

Das Seminar »Schreiben über Film«, 2012 gestartet und in jedem Jahr mit einer Exkursion zum Filmfestival Berlinale verbunden, konnte in diesem Februar wieder angeboten werden, nachdem das Festival 2021 wegen der Pandemie nur in einer digitalen und sehr reduzierten Version stattgefunden hatte. Für die Studierenden bedeuteten Exkursion und Seminar: eine Deadline nach der anderen, lange Abende in den Festival-Kinos, laufender Austausch mit Journalist*innen von der FAZ, dem Tagesspiegel, dem Online-Magazin critic.de und aus dem Team des Berlinale Forums; Augenringe; viele Kaffeebestellungen; zehn übervolle Tage und ein intensiver Kontakt mit den Realitäten des Kulturjournalismus.
Die Stimmung blieb dabei sehr gut; eine Fortsetzung des Seminars zur Berlinale 2023 ist geplant; und dass der Abschied mit einiger Wehmut verbunden war, dokumentieren einige der 16 Texte der Studierenden, die als Skizzen und Momentaufnahmen in den allerletzten Festivaltagen entstanden sind.

Mittwochnachmittag, Berlin. Meine Akkreditierung fällt vor dem Eingang des Friedrichstadt-Palast in den Schacht. Fängt schon schlecht an. Dennoch freue ich mich auf meinen ersten Wettbewerbs-Film, „Un été comme ça“ (Denis Côté, 2021). Zu sagen, dass ich danach enttäuscht war, wäre eine Untertreibung. Zum ersten Mal verspüre ich das Verlangen zu gehen. Angesichts der vielen Personen, die immer wieder den Saal verlassen, bin ich eindeutig nicht die Einzige. Male Gaze in vollem Ausmaß. Es kann nur besser werden. Und tatsächlich, mit dem Generations-Film „Alis“ (Clare Weiskopf, Nicolás van Hemelryck, 2022) wird es sogar richtig gut. Plötzlich alle Enttäuschung verflogen. Achterbahn der Gefühle, Zauber des Kinos.
Carlotta Aubenque
Sieben Tage und der Himmel über Berlin weint. Die Premieren sind vorbei, der rote Teppich ist verdreckt, die Stimmung ist geswitched. Die Berlinale fühlt sich leerer an, doch die Tickets bleiben ausverkauft. Jeder zweite Platz im Kinosaal besetzt. Anmoderationen im Saal weichen den Videobotschaften der Filmteams. Die Goldenen Bären sind verliehen, die Presse ist abgereist, das neue Publikum kommt tatsächlich aus Berlin. Die Temperaturen bleiben im einstelligen Bereich. Nieselregen. Orkan. Sieben Tage, und die Anspannung ist weg. Menschen laufen durch den Regen, fliehen in die warmen Kinosäle. Das letzte Drittel des Festivals hat einen anderen Modus: Die Aufregung weicht dem Genuss.
Franziska Böhm
Wir werden durch den Notausgang aus dem Kino geschleust, Corona-Maßnahmen. Langsam bewegen wir uns durch den hellen Flur, die Köpfe geneigt, die Augen gewöhnen sich noch nicht an das neue Setting. Gleich darauf stehen wir an der Potsdamer Straße, und der Autolärm bringt uns zurück in die Realität. In den letzten neunzig Minuten lief der Dokumentarfilm „Nelly & Nadine“. Zwei Frauen lernen sich im Konzentrationslager Ravensbrück kennen und beginnen eine Liebesbeziehung. Nach ihrer Befreiung sie ihre Erlebnisse auf und wollen sie veröffentlichen. Doch kein Verlag will kooperieren. Jahrzehnte später ist ihre Geschichte als Film zu sehen, auf der Berlinale 2022.
Franzi Cagić
Betretenes Schweigen schlägt in jubelnden Applaus um. Im Zoo Palast lief soeben „Myanmar Diaries“. Der burmesische Filmemacher trägt FFP2-Maske und Sonnenbrille, um nicht erkannt zu werden. „I have been to Asia before, so I feel for you” sagt ein Mann aus dem Publikum. Ich frage mich, in welchem asiatischen Land er wohl war, und was das mit dem Film zu tun haben könnte, der gerade gelaufen ist. Die niederländischen Filmschaffenden, die auch auf der Bühne stehen, fordern dazu auf, drei Finger in die Luft zu halten: die Geste der Solidarität in der Zivilbevölkerung von Myanmar. Das weiße Berlinale-Publikum reißt begeistert die Hände in die Luft. Irgendetwas läuft hier gerade ziemlich schräg.
