Über nicht-bauliche Barrieren und Hilfs­an­ge­bote – Studie­rende berichten über ihre Erfah­rungen an der Uni Hildesheim

von | Mrz 21, 2023

Vielen Menschen denken bei dem Thema Barrie­re­frei­heit an bauliche Maßnahmen. Für diesen Artikel habe ich mich statt­dessen mit den nicht-bauli­chen Barrieren an der Uni Hildes­heim beschäf­tigt und mich gefragt: Was beein­träch­tigt Studie­rende mit psychi­scher Erkran­kung oder kogni­tiver Behin­de­rung in ihrem Studium? Und wie hilft die Uni Hildes­heim? Hier erfährst du, was ich heraus­ge­funden habe.
Ein Foto des Kulturcampus. Darüber ist Luftpolsterfolie gelegt.

Foto: Nele Wagener

Für diesen Beitrag haben drei betrof­fene Studie­rende und zwei Absol­ven­tinnen die Barrieren in ihrem Unialltag mit mir geteilt. Außerdem haben mir Dr. Marc Ruhlandt und Gina Duschek über ihre Arbeit bei der Platt­form Zukunft Inklu­sion (ZINK) und ihre eigene Lehre erzählt. Es erwarten dich eine Reihe von indi­vi­du­ellen Barrieren sowie einige Maßnahmen, die die Uni bereits zum Abbau dieser einsetzt. Außerdem lernst du die Ideen und Vorschläge meiner Interviewpartner*innen kennen, die für eine inklu­si­vere Hoch­schul­lehre sorgen sollen.

Weitere Infor­ma­tionen

Du möch­test dich auch über die bauli­chen Barrieren an der Uni Infor­mieren? In der Beitrags­reihe „Inklu-What?” von Lukas Fried­land, Fran­ziska Fron­höfer und Linda Ludwig erfährst du mehr dazu. Im Winter­se­mester 2018/19 haben sie sich nicht nur mit der bauli­chen Barrie­re­frei­heit an der Domäne, sondern auch mit dem Begriff der Inklu­sion ausein­an­der­ge­setzt. Viel­leicht kannst du ja mitt­ler­weile schon Verän­de­rungen erkennen?

Unsicht­bare Barrieren im Unialltag

Leis­tungs- und Noten­druck. Anwe­sen­heits­pflicht, Erwar­tungen, Workload. Sarina Wasser­mann, Absol­ventin des Studi­en­gangs Inter­na­tio­nales Infor­ma­ti­ons­ma­nage­ment und Initia­torin der Initia­tive Diagnose:Arbeitsfähig, konnte die durch­schnitt­liche Prüfungs­dichte am Ende jedes Semes­ters nicht stemmen, obwohl sie während des Semes­ters mehr Kurse hätte belegen können. So musste sie ihr Studium in Eigen­regie verlän­gern, was ihr nur aufgrund ihrer finan­zi­ellen Lage möglich war. Zudem schafft eine deut­liche Verlän­ge­rung des Studiums weitere Probleme, insbe­son­dere im Hinblick auf den Berufs­ein­stieg.
Sie spricht auch eine regel­rechte „Noten­in­fla­tion“ im Laufe ihres Studiums an. Eine 1 vor dem Komma wurde immer typi­scher. Damit fiel für sie die Möglich­keit des Vergleichs weg und es kam der Druck hinzu, für den Berufs­ein­stieg zusätz­lich soziales Enga­ge­ment vorweisen zu müssen. Einige Interviewpartner*innen spre­chen zudem von der Unmög­lich­keit, zu den häufig oder immer gefor­derten 80% der Zeit an den Semi­naren teil­zu­nehmen. Die Konse­quenz ist meis­tens wieder eine Verlän­ge­rung des Studiums.
Smilla studiert Philo­so­phie-Künste-Medien und spricht über das Gefühl, beweisen zu müssen, genauso leis­tungs­fähig zu sein, wie die Kommiliton*innen. Ýr, studiert Kultur­wis­sen­schaften und ästhe­ti­sche Praxis, erzählt mir von Situa­tionen, in denen es nicht den Raum gibt, nach benö­tigter Hilfe zu fragen. Statt­dessen nimmt er eine bestimmte Atmo­sphäre wahr, die ihm sugge­riert: Du musst bestimmte Dinge einfach können und alleine schaffen, wenn du studierst.

