Über nicht-bauliche Barrieren und Hilfsangebote – Studierende berichten über ihre Erfahrungen an der Uni Hildesheim
Vielen Menschen denken bei dem Thema Barrierefreiheit an bauliche Maßnahmen. Für diesen Artikel habe ich mich stattdessen mit den nicht-baulichen Barrieren an der Uni Hildesheim beschäftigt und mich gefragt: Was beeinträchtigt Studierende mit psychischer Erkrankung oder kognitiver Behinderung in ihrem Studium? Und wie hilft die Uni Hildesheim? Hier erfährst du, was ich herausgefunden habe.
Foto: Nele Wagener
Für diesen Beitrag haben drei betroffene Studierende und zwei Absolventinnen die Barrieren in ihrem Unialltag mit mir geteilt. Außerdem haben mir Dr. Marc Ruhlandt und Gina Duschek über ihre Arbeit bei der Plattform Zukunft Inklusion (ZINK) und ihre eigene Lehre erzählt. Es erwarten dich eine Reihe von individuellen Barrieren sowie einige Maßnahmen, die die Uni bereits zum Abbau dieser einsetzt. Außerdem lernst du die Ideen und Vorschläge meiner Interviewpartner*innen kennen, die für eine inklusivere Hochschullehre sorgen sollen.
Weitere Informationen
Du möchtest dich auch über die baulichen Barrieren an der Uni Informieren? In der Beitragsreihe „Inklu-What?” von Lukas Friedland, Franziska Fronhöfer und Linda Ludwig erfährst du mehr dazu. Im Wintersemester 2018/19 haben sie sich nicht nur mit der baulichen Barrierefreiheit an der Domäne, sondern auch mit dem Begriff der Inklusion auseinandergesetzt. Vielleicht kannst du ja mittlerweile schon Veränderungen erkennen?
Unsichtbare Barrieren im Unialltag
Leistungs- und Notendruck. Anwesenheitspflicht, Erwartungen, Workload. Sarina Wassermann, Absolventin des Studiengangs Internationales Informationsmanagement und Initiatorin der Initiative Diagnose:Arbeitsfähig, konnte die durchschnittliche Prüfungsdichte am Ende jedes Semesters nicht stemmen, obwohl sie während des Semesters mehr Kurse hätte belegen können. So musste sie ihr Studium in Eigenregie verlängern, was ihr nur aufgrund ihrer finanziellen Lage möglich war. Zudem schafft eine deutliche Verlängerung des Studiums weitere Probleme, insbesondere im Hinblick auf den Berufseinstieg.
Sie spricht auch eine regelrechte „Noteninflation“ im Laufe ihres Studiums an. Eine 1 vor dem Komma wurde immer typischer. Damit fiel für sie die Möglichkeit des Vergleichs weg und es kam der Druck hinzu, für den Berufseinstieg zusätzlich soziales Engagement vorweisen zu müssen. Einige Interviewpartner*innen sprechen zudem von der Unmöglichkeit, zu den häufig oder immer geforderten 80% der Zeit an den Seminaren teilzunehmen. Die Konsequenz ist meistens wieder eine Verlängerung des Studiums.
Smilla studiert Philosophie-Künste-Medien und spricht über das Gefühl, beweisen zu müssen, genauso leistungsfähig zu sein, wie die Kommiliton*innen. Ýr, studiert Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, erzählt mir von Situationen, in denen es nicht den Raum gibt, nach benötigter Hilfe zu fragen. Stattdessen nimmt er eine bestimmte Atmosphäre wahr, die ihm suggeriert: Du musst bestimmte Dinge einfach können und alleine schaffen, wenn du studierst.
Stigmatisierung und Tabuisierung von Krankheit und Behinderung. Dass psychische Krankheiten und Behinderungen gesamtgesellschaftlich nicht ausreichend thematisiert werden und damit auch nicht ausreichend über den Umgang mit ihnen aufgeklärt wird, macht auch an der Uni keinen Halt. Meine Interviewpartner*innen sprechen von der eigenen Angst oder Scham über ihre Diagnose(n) zu sprechen. Dies hat zum Beispiel Sarina davon abgehalten, Hilfestellungen einzufordern. Smilla geht offen mit der Diagnose um und beschreibt den Umgang der Kommiliton*innen als „offen distanziert“. Für die anderen ist ein „Outing“ keine Option.
Kommunikationsdefizit. Besonders prominent ist hier die Feststellung, dass die Angebote, die es an der Uni schon gibt, nicht ausreichend kommuniziert werden. Dadurch sind diese Lehrenden nicht bekannt und werden von Studierenden erst später oder durch Zufall gefunden. Ýr berichtet beispielsweise über eine Verwirrung zur Nutzung des Stundenplansystems. Er konnte bisher nicht herausfinden, ob und wen er zu diesem Thema ansprechen kann. Sarina kritisiert die Wortwahl von Initiativen und Beratungsstellen. Sie hat sich in ihrer Studienzeit nicht angesprochen gefühlt hat, wenn sich Angebote an Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen richteten. Smilla spricht außerdem an, als betroffene Person häufig Aufklärung leisten zu müssen.