Alina Czymoch
Im Kinosaal herrscht Schummerlicht, und auf der Leinwand legt sich das schweigsame Mädchen Cáit zu Bett. Da bin ich selbst eingeschlafen. Um 13 Uhr. Auf der Berlinale. Früher dachte ich, das passiert nur Mr. Bean im Gottesdienst. Als ich aufwache, schaue ich verstohlen umher. Keine schiefen Blicke. Doch in einem Film eingeschlafen zu sein, ist ein bereicherndes Ereignis. Ein Gefühl, als hätte ich den ganzen Tageswechsel in einer Filmwelt verbracht. Die Geschichte ist mir auf diese Weise viel näher gekommen. Denn eingeschlafen ist auch meine kritische Distanz zu den Bildern. Und ich erinnere mich dunkel, eigene selbsterdachte Szenen zum Film geträumt zu haben.
Silas Degen
Und täglich grüßt …
7:30 Uhr. Berlin Schöneberg, Bülowstraße. Ein Blick aus dem Hotelfenster zeigt Endzeitstimmung. Der Wind pfeift, die Baumkronen küssen den grauen Asphalt. In der Ferne das Schrillen einer Alarmanlage. Guten Morgen, Berlin.
Erstmal Tickets. Was buche ich denn? – „Kennst du..?“ – „Vergiss es, ausgebucht.“ Welcher Tag ist heute? Mittwoch? Nein. Es muss Donnerstag sein, denn ich schaue nach Filmen für Samstag. Klar, oder?
Der Weg zu den Kinos ist einfach geworden, denn manchmal hilft die Wiederholung eben doch. Wie im Fall des Berlinale-Intros. Orangefarbene Partikel, kurz der Bär, dann wieder Partikel, Boom! Ich liebe es. Notizbuch raus, Film ab.
Rouven Dietrich
Confusion at Red Carpet
Eine Weltpremiere im Berlinale Palast während der 72. Berlinale. Ich sitze im Rang in einem gepolsterten, dunkelroten Samtsessel und starre auf die riesige Leinwand. Warte auf die Stars des Abends, die in einer Live-Übertragung des roten Teppichs den Palast betreten. Lächeln, Interviews, Posen, Fotos. Repeat. In der Reihe hinter mir wird eine Person unruhig: „Excuse me, are you here for the movie, or what?” Nun werde auch ich unsicher: „Yes, I hope so.“ Wir lachen. “Allright. For a moment I thought, you all bought tickets to watch the red carpet. I mean, that would be really boring, no?” Diesmal lachen nicht nur wir, sondern zwei komplette Sitzreihen.
Nika Hauger
Bildgewitter
Das Auge kommt kaum hinterher. Wenn das Flackern und Leuchten mal aussetzt, dann haben sich die Bilder auf der Netzhaut bereits eingebrannt. Während der zehntägigen Berlinale kann man, eine Menge Filme sehen. Vier oder fünf täglich, sieben bis neun Stunden Kino. Was davon bleibt, zeigt sich wahrscheinlich erst nach dem 20. Februar, dem letzten Festivaltag. Zu kurz sind die Pausen zwischen den Filmen, um die völlig unterschiedlichen Erfahrungen angemessen zu verarbeiten. Voll mit Emotionen eilt man in den nächsten Kinosaal. Was sich aber über die Zeit durchsetzt, ist ein Gefühl für den starken Einfluss, den Bilder auf uns haben, und für die Verantwortung, die mit dem Bildermachen verbunden ist.
Linus Heethey
Ein abruptes Ende
Sechzehn übermüdete Studierende sitzen konzentriert in einem Seminarraum. Hildesheim goes Berlinale. Tickets kaufen, Filme schauen, Q&A’s anhören, Kaffee kippen, Kritiken schreiben, diskutieren. Eine Whatsapp-Nachricht reißt mich aus dem Ablauf. „Ruf mich bitte ganz schnell an!“ Der Schnelltest meines Freundes ist positiv. Nach einem Moment der Überlegung packe ich hastig meine Tasche, verlasse das Seminar und springe in die S‑Bahn. „Einmal die Fahrkarten bitte.“ 60 Euro. Fuck. Meine steigende Anspannung spiegelt sich im stürmischen Wind, der die Fahne des Corona-Testbusses wild umherweht. Quälend langsam färben sich die zwei Striche ein. Dann sitzen wir im Auto, Richtung Quarantäne. Meine Berlinale ist vorbei.
Alice Hiepko

Mit Reißen
Ich gehe ins Cubix. Frage mich, ob der Film, den ich gleich sehen werde, wieder erschreckend sein wird. Und tatsächlich: „Berdreymi“ von Gudmundur Armar Gudmundsson stiehlt seinen Protagonisten oft ihre Würde, um sie mit spitzen Fingern wieder zurück zu geben. „Berdreymi“ schlägt seine Klauen in mich. Die Stufen des Cubix hinunter zu laufen, reicht danach nicht aus, um wieder in die Gegenwart zu gelangen. Aber die Gegenwart wird überbewertet, beschließe ich dann und lasse meine Gedanken noch eine Weile um den Film kreisen. Nur noch ein kleines bisschen, sage ich mir. Nein, schön geht anders. Aber von einem Film mitgerissen zu werden, muss nicht unbedingt eine schöne Erfahrung sein.