Stig­ma­ti­sie­rung und Tabui­sie­rung von Krank­heit und Behin­de­rung. Dass psychi­sche Krank­heiten und Behin­de­rungen gesamt­ge­sell­schaft­lich nicht ausrei­chend thema­ti­siert werden und damit auch nicht ausrei­chend über den Umgang mit ihnen aufge­klärt wird, macht auch an der Uni keinen Halt. Meine Interviewpartner*innen spre­chen von der eigenen Angst oder Scham über ihre Diagnose(n) zu spre­chen. Dies hat zum Beispiel Sarina davon abge­halten, Hilfe­stel­lungen einzu­for­dern. Smilla geht offen mit der Diagnose um und beschreibt den Umgang der Kommiliton*innen als „offen distan­ziert“. Für die anderen ist ein „Outing“ keine Option.

Kommu­ni­ka­ti­ons­de­fizit. Beson­ders promi­nent ist hier die Fest­stel­lung, dass die Ange­bote, die es an der Uni schon gibt, nicht ausrei­chend kommu­ni­ziert werden. Dadurch sind diese Lehrenden nicht bekannt und werden von Studie­renden erst später oder durch Zufall gefunden. Ýr berichtet beispiels­weise über eine Verwir­rung zur Nutzung des Stun­den­plan­sys­tems. Er konnte bisher nicht heraus­finden, ob und wen er zu diesem Thema anspre­chen kann. Sarina kriti­siert die Wort­wahl von Initia­tiven und Bera­tungs­stellen. Sie hat sich in ihrer Studi­en­zeit nicht ange­spro­chen gefühlt hat, wenn sich Ange­bote an Menschen mit Behin­de­rung oder chro­ni­schen Erkran­kungen rich­teten. Smilla spricht außerdem an, als betrof­fene Person häufig Aufklä­rung leisten zu müssen.

Der büro­kra­ti­sche Aufwand seitens der Uni und den Studie­renden. Viele der ange­bo­tenen Nach­teils­aus­gleiche für Menschen mit psychi­schen Erkran­kungen sind nicht profi­tabel. Sarina habe eine Anpas­sung dennoch nie ange­stoßen, da sie die büro­kra­ti­schen Hürden, wie etwa den Mehr­auf­wand für Dozie­rende, gesehen habe. Für Ýr ist es aufgrund seiner Behin­de­rung schwierig einen Nach­teils­aus­gleich zu stellen und er empfindet die Recher­che­seiten auf der Unihome­page als unüber­sicht­lich. Zudem kann er berichten, dass viele den Antrag nicht stellen, aufgrund der Unsi­cher­heit darüber, ob er ihnen zusteht. Ýr streift hier einen bedeu­tenden Punkt: In der Lage zu sein, sich selbst­ständig Hilfe zu suchen, ist ein Privileg, das nicht alle Studie­renden haben.

Diagnose:Arbeitsfähig

Die Initia­tive Diagnose:Arbeitsfähig setzt sich für den inklu­siven Berufs­ein­stieg von Studie­renden mit psychi­scher Erkran­kung ein. Sie wurde aus einem Defizit von Bera­tungs­stellen oder Inte­gra­ti­ons­maß­nahmen für akade­mi­sche Berufseinsteiger*innen gegründet. Die Initia­tive tritt an Arbeit­ge­bende heran und etabliert aktuell ein Peer-Support-Netz­werk. Mehr Infor­ma­tionen findest du hier.

Das Bera­tungs­an­gebot

Eine ausführ­liche Auflis­tung des Bera­tungs­an­ge­bots an der Uni Hildes­heim ist in diesem Rahmen nicht möglich. Hier und hier findest du aber eine Übersicht.

Der Nach­teils­aus­gleich

Der Nach­teils­aus­gleich ist ein Antrag, den Studie­rende mit chro­ni­schen Erkran­kungen oder Behin­de­rungen beim Prüfungsamt stellen können. Damit sollen Prüfungen an die indi­vi­du­ellen Bedürf­nisse ange­passt werden, um eine Chan­cen­gleich­heit herzu­stellen. Ein ärzt­li­ches Gutachten oder ein ähnli­cher Nach­weis müssen bei der Antrags­stel­lung einge­reicht werden. Dr. Petra Sand­hagen steht für formale Fragen zur Verfügung.

Mehr Infos findest du hier.