Der bürokratische Aufwand seitens der Uni und den Studierenden. Viele der angebotenen Nachteilsausgleiche für Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nicht profitabel. Sarina habe eine Anpassung dennoch nie angestoßen, da sie die bürokratischen Hürden, wie etwa den Mehraufwand für Dozierende, gesehen habe. Für Ýr ist es aufgrund seiner Behinderung schwierig einen Nachteilsausgleich zu stellen und er empfindet die Rechercheseiten auf der Unihomepage als unübersichtlich. Zudem kann er berichten, dass viele den Antrag nicht stellen, aufgrund der Unsicherheit darüber, ob er ihnen zusteht. Ýr streift hier einen bedeutenden Punkt: In der Lage zu sein, sich selbstständig Hilfe zu suchen, ist ein Privileg, das nicht alle Studierenden haben.
Diagnose:Arbeitsfähig
Die Initiative Diagnose:Arbeitsfähig setzt sich für den inklusiven Berufseinstieg von Studierenden mit psychischer Erkrankung ein. Sie wurde aus einem Defizit von Beratungsstellen oder Integrationsmaßnahmen für akademische Berufseinsteiger*innen gegründet. Die Initiative tritt an Arbeitgebende heran und etabliert aktuell ein Peer-Support-Netzwerk. Mehr Informationen findest du hier.
Der Nachteilsausgleich
Der Nachteilsausgleich ist ein Antrag, den Studierende mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen beim Prüfungsamt stellen können. Damit sollen Prüfungen an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden, um eine Chancengleichheit herzustellen. Ein ärztliches Gutachten oder ein ähnlicher Nachweis müssen bei der Antragsstellung eingereicht werden. Dr. Petra Sandhagen steht für formale Fragen zur Verfügung.
Mehr Infos findest du hier.
Maßnahmen und Angebote an der Uni Hildesheim
Fast alle meine studentischen Interviewpartner*innen antworten auf die Fragen nach den Maßnahmen der Uni Hildesheim zum Abbau ihrer Barrieren, dass ihnen entweder keine bekannt sind oder sie die Maßnahmen erst nach langer Suche finden konnten. Meine Recherche zeigt: Es gibt viele Bemühungen, die eine inklusivere Hochschullehre ermöglichen sollen. Allerdings sind die Angebote und Vorhaben nicht so leicht zu finden oder machen ihre Zielgruppe nicht eindeutig.
Zunächst sei das Beratungsangebot erwähnt. Es gibt Anlaufstellen zur Beratung, wie den Handicampus, die Anker-Peers oder das Studierendenwerk. Außerdem gibt es die Plattform Zukunft Inklusion (ZINK) und die AG Barrierefreiheit. Diese haben das Konzeptpapier „Inklusion für Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit bewusst gestalten – Die Universität Hildesheim geht die nächsten Schritte“ erarbeitet, das seit 2022 umgesetzt wird. Es umfasst das Angebot für Universitätsmitglieder, die Hochschuldidaktik, die bauliche und technische Infrastruktur, Strategien und Controlling.
Die Mitarbeiter*innen von ZINK beraten zudem unter anderem das hochschulische Fort- und Weiterbildungsangebot, um Informationsmöglichkeiten für Lehrende bereitzustellen. Jedoch, so betont Dr. Marc Ruhlandt (Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaften und Koordinator von ZINK) im Gespräch, ist die Aufgabe von ZINK Impulse zu setzen. Ob und wer sich dann zu einem Angebot meldet, liegt nicht im Verantwortungs- und Einflussbereich der Plattform.
Weiterhin ist der Nachteilsausgleich auch eine Möglichkeit für betroffene Studierende, eine auf ihre Bedürfnisse angepasste Hilfeleistung zu erhalten. Gina Duschek, Mitarbeiterin bei ZINK und am Institut für Psychologie, berichtet im Gespräch aus ihrer Perspektive als Dozierende. Sie reflektiere ihre Lehre allgemein sowie ihre Lehrinhalte stetig und versuche Trigger mitzudenken, um so mögliche Barrieren abzubauen.
Zum Umgang der Dozierenden erzählt Smilla auch, dass viele Lehrende sich sensibel zeigen und die Möglichkeit signalisieren, sie anzusprechen. Liliane Triebel, Absolventin Sozial- und Organisationspädagogik und nun Mitarbeiterin im Gleichstellungsbüro der Uni Hildesheim, spricht in ihrem Interview außerdem eine Reihe von Maßnahmen an, die ihr das Studium erleichtert haben: der Raum der Stille am Hauptcampus, Blockseminare, die Möglichkeit ein Teilzeitpraktikum zu absolvieren. Zudem sagt Liliane, dass das Bewusstsein für das Thema nicht-bauliche Barrieren in ihren Augen an der Uni Hildesheim höher ist, als an anderen Unis. Es gäbe dadurch ein großes Angebot, aber Betroffene müssen auch in der Lage sein, sich selbstständig diese Hilfe zu suchen.