Annika Konegen
Darf ich Ihren Impfnachweis sehen? Und Ihren Personalausweis? Danke viel Spaß. / Das Ticket bitte. Reihe D in der Mitte. / Sie kommen hier nur mit FFP2-Maske rein. / Entschuldigen Sie, sie sitzen auf meinem Platz. / Sie können hier nicht sitzen; es muss immer ein Platz frei bleiben. / Bitte behalten Sie ihre Maske auf, bitte setzen Sie sich auf den Platz, der Ihnen zugeteilt wurde. Es muss immer ein Platz frei bleiben. Wenn Sie die den Saal während oder nach der Vorstellung verlassen möchten, nutzen Sie bitte die Notausgänge auf der linken Seite. Ich wünsche Ihnen eine gute Projektion.
Marie-Luise Lück
Handy raus, CovPass-App an zum Scannen. Akkreditierung zeigen, um den Namen überprüfen zu lassen, und dann rein ins warme Kino. Meine Brille beschlägt. Handy nochmal raus, Ticket suchen. Scrollen, scrollen, scrollen. Die Bestätigungsmail von vor zwei Tagen muss ja irgendwo sein. Was ist heute für ein Tag? Montag? Nein. Mittwoch, also eine Buchung von Montag, oder? Ich finde sie nicht. Hinter mir bildet sich eine Schlange, ich sehe immer noch kein Ticket. Ok, also in den Browser, Buchungsseite aufrufen, nochmal zusenden. Die Codes aus der Mail scannen. Beep, falscher Code. Es war der Saal darüber, jetzt aber los.
Rafaela Range
Mein Fokus: Weibliche Filmschaffende und die Encounters-Reihe. Keine Generationen-Filme. Das hat einen praktischen Grund: Die Filmauswahl verkleinert sich stark. Bei der Planung der Vorstellungen, für die ich Tickets buchen möchte, lese ich als erstes, wer Regie geführt hat. Oft muss ich den Namen googeln, um festzustellen, ob es sich um eine Frau handelt. Der eine oder andere männliche Name schleicht sich dann doch in meine Tagesabläufe, Peter Strickland etwa, wegen "The Duke of Burgundy”, oder Dario Argento, wegen "Suspiria”. Später werde ich mich ein wenig komisch fühlen, wenn mir Filme von männlichen Regisseuren empfohlen werden und ich erkläre, dass ich mir die nicht ansehe.
Angela Regius
Machine Gun Kellys Glas steht auf der Bühne. Nach dem Q&A im Zoo Palast hat er es stehen lassen, und während sich das Kino langsam leert, bleibt das Glas, wo es ist. Ich könnte. Aber ich habe Angst vor dem finster dreinschauenden Security-Typen, der gestern schon Emma Thompsons Auftritt überwacht hat. Gleichzeitig läuft in meinem Kopf eine Zukunftsvision, in der ich Gästen ein Glas Wasser anbiete und beiläufig erwähne, dass sie gerade aus dem Glas von Machine Gun Kelly trinken. Ich mach’s. Da sehe ich eine Frau zielstrebig die Treppe zur Bühne hochgehen. Und dann ist das Glas weg. Ich hab’s verpasst.
Karoline Rößler
Feuer
Freitagabend, halb sieben. Noch 30 Minuten bis zur Abgabefrist. Ich sitze im Sausalitos und resümiere im Schnelldurchlauf die Ereignisse der letzten Tage. Worüber soll ich schreiben?
Im Augenwinkel nehme ich einen hell flackernden Lichtschein wahr, blicke auf. Der Tisch mir gegenüber steht in Flammen, eine der dort sitzenden Personen hat ihre Serviette zu dicht an der Kerze abgelegt. Die Leute am Tisch springen auf.
Auch ich springe auf. Schnappe mir die Speisekarte und drücke sie fest auf das lodernde Papiertuch, bis der Brand erstickt ist. Servicepersonal eilt herbei. Ich gehe zurück an meinen Platz, setze mich wieder. Und fange an zu schreiben.
Thassilo Vahlenkamp

Weitere Texte der Teilnehmer*innen des Seminars sind während des Festivals im Online-Magazin critic.de veröffentlicht worden und bleiben hier abrufbar:
Einleitungstext: Stefanie Diekmann
Fotos: Franzi Cagić (Titelbild), Alina Czymoch (Oben), Alice Hiepko (Mitte), Thassilo Vahlenkamp (Unten)
Redaktion und Webdesign: Gabriel Dörner