Maßnahmen und Ange­bote an der Uni Hildesheim

Fast alle meine studen­ti­schen Interviewpartner*innen antworten auf die Fragen nach den Maßnahmen der Uni Hildes­heim zum Abbau ihrer Barrieren, dass ihnen entweder keine bekannt sind oder sie die Maßnahmen erst nach langer Suche finden konnten. Meine Recherche zeigt: Es gibt viele Bemü­hungen, die eine inklu­si­vere Hoch­schul­lehre ermög­li­chen sollen. Aller­dings sind die Ange­bote und Vorhaben nicht so leicht zu finden oder machen ihre Ziel­gruppe nicht eindeutig.
Zunächst sei das Bera­tungs­an­gebot erwähnt. Es gibt Anlauf­stellen zur Bera­tung, wie den Handi­campus, die Anker-Peers oder das Studie­ren­den­werk. Außerdem gibt es die Platt­form Zukunft Inklu­sion (ZINK) und die AG Barrie­re­frei­heit. Diese haben das Konzept­pa­pier „Inklu­sion für Menschen mit Behin­de­rung oder chro­ni­scher Krank­heit bewusst gestalten – Die Univer­sität Hildes­heim geht die nächsten Schritte“ erar­beitet, das seit 2022 umge­setzt wird. Es umfasst das Angebot für Univer­si­täts­mit­glieder, die Hoch­schul­di­daktik, die bauliche und tech­ni­sche Infra­struktur, Stra­te­gien und Control­ling.
Die Mitarbeiter*innen von ZINK beraten zudem unter anderem das hoch­schu­li­sche Fort- und Weiter­bil­dungs­an­gebot, um Infor­ma­ti­ons­mög­lich­keiten für Lehrende bereit­zu­stellen. Jedoch, so betont Dr. Marc Ruhlandt (Mitar­beiter am Institut für Erzie­hungs­wis­sen­schaften und Koor­di­nator von ZINK) im Gespräch, ist die Aufgabe von ZINK Impulse zu setzen. Ob und wer sich dann zu einem Angebot meldet, liegt nicht im Verant­wor­tungs- und Einfluss­be­reich der Platt­form.
Weiterhin ist der Nach­teils­aus­gleich auch eine Möglich­keit für betrof­fene Studie­rende, eine auf ihre Bedürf­nisse ange­passte Hilfe­leis­tung zu erhalten. Gina Duschek, Mitar­bei­terin bei ZINK und am Institut für Psycho­logie, berichtet im Gespräch aus ihrer Perspek­tive als Dozie­rende. Sie reflek­tiere ihre Lehre allge­mein sowie ihre Lehr­in­halte stetig und versuche Trigger mitzu­denken, um so mögliche Barrieren abzu­bauen.
Zum Umgang der Dozie­renden erzählt Smilla auch, dass viele Lehrende sich sensibel zeigen und die Möglich­keit signa­li­sieren, sie anzu­spre­chen. Liliane Triebel, Absol­ventin Sozial- und Orga­ni­sa­ti­ons­päd­agogik und nun Mitar­bei­terin im Gleich­stel­lungs­büro der Uni Hildes­heim, spricht in ihrem Inter­view außerdem eine Reihe von Maßnahmen an, die ihr das Studium erleich­tert haben: der Raum der Stille am Haupt­campus, Block­se­mi­nare, die Möglich­keit ein Teil­zeit­prak­tikum zu absol­vieren. Zudem sagt Liliane, dass das Bewusst­sein für das Thema nicht-bauliche Barrieren in ihren Augen an der Uni Hildes­heim höher ist, als an anderen Unis. Es gäbe dadurch ein großes Angebot, aber Betrof­fene müssen auch in der Lage sein, sich selbst­ständig diese Hilfe zu suchen.

Platt­form Zukunft Inklu­sion (ZINK)

Die Platt­form Zukunft Inklu­sion ist 2013 ins Leben gerufen worden, um die Uni inklu­si­ons­sen­sibel zu gestalten. ZINK fokus­siert sich hierbei auf die Zugäng­lich­ma­chung für Menschen mit Behin­de­rung und chro­ni­schen Erkran­kungen, um die Struk­turen nach­haltig zu verän­dern. Die Aufgabe von ZINK ist es, Impulse zu setzen. Hierfür orga­ni­sieren die Vertreter*innen Veran­stal­tungen, wie die Ring­vor­le­sung Inklu­sion und sind mit verschie­denen Akteur*innen der Hoch­schul­po­litik in Kontakt. Aus ZINK ist übri­gens u.a. die AG Barrie­re­frei­heit hervor­ge­gangen. Wenn du mehr über ZINK wissen willst, klicke hier.

