FORSCHUNGSPLATTFORM JÜDISCH-CHRISTLICHER DIALOGPROZESSE IN EUROPA UND ISRAEL

Thematische Schwerpunktfelder

1. Vulnerabilitätsdiskurse

Offenheit und Verletzlichkeit als Eröffnung neuer Dialogräume in Europa und Israel

Die jüdisch-christlichen Dialogprozesse sind nicht denkbar, ohne der Verletzungen und Verwundungen – vor allem auf Seiten des Judentums – zu gedenken. Die im 20. Jahrhundert prägende Bemühung um eine Post-Schoa-Theologie, der Auschwitz als historischer Un-Ort bleibend eingeprägt bleibt, fokussierte bewusst die Sensibilität für das Leiden der Anderen. Ohne Blick und Gespür nicht nur für die eigene Leidensfähigkeit, sondern auch für das Leid der Anderen wäre eine Suche nach Versöhnung nicht vorstellbar gewesen. Die von Emmanuel Levinas philosophisch zu fassen versuchte radikale Priorität des Anderen geht insofern noch über die Konzeption von Compassion (Johann Baptist Metz) hinaus, als auch nur der leiseste Verdacht einer Selbstlegitimierung oder einem Verhaftetsein in der eigenen Identität als Verrat an einer Offenheit gegenüber der Anderheit des Anderen gewertet werden müsse. Die jüdische Inspiration dieses anthropologischen Gedankens, der angesichts der Verantwortung für den Anderen von subjekttheoretischer Bedeutung ist, besteht in der grundlegenden Differenz zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf.

Die Frage nach der Verletzlichkeit öffnet den wissenschaftlichen Diskurs zugleich für das Problemfeld religiöser Fundamentalismen, die sich gegenwärtig in allen Weltreligionen identifizieren lassen. Angesichts der Corona-Krise seit Beginn des Jahres 2020 verschärft sich diese ideologische Verblendung in religiösen und para-religiösen Verschwörungsmythen, deren exemplarische Erforschung in der israelischen und in der deutschen Gesellschaft mit Blick auf die Dialogprozesse in Judentum und Christentum von eminenter Bedeutung sind. Die Missionsproblematik in christlich-fundamentalistischen Kreisen wird dabei ebenso zu berücksichtigen sein wie als religiös getarnte politisch-fundamentalistische Ideologien.

Vulnerabilitätsdiskurse verlangen Sensibilität und Fingerspitzengefühl. Die Möglichkeit des Scheiterns ist ihnen inhärent. Gerade darum sind diese Diskurse als Inbegriff des Lebens zu verstehen. Denn auch menschliches Leben, das von den für die Vulnerabilitätsdiskurse konstitutiven Phänomenen der Zeitlichkeit und der Leiblichkeit geprägt ist, ist immer prekär.

2. Konvivenzmodelle

Möglichkeiten und Herausforderungen des Zusammenlebens in den Post-Migrationsgesellschaften Europa und Israel

Migration ist ein grundlegendes Thema nicht nur angesichts der gegenwärtigen Dynamiken gesellschaftlichen und religiösen Wandels. Bereits in der jüdisch-christlichen Geschichte spielen Migrationsnarrative von Beginn an eine zentrale Rolle. Das konkrete Verortetsein des Menschen in dieser als Gottes Schöpfung verstandenen Welt und die bleibende Sehnsucht nach einem Leben in der Nähe Gottes zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel Israels, die zugleich auch der erste Teil der insgesamt zweiteiligen christlichen Bibel ist. Für die Heiligen Schriften des Judentums und des Christentums sind die Erzählungen von der Vertreibung aus dem Paradies, der Aufbruch in das von Gott ausersehene Land, der Auszug aus Ägypten, die Erfahrungen von Vertreibung, Flucht und Exil sowie die Erzählungen von gelebter Gastfreundschaft als Ausdruck des Gottesglaubens von zentraler Bedeutung. Diese biblischen Erzählungen sowie deren Rezeptionsgeschichten erhalten eine ätiologische und für das Volk Gottes konstitutive Bedeutung.

Gleichzeitig verschweigt weder die Bibel noch die nach-biblische Geschichte die Schatten- und Negativseiten, die mit diesem ebenso grund-losen wie boden-ständigen Vertrauen in Gottes Zusage und Treue verbunden sind. Für die modernen Gesellschaften erhalten diese Überlegungen des friedlichen Zusammenlebens einen Ausdruck sowohl in dem Rechtsinstitut des Asyls und der Asylstädte als auch in der Idee einer Gastlichkeit, die Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ im Kontext des dritten Definitivartikels zum ewigen Frieden als „Hospitalität“ charakterisiert hat und die in jüngster Zeit neue philosophische Aufmerksamkeit erfahren hat. Diese Erfahrungen im Rahmen des jüdisch-christlichen Dialogs in Europa und in Israel zu bedenken, bietet sich auch angesichts der jüngsten Staats- und Verfassungsgeschichte mit der Gründung des Staates Israel und der Bundesrepublik Deutschland an. Im Kontext der historisch nachfolgenden neuen Verhältnisbestimmung des jüdisch-christlichen Dialogs gilt es zu untersuchen, was Peter Gordon als „Migrants in the Profane“ charakterisiert. Diese Formulierung, die für die jüdisch-christlichen Dialogprozesse auch mit ihrer je säkularen Umgebung relevant ist, greift einen Gedanken auf, den Theodor W. Adorno in seinem Beitrag „Vernunft und Offenbarung“ folgendermaßen gefasst hat:

„Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern" (Adorno)

Für die jüdisch-christlichen Dialogprozesse in Europa und Israel ergeben sich Spannungsfelder nicht nur mit Blick auf das Zusammenleben zwischen Jüd*innen und Christ*innen, sondern auch zwischen Religiösen und Säkularen, Glaubenden und Nicht-Glaubenden, wobei die Grenzlinien keineswegs klar zu bestimmen sind.

3. In-finitionsprozesse

Fraglichkeit und Legitimität des Anspruchs von und durch Gottes Wort in menschlichen Textwelten

„Die Tora spricht die Sprache der Menschen“ – mit diesem Wort des Rabbi Jischmael wird in der jüdischen Tradition formuliert, was in der christlichen Theologie mit dem Axiom „Gottes Wort in Menschenwort“ bezeichnet wird. Beiden Traditionen gemeinsam ist die Rede von der Offenbarung Gottes in und durch Sprache, im Judentum vermittelt durch die Tora, im Christentum vermittelt durch das Wort Gottes, das in Christus Jesus ein Mensch unter Menschen geworden ist – mit Ausnahme der Sünde, die Gottesferne bedeutet.

Mit der Glaubensüberzeugung, dass die Offenbarung als Anspruch des Menschen durch Gott zu verstehen ist, ist gleichzeitig der normative Anspruch verbunden, dass Verbindliches in menschlich kontingenter Sprache ausgesagt und ausgelegt werden kann. Gemeinsam ist beiden Traditionen auch, dass der Übersetzungsvorgang grundsätzlich nie abgeschlossen ist. Oder anders gesagt: die endliche, weil begrenzte menschliche Sprache, die in Texten ihren schriftlichen Niederschlag findet, öffnet sich durch die Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte auf eine unendliche Zukunft hin.

In-finitionsprozesse bezeichnen eine gedankliche Figur des Unendlichen im Endlichen, Während es im Deutschen scheint, als liefe die Denkoperation von der Endlichkeit zur Unendlichkeit oder umgekehrt im Sinn einer Negation, stellt sich das Problem bei näherem Zusehen in den romanischen und in der englischen Sprachen komplexer dar. ‚Unendlichkeit‘ heißt im Lateinischen ‚infinitas‘, ‚der/das Unendliche‘ im Französischen ‚l’infini‘, im Englischen ‚the Infinite‘. Emmanuel Levinas hat in seinem Beitrag Gott und die Philosophie auf die Ambiguität dieses Ausdrucks aufmerksam gemacht, die sich auf anderer Ebene auch in der Ununterscheidbarkeit der Genera abbildet. Die Ambiguität besteht darin, dass das Präfix ‚in-‘ sowohl als Negationspartikel im Sinn des griechischen alpha privativum als auch im Sinn einer Präposition der Bewegung (in … hinein) verstanden werden kann. Emmanuel Levinas gibt zu bedenken, dass dann „der Psychismus der Subjektivität der Negation des Endlichen durch das Unendliche entspräche, als ob – ohne mit Worten spielen zu wollen – das Un [le in] des Unendlichen [Infini] zugleich das Nicht [le non] und das In [le dans] bedeutete.“ (Levinas)

Die Arbeitshypothese besteht darin, dass die genannte Idee des Unendlichen im Endlichen, die für auf René Descartes gründende moderne Subjektivitästheorien zentral ist, sich jüdischer Inspiration verdankt und für die christliche Theologie von eminenter Bedeutung ist. Zu untersuchen ist, inwiefern auch die für die Moderne grundlegenden Menschenrechte auf diese eingeborene und unveräußerliche Idee gründen. Gleichzeitig ist die Annahme eines Unendlichen im Endlichen – anders gesagt: einer Unbedingtheit im Bedingten – hoch kontrovers diskutiert. Nicht nur die Naturrechtslehre, die in der katholischen Theologie lange Zeit eine theoretische Begründungsfunktion übernommen hat, ist heute fraglicher denn je. Überhaupt erscheint die Annahme einer letztverbindlichen Rede höchst unplausibel. Umso wichtiger ist dann aber der Diskurs über Prozesse der Inifnition, des Infiniten im Finiten, um einem hermetischen Determinismus zu wehren.