlungen von mir nicht wirklich nachvollziehen konnte.
Ich lernte, das ADS oft in Kombination mit Depressionen oder Angststörungen auftaucht. Hieran zu arbeiten, hat mir mein Studium und vor allem meinen Alltag um einiges erleichtert. Die Diagnose war für mich ein großer Game-Changer.
Ich habe beschlossen mit ein paar Freund*innen zu sprechen, denen es ähnlich geht. Auch sie sind neurodivers und strugglen oft in der Uni mitzukommen. Meine Hoffnung ist, dass vielleicht einige Lesende etwas mitnehmen können. Ich habe mich oft damit ein bisschen verloren gefühlt und ich hoffe es hilft Leser*innen sich nicht mehr so allein fühlen.
Und mir ist auch wichtig zu nennen, dass ich hiermit auf gar keinen Fall mentale Gesundheit verallgemeinern möchte. Wir alle sind Individuen. Ich schreibe hier nur über meine Erfahrungen, Gedanken und Gefühle.
Was ist Neurodiversität?
Das Konzept der Neurodiversität wurde erstmals 2012 auf einer Konferenz an der Syracuse University in New York vorgestellt.
Es beschreibt die Vielfalt der neurokognitiven Funktionen im Menschen und betont, dass jeder Mensch ein einzigartiges Gehirn hat. Neurodiversität betrachtet neurobiologische Unterschiede als natürliche menschliche Eigenschaften.
Im Gegensatz zur traditionellen Sicht, die neurologische Unterschiede als Abweichungen oder gar „Störungen“ betrachtet, betont die Neurodiversitätsbewegung die Wertschätzung und Akzeptanz dieser Unterschiede.
ADS und ADHS definiert.
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung) sind zwei Begriffe, die oft synonym verwendet werden, aber es gibt Unterschiede zwischen ihnen:
ADHS wird durch Symptome wie Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität gekennzeichnet ist. Es betrifft sowohl Kinder als auch Erwachsene und kann sich auf verschiedene Lebensbereiche wie Schule, Arbeit und soziale Beziehungen auswirken. ADS hingegen bezieht sich speziell auf die Unaufmerksamkeitssymptome von ADHS, ohne Hyperaktivität oder Impulsivität.
Welche Auswirkungen kann AD(H)S aufs Lernen haben?
Ich war in meiner Schulzeit oft ein Mensch, dem von Lehrkräften Begriffe wie „faul“ zugesprochen wurden. Meinen Eltern wurde gesagt, ich solle mich mehr anstrengen. Das war einfacher gesagt als getan. Es ging nicht darum, dass es mir schwerfiel zu lernen, es war die Schwierigkeit mein Gehirn angemessen zu regulieren. Wissen, warum ich gerade nicht fähig war mich auf meine Lerneinheiten einzulassen.
Ich konnte einfach nicht still sitzen, mich gleichzeitig konzentrieren und Hausaufgaben machen.
Erst im Studium, vor allem durch unterschiedliche Seminare und Praxis fiel es mir leichter. Ich hatte die Freiheit zu wählen und zu schauen was ich gerade brauchte. Doch auch hier treffe ich immer wieder auf dieselben Schwierigkeiten während der Prüfungsphase.
Ich habe zwei Freunde gefragt, ob sie mit mir ein kurzes Gespräch zum Thema ADS führen könnten. Um Anonymität zu bewahren, wurde ich drum gebeten meine Interviewpartner*innen nicht bei Namen zu nennen. Das Interview führten wir gemeinsam in einem Virtuellen Raum durch, da wir momentan nicht alle in Hildesheim wohnen und studieren. Wie das so ist, haben wir uns selbst ziemlich stark voneinander abgelenkt dieses Interview zu führen. Nach dem kurzen „Ich bin gleich so weit“ von mir, fingen wir an uns Memes zu schicken – wir kriegten uns nach einiger Zeit allerdings auch wieder ein.