Vorschläge der Studierenden

Ein offe­nerer Umgang. Stär­kere Thema­ti­sie­rung in der Hoch­schul­po­litik. Klarere Kommu­ni­ka­tion. Mehr Struktur. Ein inten­si­verer Austausch. Die Ideen, Wünsche und Vorschläge aller Inter­viewten sind zahl­reich. Einige sind allge­mein, einige sind sehr konkret. Gina Duschek fordert die konti­nu­ier­liche und gesamt­ge­sell­schaft­liche Veran­ke­rung für inklu­sive Denk- und Hand­lungs­weisen. Ýr fordert die eigent­liche Aner­ken­nung von unsicht­baren Beein­träch­ti­gungen als behin­dernd und damit als Inklu­si­ons­thema. Smilla schlägt vor, Dozie­rende mehr oder über­haupt zu schulen. Marc Ruhlandt konnte zu diesem Thema bereits auf das hoch­schu­li­sche Fort- und Weiter­bil­dungs­an­gebot und eine Broschüre des Studie­ren­den­werks verweisen. Es wäre jedoch wünschens­wert, wenn in Letz­terer auch darüber infor­miert würde, was Dozie­rende ihren betrof­fenen Studie­renden anbieten könnten, um ihnen die Teil­nahme an der Veran­stal­tung zu erleich­tern oder zu ermög­li­chen.
Was wäre, wenn die Schu­lung in dieser Thematik obli­ga­to­risch vor Lehr­an­tritt wäre? Liliane spricht an, dass sie sich eine Berufs­ein­stiegs­be­glei­tung gewünscht hätte – ein Angebot, dass Sarina und auch Liliane selbst mit der Initia­tive Diagnose:Arbeitsfähig gerade außer­uni­ver­sitär etabliert.
Eine inter­viewte Person schlägt vor, dass die Uni Umfragen, wie das Diver­sity Moni­to­ring, regel­mä­ßiger durch­führt. So wird ermit­telt, welche Ange­bote schon bekannt sind und über welche noch breiter infor­miert werden muss. Auch von anderen Unis könnte sich Inspi­ra­tion einge­holt werden. In Einfüh­rungs­wo­chen sowie zum Beginn von Semi­naren könnte zudem die Offen­heit für Ausgleiche oder auto­ma­tisch mehrere Optionen zum Bestehen kommu­ni­ziert werden. Damit würde den Studie­renden ein Stück ihrer Bring­schuld genommen.
Zudem werden sich konkre­tere und nied­rig­schwel­li­gere Anlauf­stellen gewünscht, bei denen Fragen und akute Probleme sofort geklärt werden können.
Abschlie­ßend ein Vorschlag, der in drei Inter­views gemacht wurde: Sarina und Ýr mussten bei Reiz­über­flu­tung, Panik­at­ta­cken oder Melt-Downs stets die Toilette als Rück­zugsort nutzen. Ein unan­ge­nehmer Ort, an dem Menschen ein und aus gehen, weinen nicht unge­hört bleibt und kaum Platz ist. Liliane erzählt mir vom Raum der Stille, den es seit 2017 am Haupt­campus gibt. Das ist ein Raum mit unter­schied­li­chen Sitz­ge­le­gen­heiten, der als Rück­zugsort unter anderem auch zum Beten genutzt werden kann. Warum gibt es solche Räume nicht an allen Stand­orten der Uni? Bei Raum­mangel, wie etwa am Kultur­campus, könnte der Ruhe­raum auch einer mit mehreren Funk­tionen sein. Haupt­sache Studie­rende müssen sich nicht mehr auf die Toilette zurückziehen.

Am Ende bleibt der Eindruck: Der Austausch fehlt. Die Uni hat Ange­bote, die Studie­renden haben Ideen. Stünden mehr Ressourcen für den Austausch zur Verfü­gung, würden beide Seiten profi­tieren. Ich denke jedoch, dieser Prozess ist bereits ange­laufen. Er wird vermut­lich langsam voran­schreiten und lange dauern, da Ressourcen erst nach und nach umver­teilt werden können. Ich blicke jedoch opti­mis­tisch in die Zukunft und auf die Entwick­lungen der nächsten Jahre.
Was ist dein Eindruck über die Barrie­re­frei­heit an der Uni Hildes­heim? Hast du weitere Vorschläge? Lass sie uns gerne in den Kommen­taren wissen.

Ein Beitrag von Nele Wagener, veröf­fent­licht am 21. März 2023