Plattform Zukunft Inklusion (ZINK)
Die Plattform Zukunft Inklusion ist 2013 ins Leben gerufen worden, um die Uni inklusionssensibel zu gestalten. ZINK fokussiert sich hierbei auf die Zugänglichmachung für Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, um die Strukturen nachhaltig zu verändern. Die Aufgabe von ZINK ist es, Impulse zu setzen. Hierfür organisieren die Vertreter*innen Veranstaltungen, wie die Ringvorlesung Inklusion und sind mit verschiedenen Akteur*innen der Hochschulpolitik in Kontakt. Aus ZINK ist übrigens u.a. die AG Barrierefreiheit hervorgegangen. Wenn du mehr über ZINK wissen willst, klicke hier.
Vorschläge der Studierenden
Ein offenerer Umgang. Stärkere Thematisierung in der Hochschulpolitik. Klarere Kommunikation. Mehr Struktur. Ein intensiverer Austausch. Die Ideen, Wünsche und Vorschläge aller Interviewten sind zahlreich. Einige sind allgemein, einige sind sehr konkret. Gina Duschek fordert die kontinuierliche und gesamtgesellschaftliche Verankerung für inklusive Denk- und Handlungsweisen. Ýr fordert die eigentliche Anerkennung von unsichtbaren Beeinträchtigungen als behindernd und damit als Inklusionsthema. Smilla schlägt vor, Dozierende mehr oder überhaupt zu schulen. Marc Ruhlandt konnte zu diesem Thema bereits auf das hochschulische Fort- und Weiterbildungsangebot und eine Broschüre des Studierendenwerks verweisen. Es wäre jedoch wünschenswert, wenn in Letzterer auch darüber informiert würde, was Dozierende ihren betroffenen Studierenden anbieten könnten, um ihnen die Teilnahme an der Veranstaltung zu erleichtern oder zu ermöglichen.
Was wäre, wenn die Schulung in dieser Thematik obligatorisch vor Lehrantritt wäre? Liliane spricht an, dass sie sich eine Berufseinstiegsbegleitung gewünscht hätte – ein Angebot, dass Sarina und auch Liliane selbst mit der Initiative Diagnose:Arbeitsfähig gerade außeruniversitär etabliert.
Eine interviewte Person schlägt vor, dass die Uni Umfragen, wie das Diversity Monitoring, regelmäßiger durchführt. So wird ermittelt, welche Angebote schon bekannt sind und über welche noch breiter informiert werden muss. Auch von anderen Unis könnte sich Inspiration eingeholt werden. In Einführungswochen sowie zum Beginn von Seminaren könnte zudem die Offenheit für Ausgleiche oder automatisch mehrere Optionen zum Bestehen kommuniziert werden. Damit würde den Studierenden ein Stück ihrer Bringschuld genommen.
Zudem werden sich konkretere und niedrigschwelligere Anlaufstellen gewünscht, bei denen Fragen und akute Probleme sofort geklärt werden können.
Abschließend ein Vorschlag, der in drei Interviews gemacht wurde: Sarina und Ýr mussten bei Reizüberflutung, Panikattacken oder Melt-Downs stets die Toilette als Rückzugsort nutzen. Ein unangenehmer Ort, an dem Menschen ein und aus gehen, weinen nicht ungehört bleibt und kaum Platz ist. Liliane erzählt mir vom Raum der Stille, den es seit 2017 am Hauptcampus gibt. Das ist ein Raum mit unterschiedlichen Sitzgelegenheiten, der als Rückzugsort unter anderem auch zum Beten genutzt werden kann. Warum gibt es solche Räume nicht an allen Standorten der Uni? Bei Raummangel, wie etwa am Kulturcampus, könnte der Ruheraum auch einer mit mehreren Funktionen sein. Hauptsache Studierende müssen sich nicht mehr auf die Toilette zurückziehen.
Am Ende bleibt der Eindruck: Der Austausch fehlt. Die Uni hat Angebote, die Studierenden haben Ideen. Stünden mehr Ressourcen für den Austausch zur Verfügung, würden beide Seiten profitieren. Ich denke jedoch, dieser Prozess ist bereits angelaufen. Er wird vermutlich langsam voranschreiten und lange dauern, da Ressourcen erst nach und nach umverteilt werden können. Ich blicke jedoch optimistisch in die Zukunft und auf die Entwicklungen der nächsten Jahre.
Was ist dein Eindruck über die Barrierefreiheit an der Uni Hildesheim? Hast du weitere Vorschläge? Lass sie uns gerne in den Kommentaren wissen.
Ein Beitrag von Nele Wagener, veröffentlicht am 21. März 2023