Ich wollte von meinen Interview Partner*innen wissen wie stark sie glauben, dass ihr ADS das Studium beeinflusst.
„Sehr stark“ sagt J.
„Oh ja, Sehr“ sagt M. und lacht. „Es beeinflusst mein Studium sehr“
„Von einer Skala von 1 – 10 wahrscheinlich 11.“ sagt J.
Ich: Und wie konzentrierst du dich während eines Seminars oder in Vorlesungen?
M: Ich mach sehr oft etwas anderes nebenher. Sowas wie Kreuzworträtsel oder Sudoku oder ich male. Und wenn ich Zuhause bin, höre ich oft Musik dazu oder bin in einem gemeinsamen Study Zoom mit Freund*innen.
J: Ja! Mir geht’s ähnlich. Ich mach generell immer was mit den Händen. Dadurch hat mein Hirn was zu tun, aber es nimmt auch nicht so viel Raum ein, sodass ich nicht mehr zuhören kann. Ich häkele oft in Vorlesungen oder Seminaren oder mache Freundschaftsarmbänder. Sowas in der Art…. Ich brauche immer etwas, was ich nebenher mache, damit ich besser zuhören kann.
Ich: Was für Tipps habt ihr für diejenigen die den Beitrag lesen und vielleicht auch mit ADS studieren? Oder vielleicht generell Schwierigkeiten haben sich in Seminaren und Vorlesungen zu konzentrieren?
M: Ich mache To-Do-Listen und ich füge generell immer simple und kleine Aufgaben hinzu. Dadurch fühle ich mich bereits bei „kleinen“ Sachen erfolgreicher. Es hilft wirklich sehr eine Struktur in den Alltag einzubauen und zu wissen was als nächstes passiert und im Voraus zu planen was an dem Tag ansteht.
J: Ja, also mir hilft es mehrere Aufgaben am Tag zu haben, um mein Brain über den Tag zu entertainen. Ich bin sehr schnell gelangweilt bei Aufgaben, an denen ich arbeite und brauche immer mal wieder ein Switcheroo… und mehr zu tun. Ich habe zum Beispiel manchmal Einheiten, an denen ich für 30 Minuten an einer Sache arbeite und wenn die Zeit um ist wechsele ich oft das Thema und arbeite an etwas anderem das ansteht.
Ich: Hattet ihr im Unikontext jemals Situationen, in denen ihr euch unwohl gefühlt habt, weil ein Mensch vielleicht kein Verständnis zeigen konnte?
J: Ja, ich hatte mal eine Lehrperson, die sehr enttäuscht wirkte, weil ich nicht „meine volle Aufmerksamkeit“ im Seminar hatte. Ich habe halt was mit den Händen gemacht. Die Person hat nicht mal versucht es zu verstehen. Ich tendiere dazu auch oft sehr schnell überstimuliert zu sein vor allem in Vorlesungen und habe dadurch auch schon eine Freundin in der Uni verloren, weil sie nicht nachvollziehen konnte wieso ich manchmal bei Überstimulierung snappe…
M: Ich hatte auch eine Lehrperson. Wurde während eines Seminars aufgerufen, weil ich nebenher eben Sudoku auf dem Tisch liegen hatte. Er dachte ich würde nicht zuhören… Dabei habe ich zugehört und brauchte nur was nebenher, um besser dabei zu bleiben.
Ich möchte diesen persönlichen Eindrücken nicht mehr viel hinzufügen.
Aus meiner Erfahrung gibt es zum einen die Menschen die in unserer oftmals leistungsorientierten Welt mit AD(H)S‑Symptomen kämpfen und Support benötigen ohne dass mensch dabei vergisst, dass jede Person anders ist. Natürlich bedeutet aber auch nicht jede Form der Prokrastination gleich AD(H)S. Bei Unsicherheiten lohnt sich der Mut sich professionelle Hilfe zu suchen.
Ich bedanke mich bei J.und M. für das Interview.
Ein Beitrag von: Rüya Gürcan, veröffentlicht am 09.09.2023